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Sudelfaß Stasiakte -
ein absurdes Tagebuch

Im Gespräch mit Dr. Helmut Routschek

Helmut Routschek (Pseudonym: Alexander Kröger), Jahrgang 1934, hat an der Bergakademie Freiberg studiert, 1962 Promotion zum Dr.-Ing. Als Markscheider, Abteilungsleiter für Automatisierungsvorbereitung und Beauftragter für Untergrundgasspeicherung war er siebzehn Jahre in der Energiewirtschaft tätig (Kombinat Schwarze Pumpe). Er war Mitglied des Hauptausschusses der NDPD und von 1981-1990 Mitglied des Rates des Bezirkes Cottbus. Heute arbeitet er als Gruppenleiter in der Bauabteilung der Oberfinanzdirektion Cottbus. Seit 1969 veröffentlichte er insgesamt fünfzehn SF-Bücher - darunter die beliebten Romane „Sieben fielen vom Himmel“, „Die Kristallwelt der Robina Crux“, „Die Marsfrau“ sowie „Der Untergang der Telesalt“ - und gehört zu den bekanntesten deutschen SF-Autoren. Nach der Wende hat er die SF-Bücher „Vermißt am Rio Tefé“, „Mimikry“ und „Die Mücke Julia“ geschrieben, die im Eigenverlag, in dem von seiner Frau geleiteten Kröger-Vertrieb Cottbus, erschienen sind.

Sie haben unter Ihrem Schriftstellernamen Alexander Kröger 15 erfolgreiche Science-fiction-Bücher geschrieben. Was hat Sie veranlaßt, 1996 mit dem Titel „Das Sudelfaß“ Ihre eigene Stasiakte zu veröffentlichen, obwohl doch schon sehr viel über das Ministerium für Staatssicherheit und seine Tätigkeit erschienen ist?

Es ist sehr viel erschienen, aber meines Wissens noch nie in diesem Umfang. Ich wollte den Lesern, die sehr viel über Stasiakten gehört, aber in den meisten Fällen noch keine gesehen haben, eine komplette Stasiakte vermitteln, um aufzuzeigen, wie sich um einen gewöhnlichen DDR-Bürger - für einen solchen halte ich mich - ein derartiges Netz aufgebaut hat. Um die Glaubwürdigkeit zu dokumentieren, ist die Akte im Faksimile wiedergegeben. Und es sind durchaus auch Dinge enthalten, die für mich nicht so sehr angenehm sind, aber auch das gehört zu einer glaubwürdigen Veröffentlichung. So etwas hat wohl noch keiner gemacht. Die meisten Autoren haben immer nur das aus ihrer Akte herausgenommen und veröffentlicht, was ihnen genehm war und was in ihr Konzept paßte. Ich habe auch keine Wertung vorgenommen, sondern ich überlasse dem Leser die Beurteilung und Wertung. Gleichzeitig, glaube ich, ist mein Buch ein kleiner Beitrag zur immer noch gegenwärtigen Diskussion deutscher Befindlichkeiten. Ich bin der Meinung, daß man einen Menschen, der in irgendeiner Weise mit der Stasi Kontakt hatte, ob er mitgewirkt hat oder ob er von der Stasi, so wie ich, observiert worden ist, immer nur beurteilen kann, wenn man den ganzen Vorgang vor sich liegen hat. Der Leser sieht aus meiner Akte, daß man, wenn man einzelne Berichte herausnimmt, mich als einen durchaus loyalen, arbeitsamen und guten Bürger darstellen kann, aber wenn man andere Berichte heraussucht, werde ich als ein recht suspektes Subjekt beurteilt. Verfolgt man heutzutage die Presse, wird ja gerade in der Journalistik viel Schindluder mit diesen Berichten getrieben.

Über ein Dutzend Jahren sind Sie und Ihre Familie von mehr als 10 Informellen Mitarbeitern fast rund um die Uhr bespitzelt worden. Es wurden überwiegend ganz alltägliche Dinge ausspioniert. Ein riesiger, sich verselbständigender Apparat sammelte scheinbar überwiegend für ihn sinnlose Informationen. Worin bestand dennoch das Gefährliche dieser Methode?

