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... damit wir nicht glauben,
die Zukunft sei bloß
die Verlängerung der Gegenwart

Im Gespräch mit Prof. Dr. Horst Dohle

Herr Prof. Dohle, Sie waren jahrzehntelang kirchenpolitisch tätig, größtenteils im Staatssekretariat für Kirchenfragen. Sie haben im Verlauf Ihrer vieljährigen Tätigkeit mehrere Staatssekretäre erlebt: Hans Seigewasser, Klaus Gysi, Kurt Löffler und Lothar de Maizière. Wie würden Sie in diesem Zusammenhang Ihre Funktion definieren?

In die Kirchenpolitik bin ich 1963 im Ergebnis meiner Dissertation über das Verhältnis von Evangelischer Kirche und Arier-Paragraph in der Nazizeit gekommen. Die Folge dieser Arbeit war, daß ich eine Reihe von für mich wichtigen jüdischen und christlichen Freunden im Prozeß dieses Promotionsverfahrens kennengelernt habe und 1963 vor der Frage stand, etwas Praktisches außerhalb der Hochschultätigkeit zu tun. Deshalb ging ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Rat des Bezirkes in Dresden, Referat für Kirchenfragen. Von dort holte mich Hans Seigewasser 1965 als Wissenschaftlichen Mitarbeiter in sein Amt nach Berlin. Von 1969 bis 1974 war ich nochmals in Dresden als Leiter des Referates für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes und ab 1. Januar 1974 wieder im Staatssekretariat für Kirchenfragen tätig, diesmal als Persönlicher Referent des Staatssekretärs Seigewasser. In dieser Funktion war ich fast bis zum Ende der DDR. In der Schlußphase gab es unter Staatssekretär Kurt Löffler einen neuen Leiter seines Büros, wie dann der Persönliche Referent hieß, und ich wurde wieder Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kurt Löffler. Meine Funktion habe ich eigentlich nicht zu definieren. Sie war definiert. Jeder, der in einer Regierungsinstitution arbeitet, findet einen vorgegebenen funktional definierten Spielraum vor, z. B. als Persönlicher Referent, mit all dem, was in einer ministeriellen Struktur mit so einer Funktion verbunden ist. Ich war Persönlicher Referent, und ich war in der Schlußphase wieder Wissenschaftlicher Mitarbeiter und damit mehr für konzeptionelle Fragen zuständig.

Die konzeptionellen Fragen bzw. Vorstellungen werden uns noch interessieren. Sie haben aber auch Zäsuren in der Kirchenpolitik der Ex-DDR miterlebt und mitgestaltet. Ich nenne nur einmal die Luther-Ehrung der DDR im Jahre 1983. Vielleicht können sie kurz auf die Vorgeschichte eingehen, die ja mehrere Jahre zurückreicht; beispielsweise auf das Spitzentreffen zwischen Erich Honecker und der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR im März 1978. Dieses haben Sie aus nächster Nähe miterlebt und auch, wie ich annehme, an ihm aktiv Anteil genommen!?

