Wiedergelesen von Klaus M. Fiedler

H. Günter Wallraff: Wir brauchen Dich

Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1967, 172 S.

Oben oder unten. Stark oder schwach. Treten oder getreten werden. Hammer oder Amboß. Das simple Gesetz des Lebens, wie es H. Günter Wallraff beschreibt. Dabei ist er kein neutraler Beobachter, kein Dichter, der aus dem Elfenbeinturm seine Umgebung betrachtet und alles dann in wohlgesetzten Worten niederschreibt. Wallraff geht vor Ort. Er will das, was er mitteilen möchte, selbst erleben, selbst erleiden. Er will den Schmerz spüren und die Hitze, die Kälte und die Angst derer, die ganz unten sind in der Hierarchie der Gesellschaft.

Mit H. Günter Wallraffs Reportagen - wie auch in dieser vorliegenden Sammlung Wir brauchen Dich - kam in den sechziger Jahren eine neue Stimme in die konjunkturselige BRD-Landschaft. Nicht Hochrufe und Hosianna-Schreie auf das Wirtschaftswunder, auf steigenden Lebensstandard und immer härter werdende Mark, sondern der Blick hinter die Fassade, hinter die buntschillernden Plakatwände. Fünf Reportagen sind in Wir brauchen Dich vereint: Am Fließband, Auf der Werft, Im Akkord, Im Stahlrohrwerk und „Sinter zwo“ - im Stahlwerk. Sie sind typisch für Wallraffs Erzählweise. Beobachtung reiht sich an Beobachtung, Fakt an Fakt, Dialog an Dialog. Wallraff wertet nicht und bewertet nicht. Er berichtet, was er sieht, erlebt, hört. Und gerade diese unkommentierte Sicht auf die Arbeitswelt, auf Lärm, Dreck, Streß, bedingungslosen Gehorsam erhöht den Grad der Authentizität seiner Reportagen. Denn er zeigt dem Leser den Menschen in der modernen industriellen Welt als ein funktionierendes Wesen, als Teil eines Systems, bei dem es um Profit geht, um Macht, um Ansehen, um Gewalt und Unterwerfung. Es geht ihm - ohne daß er es ausspricht - um die Marxsche Theorie von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Wallraffs Texte sind verständlicherweise nicht von jedem mit Wohlgefallen aufgenommen worden. So manchen Prozeß hatte er zu bestehen, so manche Verleumdungsklage. Denn um die Wahrheit, seine Wahrheit herauszufinden, mußte sich der junge Schriftsteller oft in die Anonymität begeben, er nahm eine andere Identität an, verkleidete sich, tauchte etwa als Deutscher unter und irgendwo als Türke wieder auf. Und hatte dann Material gesammelt, dessen Veröffentlichung so mancher gern verhindert hätte.

Der Hamburger Publizist Christian Geisler hat für den vorliegenden Reportageband Wir brauchen Dich ein Nachwort geschrieben, in dem es unter anderem heißt: „Die Industrieberichte von H. G. Wallraff werden trotz und wegen ihrer merkwürdigen Naivität demnächst zu den wichtigen Veröffentlichungen gezählt werden, die wir zum Thema Bundesrepublik haben. Sie sind ungewöhnlich im Sinne des Wortes: Sie reden zur Sache. Wer sie liest, versteht jedes Wort, lernt also, begreift Wirklichkeit, fängt an, Zusammenhänge zu durchschauen.“ Wir wissen heute: Diesen Wallraff mit seinem kritischen, seinem „ungewöhnlichen“ Blick, konnte niemand mundtot machen. Seine Arbeiten sind literarisch verarbeiteter Teil der deutschen Geschichte. Und irgendwie, beim genauen Hin-Schauen (-Lesen) entdecken wir DDR-Deutschen, daß vieles, was dieser kompromißlose Wallraff in der westdeutschen Gesellschaft anprangerte, sich durchaus auch für uns anwenden ließ, dieses Oben und Unten, dieses Anordnen und Gehorchen, dieses System von Macht und Ohnmacht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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