Daß ich eine Akte hatte, habe ich mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen. Erstens war ich durch meine übrige Schriftstellerei ja ohnehin immer ein bißchen suspekt. Zweitens kam meine Frau aus der Bundesrepublik, was seinerzeit ein ziemlich unerhörter Vorgang war, und drittens war ich in meiner beruflichen Tätigkeit immer in der Nähe von Forschungstätigkeit und hatte gerade im Gaskombinat Schwarze Pumpe auch Einblick in strategische Entwicklungen. Deshalb ahnte ich, daß mir da und dort jemand auf die Finger sieht. Die Überraschung war für mich, als ich die Akte las, daß ich als möglicher westlicher Agent observiert worden bin. Natürlich kannte ich sogenannte Betriebsgeheimnisse, und natürlich habe ich sicherlich da und dort manche Informationen unbeabsichtigt und zufälligerweise an irgendwelche Leute gegeben, was letztlich als Ausplauschen von Betriebsgeheimnissen hätte gewertet werden können. Wenn man die Gesamtheit dieser Akte überblickt, bestand für mich die Gefahr, eines Tages möglicherweise im Zuchthaus Bautzen zu landen. Das war für mich das Erschreckende bei dieser Lektüre. Trotz aller Lächerlichkeit, aller simplen Dinge, die in dieser Akte enthalten sind, trotz aller Mißgunst, die auch aus dieser Akte herausschaut, war da für mich eine ganz akute Gefahr erkennbar.

Der Staatssicherheitsdienst hat quasi Ihre Biographie aus fremder Sicht aufgezeichnet, sicher auch manches, was lange vergessen war. Es wirkt wie ein absurdes, obskures Tagebuch. Gab es da beim ersten Lesen mitunter ein überraschtes Erinnern - oder überwogen die deprimierenden Gefühle eines Menschen, in dessen Privatleben herumgeschnüffelt wurde?

Also, es gab schon diesen Aha-Effekt und den Erinnerungseffekt. Es waren natürlich viele Details längst in Vergessenheit geraten, die aus diesen IM-Berichten wieder zutage traten. Ich würde jedem empfehlen, der bislang seine Akte noch nicht gelesen hat, aber die Absicht hat, es zu tun, sich vorher zu überlegen, wie er die Akte lesen will. Wenn er meint, nicht ertragen zu können, daß er dort Bekannte wiederfindet, die als IMs gegen ihn eingesetzt waren, wenn er meint, diesen irgendwann an die Kehle gehen oder irgendwelche Vergeltung üben zu müssen, dann sollte er tunlichst seinem eigenen Seelenfriedens zuliebe das Lesen der Akte unterlassen. Ich bin schon abgeklärt an diese Akte herangegangen und hatte solche Gefühle nicht, obwohl ich natürlich viele Bekannte und auch nahe Bekannte in dieser Akte wiedergefunden habe.

Sie haben sich bei Ihrer Arbeit im Gaskombinat Schwarze Pumpe, als vielgelesener Autor, als Mitglied des Hauptausschusses der NDPD und als Mitglied des Rates des Bezirkes Cottbus in der DDR viel Vertrauen erworben, dennoch dieses Mißtrauen?