Wie groß mein mitgestaltender Anteil war, darüber möchte ich eigentlich weniger reden. Mich interessiert mehr Ihre Frage nach den Zäsuren. Als ich in die Kirchenpolitik gekommen bin, hatte ich eine Vorstellung von Religion und Kirche und ihrer Rolle in unserer Geschichte, die eigentlich die eines durchschnittlichen Marxisten mit den damals üblichen Thesen war. Ich habe also einer christlich-kirchlichen Existenz in einer sozialistischen Gesellschaft am Anfang meiner kirchenpolitischen Tätigkeit keine lange Zukunft gegeben. Ich habe in diesen Anfängen in den meisten Fällen Kirche als eine Institution erfahren, die mit Sozialismus und DDR nichts oder wenig im Sinn hat. Im Laufe dieser Kirchenpolitik habe ich ein Gespür dafür entwickelt, daß Christen und Kirchen die gegebene sozialistische Situation, auch wenn sie sie ursprünglich nicht gewollt oder nicht mit herbeigeführt haben, als den Ort empfunden haben, an den Gott sie gestellt hat, damit sie hier Christen sein sollen bzw. an diesem Ort ihr Christsein bezeugen. In dem Maße habe ich Kirchenpolitik mit innerer Anteilnahme und Leidenschaft betrieben, hat sich auch mein Verhältnis zu Kirche und Religion in dem Maße geändert, in dem ich auf Christen und Kirchen traf, die ihrerseits ihr Verhältnis zu der vorgegebenen Situation kritisch überdachten. Spätestens in einem solchen Prozeß bekommt man ein Gespür dafür, wo sich Zäsuren im Verhältnis von Staat und Kirche andeuten, die, wenn man sie entschlossen nutzt, ein Stück Dynamik und Bewegung in das Verhältnis von Staat und Kirche bringen. Eine solche Zäsur war die Gründung des DDR-Kirchenbundes 1969, für mich ein ganz wichtiger Vorgang im Zusammenhang mit den damals möglichen Gesprächen zwischen leitenden Geistlichen und uns, also auch mir. Eine nächste solche Zäsur war der 6. März 1978. Diese habe ich dann schon mit Leidenschaft und innerer Anteilnahme mit vorbereitet, weil mir schien, daß so, wie das Treffen dann am 6. März 1978 stattgefunden hat, es ein Impuls in die Gesamtgesellschaft hinein sein könnte zu mehr Souveränität im Umgang mit Andersdenkenden, im Umgang mit Menschen, die dieses Land anders sehen als SED-Mitglieder; also ein Stück geistige Befreiung und Beweglichkeit in einer zunehmend erstarrenden und ideologisch orthodoxer werdenden Gesellschaft. Als sich nach dem 6. März die Chance bot, die Luther-Ehrung vorzubereiten, habe ich mich mit großer Leidenschaft, die weit über meine dienstliche Verpflichtung hinausging, an dieser Vorbereitung beteiligt. Die ursprüngliche Intention bei der Luther-Ehrung war ja nur: Wir setzen eine Form von geschichtlicher Verankerung der DDR-Wirklichkeit fort, wie wir sie schon in den 70er Jahren mit der Dürer-Ehrung, Cranach-Ehrung und der Würdigung des Bauernkrieges usw. begonnen haben. Die ursprüngliche Intention zielte also nur auf die Vertiefung des Geschichtsbewußtseins. Nun war klar, wenn wir uns Martin Luther nähern, wird das nicht ohne oder gegen die Kirche gehen. Da habe ich mich sehr stark von der folgenden Intention leiten lassen und mich mehr engagiert, als es meine Funktion hergab: Wir müssen mit Hilfe von Martin Luther eine Form von Kirchenpolitik prägen, in der Kirche zur selbstverständlichen und öffentlich wahrnehmbaren Größe in dieser Gesellschaft wird. Sie nicht mehr als eine Verlegenheit dieser Gesellschaft verschwiegen, sondern als eine Normalität betrachtet wird. Warum soll man den Sozialismus nicht mit Christen praktizieren, die Jesus Christus lieben?
Die Intention, kirchenpolitisch größere Räume zu entdecken, eine neue Form des Umgangs miteinander zu entwickeln, das hat mich sehr beschäftigt. Ich bin stolz gewesen, wie hoffentlich auch viele Leute auf kirchlicher Seite, als 1983 erreicht war, daß sieben Kirchentage mit einer Viertelmillion Teilnehmern in der DDR stattgefunden haben, daß Kirche in den Medien der DDR präsent war, daß diese Verkrampfungen sich ein wenig lösten. Das war die Intention, eine Zäsur mitzugestalten, hinter die es kein Zurück gibt.

Nach der Luther-Ehrung formulierte Bischof Prof. Dr. Joachim Rogge dem Sinne nach einmal: Diese Ehrung hat zwischen Staat und Kirche Normen gesetzt, die zukünftig nicht mehr unterboten werden können. In der Tat war die Luther-Ehrung der DDR auf beiden Seiten auch ein Höhepunkt in kirchenpolitischer Hinsicht. Beide Seiten haben fast alle Spielräume ausgereizt. Jetzt kam nach 1983 eine weitere Zäsur. Es wird „umtapeziert“. Die SED-Hartliner bekommen wieder das Wort. Worin sehen Sie, Herr Professor Dohle, die Ursachen dafür, daß dieses Modell, das durch die Luther-Ehrung im Umgang zwischen Staat und Kirche geschaffen worden ist, und von dem beide Seiten begeistert waren, wie Dokumente belegen, in der Folgezeit nicht zum Tragen gekommen ist?