Ja, das ist für mich auch ziemlich unerklärlich. Ich habe ja einer sogenannten Blockpartei angehört und bin als Mandatsträger dieser Partei seinerzeit in den Rat des Bezirkes gekommen. Ich nehme an, daß man uns, also auch Ratsmitglieder der anderen Blockparteien, wie z. B. der CDU oder anderer, als ein demokratisches Aushängeschild benötigte. Wenn z. B. eine westliche Delegation damals den Bezirk Cottbus besuchte, was selten vorkam, aber dennoch unter anderem im Zusammenhang mit dem Spreewald oder der Energieindustrie passieren konnte, dann waren immer die Mitglieder der Blockparteien gefragt, diese ausländischen Delegationen zu betreuen, um das demokratische Element in unserer staatlichen Führung zu demonstrieren. Und obwohl ich ein „Operativer Vorgang“ war, wurde auch ich in dieser Richtung eingesetzt. Doch das Mißtrauen blieb. Die Bespitzelung wurde zwar nicht bis zum Ende der DDR mit der gleichen Intensität fortgeführt, die Akte hat, so wie sie im Buch vorliegt, einen gewissen Abschluß, aber es gibt eine Fortsetzung dazu während meiner Tätigkeit beim Rat des Bezirkes Cottbus, wobei aber doch die Aktivität der IMs weit zurückgenommen worden ist. Es sind dann mehr oder weniger halboffizielle Dokumente enthalten, wie Beurteilungen oder Einschätzungen, ob ich mich als Reisekader für den Westen eigne. Das wurde verneint. Die Akte ist dann dünner, aber sie wurde weitergeführt.

In einer Stasiakte sind die Namen der betreffenden Personen bekanntlich geschwärzt. Wie konnten Sie dennoch manches enträtseln? Es gab ja da die bemerkenswerte Sache mit dem Jauchefaß auf Ihrem Wochenendgrundstück, wirklich eine bemerkenswerte Geschichte!

Geschwärzt sind in der Akte nicht die Namen der Leute von der Stasi, geschwärzt sind die Namen dritter Personen, die in irgendeinem Zusammenhang mit genannt worden sind, die aber nicht zu den Leuten gehörten, die mich observierten, weshalb ich über diese Leute eigentlich keine Informationen bekommen darf. Die IMs stehen unter ihren Decknamen drin, während die Offiziere mit ihren Klarnamen genannt sind. Die Geschichte mit dem Sudelfaß - deshalb auch der Titel dieses Buches - ist doppelsinnig gemeint. Es ist wirklich so, daß ich den Haupt-IM, der in dieser Akte auch unter einem Decknamen vorkommt, erkannt habe, weil er mich, als ich an meiner Hütte tatsächlich ein Fäkalienfaß eingegraben habe, dort trotz des Wochenendes in einer dienstlichen Obliegenheit aufsuchte. Da nur wir beide zu diesem Zeitpunkt dort waren und er in seinem Bericht an die Stasi beschrieben hat, wie er mich dort beim Eingraben des Sudelfasses angetroffen hat, war mir sofort klar, daß nur er dieser Haupt-IM sein konnte. So ist der Titel Das Sudelfaß entstanden. Zum einen bezieht er sich auf diese konkrete Geschichte, und zum anderen bezeichnet er ein Sammelsurium von üblen Dingen, was ja eine solche Akte natürlich auch ist.

Erstaunlich, wie schnell sich oft Menschen hergaben, für das MfS Spitzeldienste zu leisten. Manche strebten in ihren umfangreichen Berichten sogar eine gewisse Literarisierung an. Wie verhalten Sie sich heutzutage gegenüber den Leuten, durch die Sie und Ihre Frau ganz offensichtlich überwacht wurden?

Ich muß dazu sagen, daß ich durch den Umzug von Hoyerswerda nach Cottbus zu diesem Personenkreis dann weniger Kontakt hatte. Aber ich habe, nachdem ich durch das Lesen meiner Akte einige erkannt hatte, einige Treffen mit diesen Leuten organisiert, nicht, um ihnen an die Kehle zu gehen, sondern weil ich wissen wollte, wie sie zu diesen Diensten für die Stasi gekommen sind. Das Ergebnis war sehr unterschiedlich. Ich habe Leute getroffen, die dazu auch heute noch stehen, die sagten, sie glaubten, einen guten Dienst zu leisten, wenn sie Staatsfeinde mit entlarven halfen. Einer sprach sogar davon, er habe in seinen Berichten an sich harmlose Vorgänge absichtlich ungünstig für mich dargestellt, weil er das Erfolgserlebnis anstrebte, endlich einmal einen Agenten überführen zu können. Soviel zu der Glaubwürdigkeit seiner Berichte. Eine Dame erzählte mir, daß man ihr gesagt hätte, es geschähe zu meinem Vorteil. Wenn man genügend über mich wisse, dann könne man mich auch besser fördern. Wieder andere sagten, sie seien angesprochen worden und hätten in Hinblick auf ihre eigene Karriere dann zugesagt und auch Berichte geliefert, aber Berichte, das kann man auch in der Akte nachlesen, denen man ansieht, daß sie sich dieser Aufgabe mit dem geringsten Aufwand entledigen wollten.

In Ihrem Buch wird da eine Familie genannt, die Sie besucht und ausgehorcht hat und die dabei selbst abgehört wurde, ob sie es auch richtig macht.

Ja, genau. Dazu gehörte diese Dame, die ich zuvor erwähnte.

Haben Sie den Schock bezüglich Ihrer umfangreichen Stasiakte überwunden, oder bleiben dauerhafte Verletzungen?

Wie ich schon sagte, habe ich vorher umfängliche Überlegungen angestellt, wie ich an diese Akte herangehen will. Ich war zwar erschrocken, als ich merkte, weshalb ich observiert wurde, aber ein Schock in dem Sinne war es nicht. Aus dieser Sicht habe ich eigentlich auch keine nachhaltigen Wunden davongetragen, zumal - und das möchte ich schon betonen - ich nicht feststellen konnte, daß mir aus dieser umfänglichen Observation ein nachweisbarer Schaden in meiner sogenannten Entwicklung entstanden ist. Es gibt einige Dinge, bei denen ich Hemmnisse in meiner persönlichen Entwicklung sehe, aber ich könnte das auf juristischem Wege oder auch anders nicht nachweisen und auch bestimmte Personen nicht belasten, daß sie einen Anteil an solchen Entwicklungsstörungen hatten. So muß ich sagen, es war gefährlich für mich, denn was ein ausgeplauschtes Betriebsgeheimnis gewesen wäre, hätte ich ja nicht beurteilen können, das hätten dann andere getan. Es gab auch Fälle in Schwarze Pumpe von Leuten, denen man scheinbar Kontakte zu westlichen Geheimdiensten nachgewiesen hatte, die tatsächlich mehrere Jahre in Bautzen verschwunden und erst nach der Wende rehabilitiert worden sind. Also, es war schon Gefahr vorhanden, aber der Ernstfall ist nicht eingetreten, und ich lege die Vorgänge jetzt ad acta als einen Teil meines Lebens. Ich nehme zur Kenntnis, daß ich in dieser Gefahr schwebte. Ich nehme aber auch zur Kenntnis, welche Nichtigkeiten oder Lächerlichkeiten in dieser Maschinerie seinerzeit eine Rolle gespielt haben und welcher Aufwand dafür getrieben wurde.

Für einen Schriftsteller ist - kann ich mir jedenfalls vorstellen - bei aller Betroffenheit die Stasiakte auch literarischer Stoff. Sie bietet sozusagen ein authentisches Mosaik des DDR-Alltags, wenn wir z. B. die Versorgungsprobleme nehmen: Reifenbeschaffung, Intershop, Spargeleinkauf, ja sogar Fragen um einen neuentwickelten Leim, einen simplen Kleber. Das entbehrt mitunter nicht der unfreiwilligen Komik, ist ein Gegenstück zur offiziellen Propaganda. Wird es - angeregt von solchen Sachverhalten - ein belletristisches Buch geben zu diesem Stasi-Sudelfaß-Sujet?

Geplant ist das nicht. Es ist ja bekannt, daß ich eigentlich ein Autor wissenschaftlicher Phantastik bin, um nicht Science-fiction zu sagen. Aber da ja nun mein Rentnerdasein bevorsteht, habe ich vor, mir zu überlegen, ob ich nicht so ein paar nennenswerte Wende-Erlebnisse aufschreibe. Dort könnten natürlich auch Einzelheiten einfließen, die im Zusammenhang mit meiner Stasiakte eine Rolle gespielt haben.