Was 1983 passiert ist, wird einem am ehesten deutlich - der Historiker neigt dazu - wenn man es mit einem früheren Ereignis vergleicht, nämlich mit den nationalen Jubiläen von 1967. Wenn man die kirchenpolitische Eng-Führung, unter der wir 1967 „450 Jahre Reformation“ in Wittenberg begangen haben - bis in die Details hinein eine Eng-Führung -, vergleicht mit der großräumigen souveränen Weite, mit der wir 1983 die Luther-Ehrung durchführten, wird einem deutlich, daß kirchenpolitische Prozesse in diesen Jahrzehnten erfolgt sind, die kein Stillstand, sondern Bewegung bedeuteten. Ich würde die von Ihnen zitierte Aussage von Bischof Joachim Rogge damals genau so unterschrieben haben. Ich war dabei, als Staatssekretär Klaus Gysi die Stellvertretenden Ratsvorsitzenden für Inneres aus allen 15 DDR-Bezirken und die Sektorenleiter für Kirchenfragen zusammengerufen hatte, und fast wörtlich die gleiche Formulierung der staatlichen Seite gegenüber gebraucht hat, wie sie Bischof Rogge verwendet hat. Was uns aber Ende 1983 schon auffiel, war, daß dem SED-Apparat, Dokumente belegen das, die Luther-Ehrung selber zu groß geraten war. Das hat der SED-Führungsapparat nicht erst 1983 gemerkt, sondern schon ein bis zwei Jahre zuvor. Bis dahin waren aber alle Entscheidungen schon so vorprogrammiert, daß man sie nicht mehr rückgängig machen konnte. Die Unwilligkeit des SED-Apparates, 1983 als einen kirchenpolitischen Neuaufbruch, gar als ein Modell, anzusehen, wird in den Akten deutlich. Wir Akteure haben das schon Ende 1983 gespürt.

Vor zwei Jahren haben Sie ein Buch „SED und Kirche“ im Neukirchener Verlag herausgebracht, in dem Sie kirchenpolitische Grundsatzbeschlüsse der SED auf ihrer höchsten Ebene, dem Zentralkomitee der SED und seinem Politbüro, und die Versuche der evangelischen Kirchen in der DDR, darauf sachgerechte Antworten zu geben, dokumentieren. Dieser von Ihnen kommentierten Dokumentation ist u. a. zu entnehmen, daß Erich Honecker auch auf kirchenpolitischem Gebiet „einsame Entscheidungen“ gefällt hat. Die Luther-Ehrung war außenpolitisch ebenfalls von Erfolg. Warum hat Erich Honecker diesen nicht „ausgekostet“?

Man muß die Luther-Ehrung im Kontext zur gesamten deutschlandpolitischen und außenpolitischen Situation sehen. 1983 hatte Erich Honecker die Absicht, in die Bundesrepublik zu reisen. Die Sowjetunion hielt nichts davon, also ist die Reise nicht zustande gekommen. Die Luther-Ehrung hat stattgefunden im Jahr der in beiden deutschen Staaten und in beiden Militärsystemen beginnenden Stationierung einer neuen Generation von Mittelstrecken-Raketen. Sie hat stattgefunden in einer Zeit, in der sich Erich Honecker auf außenpolitischem Gebiet als hochgradig dialogfähig erwiesen hat. Ich erinnere an den Dialog der Vernunft und an die von Honecker nachdrücklich gestellte Forderung: „Das Teufelszeug muß weg“. Man muß also den Kontext der Luther-Ehrung in der deutschland- und außenpolitischen Situation sehen, und in diesem Jahr und in dieser Situation hat Honecker auch seine Intention, die Luther-Ehrung so groß werden zu lassen, natürlich außenpolitisch ausgekostet. Daß sie nicht durchgehalten werden konnte, liegt an einem inneren Konflikt der SED-Politik insgesamt. In der SED-Politik galt 1983 ebenso wie vorher und besonders nachher das Axiom: Wer außenpolitisch dialogfähig sein will, wer nach Außen offen sein will, muß nach Innen geschlossen sein. Diese unsinnige These ist mit ein Grund für den Zusammenbruch der DDR-Politik. Honeckers Überzeugung: Je dialogfähiger ich außenpolitisch bin, um so geschlossener und einheitlicher muß ich nach Innen sein, hat auch der häufig von kirchlicher Seite angemahnten Forderung eine Absage erteilt, wonach eine außenpolitisch dialogfähige und offene Position der DDR eine Entsprechung in einer inneren Öffnung finden muß. An diesem Widerspruch ist diese Chance gescheitert. Die kirchenpolitische Chance der Luther-Ehrung hätte nur genutzt werden können, wenn die SED-Politik insgesamt bereit gewesen wäre, sich auf Reformen bis auf den Grund hin einzulassen. Da sie sich darauf nicht eingelassen hat, mußte der Reform-Ansatz auf diesem spezifisch kirchenpolitischen Gebiet verpuffen. Kirchenpolitik war auch an dieser Stelle Teil der Gesamtpolitik der SED in ihrer Größe und auch in ihren Grenzen.