Gerade in der Science-fiction existieren Modelle totaler Überwachung, wenn wir zum Beispiel an George Orwells „1984“ denken. Ich kann mich nicht erinnern, daß in Ihren SF-Romanen Geheimdienste eine Rolle spielen, man sagt sich zumeist recht offen die Meinung. Allerdings habe ich den Eindruck, daß in Ihren Nachwende-SF-Romanen recht rigoros gegen menschliches Fehlverhalten vorgegangen wird. Ist Ihr Glaube an die Menschheit erschüttert worden?

Nein, gewiß nicht, was mir nicht immer zum Vorteil gereicht. Auch im Alltag habe ich den Glauben an die Menschheit und an den Menschen nie verloren, nie aufgegeben. Wenn da und dort in meinen Büchern so ein Eindruck entsteht, daß ich rigoros gegen Fehlverhalten vorgehe, dann habe ich damit nicht meine Ansicht hineingetragen. Selbst wenn ich mir mein neues Roman-Manuskript vorstelle und ich dort von einer künftigen Welt ausgehe, wo die Menschheit beträchtlichen Schaden nimmt, glaube ich, ist dann doch dieser optimistische Krögersche Touch wieder herauszulesen.

In Ihren SF-Romanen breitet sich kein Zukunftspessimismus aus. Meist setzt sich die Vernunft durch. Wie ist Ihr Zukunftsbild nach dem Untergang des sozialistischen Weltsystems?

Auch wenn es heute nicht so aussieht und auch wenn es sehr oft, insbesondere in westlichen Veröffentlichungen, zum Kollaps kommt, auch wenn Umwelt-Apologeten Katastrophen voraussehen, die letztlich zum Weltuntergang führen, glaube ich nicht daran.
Ich bin davon überzeugt, daß sich die Natur, wenn man sie einigermaßen kompromißbereit und einigermaßen schonend behandelt - und ich meine, die Tendenz geht doch dahin -, sich noch immer selbst geholfen hat. Ich nehme Beispiele aus der Prähistorie: Es hat auf der Erde Riesenkatastrophen gegeben, die ohne Einwirkung der Menschheit stattgefunden haben, und die Erde und die Natur haben sich davon erholt, und sie werden sich auch, glaube ich, mit Einwirkung der Menschheit erholen. Ich setze auf die Vernunft und gewinne daraus meine optimistische Grundhaltung, wobei ich allerdings dieser Gesellschaft, die sich jetzt als die stabilere erwiesen hat, auch keine Zukunftschancen gebe. So wie im Augenblick die Wirtschaft betrieben wird, gerät die Menschheit tatsächlich in existentielle Gefahr. Weltweit müßte ein anderes Gebaren, ein vernünftiges Gebaren, Einzug halten, um wirklich diese Chance zu nutzen, die die Menschheit meiner Ansicht nach noch hat.

Wird es denn Ihrer Meinung nach, auch angesichts der Dritten Welt, erneut ein sozialistisches Experiment geben?

Vorläufig sehe ich das nicht. Ich glaube, die Staaten der Dritten Welt betrachten als Ideal ihrer Entwicklung die vier oder fünf entwickelten kapitalistischen Staaten, mehr sind es ja nicht, denn wir haben zwar einen Weltkapitalismus, aber in den anderen Staaten ist der Kapitalismus ja eigentlich nicht das Erstrebenswerte, bei der Verarmung dort. Ich glaube, die Dritte Welt sieht in diesen wenigen entwickelten kapitalistischen Staaten ihre Zukunft und wird sicherlich darauf zustreben. Es ist auch sehr schwierig. Ich sage immer, und das entspricht auch meinem Credo, ein Sozialismus ließe sich gestalten mit einer akorrupten Führungselite, die eine teilweise gelenkte sozialistische Demokratie entwickelt, aber da es eine akorrupte Elite - die auch keine Stasi braucht - nie geben wird, habe ich meine Zweifel, ob ein funktionierender Sozialismus sich jemals entwickeln kann.

Hätte die Wende nicht stattgefunden, wäre Ihnen das Ausmaß der Bespitzelung höchstwahrscheinlich nie bekannt geworden. Haben Sie manchmal bereut, Ihre Stasiakte überhaupt angefordert zu haben? Hat Sie die bittere Erfahrung totaler Überwachung sensibilisiert für Vorgänge in der Gegenwart und auch für Zukunftstrends?

Nein, ich habe es nicht bedauert, daß ich die Akte gelesen habe, und habe, wie gesagt, auch keinen seelischen Schaden genommen. Aber Erfahrungen nach der Wende, nicht nur meine nachweisbaren persönlichen Erfahrungen, auch solche, die andere machen mußten, haben mir die Blauäugigkeit genommen. Die DDR war nach jetziger Darstellung auf allen Gebieten technologisch, wirtschaftlich usw. in der Entwicklung 15 bis 20 Jahre zurück. Ausgerechnet beim Geheimdienst soll sie allen anderen Staaten so weit voraus gewesen sein? Ich glaube, nur die Methoden waren andere. Ich glaube, daß andere Geheimdienste in dieser Welt auch sehr aktiv sind und sehr aktiv bleiben werden. Diese Blauäugigkeit, mit der ich manche Darstellungen möglicherweise aufnehmen würde, die ist mir durch meine eigene Erfahrung mit dieser Stasiakte genommen worden. Und das ist vielleicht gar kein Nachteil.

Was gibt es an neuen literarischen Projekten, und wie gelingt es Ihnen, Ihre Bücher trotz SF-Flaute und anderer Verlagsschwierigkeiten in Deutschland an die Leser zu bringen?

Ich habe ein neues Vorhaben, das sicherlich noch die Chance hat, in diesem Jahr veröffentlicht zu werden, einen neuen SF-Roman, in dem ich mich an Zukunftsvisionen versuche. Was mir im Augenblick bei meinen Nachwendebüchern hilft, ist, daß der Kröger bei den Lesern, in Bibliotheken und Buchhandlungen, insbesondere in den neuen Bundesländern, noch bekannt ist. Das hilft trotz dieser Flaute in der SF, trotz des Wandels im Leseverhalten und im Kaufverhalten überhaupt. Und als ich nach der Wende wieder zu schreiben anfing, hatte ich die Absicht, den Lesern zu sagen: Der Kröger ist noch da. Ich bin so optimistisch zu glauben, daß mir das gelungen ist. Auch kann ich nicht begreifen, wenn jemand - erst kürzlich ist mir das wieder zu Ohren gekommen - sagt, hat denn der, er hat ja ein verhältnismäßig gutes Gehalt, das noch nötig, Bücher zu schreiben? Diesen Leuten möchte ich sagen: Es gibt auch Menschen, die schreiben, weil es ihnen Spaß macht zu schreiben und mit den Leuten, die das lesen, Kontakt zu haben. Und um diesen Kontakt zu festigen, ist der Kröger-Vertrieb Cottbus gegründet worden, den meine Frau betreut. So entgehen wir den Schwierigkeiten, die andere Verlage derzeit mit der Science-fiction haben, und können den Buchhandlungen und den Lesern meine Bücher zu günstigen Bedingungen anbieten, die neuen, aber auch noch einige der zu DDR-Zeiten erschienenen. Vielleicht sollten wir sogar an einzelne Nachauflagen denken.

Also wird der Kröger-Vertrieb weiter existieren?

Den Kröger-Vertrieb wird es weiter geben, wenn kein anderer Verlag gefunden wird. Wir bemühen uns um einen renommierten Verleger. Würden wir zu einem kleinen Verlag gehen, dann könnten wir genausogut den Kröger-Vertrieb auch selber weiter betreiben.

Das Gespräch führte Helmut Fickelscherer

Helmut Routschek:
Das Sudelfaß - eine gewöhnliche Stasiakte
Kiro Verlag, Schwedt 1996, 212 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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