Im Ergebnis der Reformunwilligkeit der SED kam es dann Anfang 1988 zu Demonstrationen und Festnahmen. Hier ist offenbar eine weitere Zäsur konstatierbar, aber nicht nur kirchenpolitisch, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Ich denke desweiteren an das „Sputnik“-Verbot, wo die Menschen in der DDR für unmündig erklärt worden sind, dieses sowjetische Periodikum zu lesen. Sie haben in Ihrem schon erwähnten Buch formuliert, daß ab 1988 die Staatssekretäre für Kirchenfragen zu „Zuchtmeistern der Kirchenpolitik“ bestellt worden sind. Das bedarf der Erläuterung, um die ich Sie bitten möchte.

Sie heben auf das Jahr 1988 ab, also das Jahr, in dem die Krise offensichtlich wurde. Auch dieses Jahr hat eine Vorgeschichte. Ich habe als Kirchenpolitiker 1987 noch einmal Hoffnung gehabt, und ich weiß von Klaus Gysi, daß es ihm genauso ging, weil es 1987 eine Reihe von Ereignissen gab, die uns, so meinten wir, die Chance gaben, einen neuen kirchenpolitischen Aufbruch zu schaffen und zu wagen. Ich nenne hier nur stichwortartig die Möglichkeit des Berliner Kirchentages zur 750-Jahr-Feier, die Möglichkeit eines ersten großen Katholikentreffens in Dresden, den Bonn-Besuch Honeckers, den Olof-Palme-Friedensmarsch, der in einer bis dahin nicht dagewesenen Weise pluralistisch ablief. Uns schien das Ergebnis des Jahres 1987 noch einmal die Chance zu einer Entkrampfung, zu einem Neuaufbruch in ungewisses Terrain, zu geben. Die dumpfe Ahnung, daß das vielleicht nicht so sein könnte, ist uns Ende 1987 gekommen, als Klaus Gysi aus Genf zurück war, und wir mit ihm über die Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die Berliner Zionskirche redeten. Da hat Klaus Gysi in kleinem Kreis zum ersten Mal den Gedanken geäußert: Es könnte sein, daß die DDR dies nicht überlebt. Ein Gedanke, der uns damals kalt den Rücken hinunterlief. Das von ihnen angesprochene Jahr 1988 ist in all seinen Ausdrucksformen der Rückgriff der SED-Kirchenpolitik auf die rüden, administrativen und gewaltsamen Methoden der 50er Jahre. Es ist der Versuch, eine Opposition in der DDR-Gesellschaft in die Kirchen abzudrängen, dort zu kanalisieren und zu disziplinieren, d. h. den oppositionellen Aufbruch in der DDR-Gesellschaft zu einem kirchenpolitischen Problem zu erklären. Es ging ja nicht um das Verhältnis von Staat und Kirche. Es ging darum, daß es in der DDR eine Aufbruchstimmung gab, die die Führung nicht wahrhaben wollte. Also drückte man diese Oppositionsgruppen in die Kirchen und verlangte dann von den Kirchenpolitikern, daß sie das Problem kirchenpolitisch lösen. Es war aber gar kein kirchenpolitisches Problem, und damit war es nicht lösbar. Dann ist natürlich 1988 die Krise in der bekannten Weise eskaliert. Meine Formulierung über die Staatssekretäre als Zuchtmeister der Kirchenpolitik ergibt sich aus der Kenntnis mir damals nicht bekannter SED-Politbüro-Beschlüsse. Da gibt es von Anfang 1988 einen, den ich auch in meinem Buch „SED und Kirche“ publiziert habe, in dem der Staatssekretär für Kirchenfragen nur noch die Aufgabe hat, den Kirchen etwas zu untersagen. Er hat mit ihnen überhaupt nicht mehr zu reden und zu arbeiten, er hat sie nur noch zu zitieren und ihnen etwas zu verbieten, ihnen zu drohen usw. Insofern scheint mir der Begriff des Zuchtmeisters gerechtfertigt. Es ist ein völlig neuer Stil in der SED-Führung, in ihren Beschlußtexten, der keine Spielräume für Verhandlungen und Gespräche mehr ließ.

Sie erzählten eingangs aus Ihrer persönlichen Biographie, daß Sie in Ihrer Anfangsphase, als Sie kirchenpolitisch aktiv wurden, den Eindruck hatten, daß Kirche keine lange Zukunft mehr haben würde. War die Verweigerung des Dialogs 1988 Angst vor den oppositionellen oder einfach nur kritischen Geistern? Die waren nicht alle in der Opposition. Sie standen nicht alle konträr zum Staat. Ich nenne als Stichwort: Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Es waren auch nicht alle Konterrevolutionäre im marxistischen Sinne, sondern Leute, die kritisch angefragt haben. War das ausschließlich eine Machtfrage, oder hat sich die marxistische Erkenntnis wieder breit gemacht, Kirche hat sowieso keine Zukunft, also wenden wir uns anderen Themen zu? Im Jahre 1988 sind ja auch noch andere Dinge passiert; ich erinnere an das Centrum Judaicum, dessen Grundsteinlegung in Anwesenheit des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses und in Anwesenheit von Erich Honecker erfolgte. Auf der einen Seite scharfer Kurs nach Innen, Verweigerung des Dialogs und staatliches Diktat und auf der anderen Seite beispielsweise die Grundsteinlegung des Centrum Judaicum.

Wenn Sie mir nur die Wahl zwischen den beiden Alternativen lassen, dann ist es nicht die Rückkehr zu der Erkenntnis: Religion und Kirche haben keine lange Zukunft. In der Masse der SED und im Funktionärsapparat war diese Erkenntnis nach wie vor da, entgegen eigener historischer Erfahrungen, in 40 Jahren DDR haben sie ja nicht das Erlebnis gehabt, daß Kirche abstirbt. Im Gegenteil. Sie ist zwar zahlenmäßig immer kleiner geworden, aber ihr gesellschaftliches Gewicht ist in gleichem Maße immer größer geworden. Mit diesem Paradoxon ist die Masse des Funktionärsapparates sowieso nicht fertig geworden. Es war nicht so sehr die Rückkehr zu einem primitiven kirchenpolitischen Konzept, es war schon eher eine Machtfrage oder genauer gesagt, es war Verrat an der eigenen sozialistischen Überzeugung. Denn der Widerstand richtete sich ja nicht nur gegen Opposition aus der DDR-Gesellschaft, die unter kirchlichem Dach agierte. Der Widerstand der Führung und des Apparates richtete sich ja auch gegen die SED selbst. Bitte beachten Sie, daß zwischen 1986 und 1989 - ich beziehe mich auf entsprechende Veröffentlichungen - Zehntausende SED-Mitglieder aus der Partei ausgetreten oder ausgeschlossen worden sind. Es ging tatsächlich im ganz vordergründigen Sinne um die Macht, und es ging vor allen Dingen darum, alles kritische Potential zum Schweigen zu bringen. Ich halte das insofern für einen eklatanten Verrat an marxistischer und sozialistischer Überzeugung, als Marx' oberster Grundsatz der Zweifel war, auch der Zweifel an dem, was man selbst tut. Die Unfähigkeit des kritischen Umgangs mit der eigenen Arbeit und mit dem erreichten Entwicklungsstand der Gesellschaft, das ist meine Überzeugung, war ursächlich, daß der Sozialismus implodiert ist. Er ist an sich selbst kaputt gegangen wegen dieser Unfähigkeit der Macht-Elite, der eigenen Sache treu zu bleiben. Denn das hätte nachgerade die Ermutigung von kritischem Potential bedeuten müssen und nicht ihren Verweis in die Zuständigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit.

Die Kirchen haben sich nicht daran gehalten, daß sie Kirchen im engeren Sinne sein sollen, sondern die Kirchen haben auch immer wieder ins Spiel gebracht: Die Berg-Predigt Jesu ist hochpolitisch. Also wurden von den Kirchen auch politische Tätigkeiten, obwohl untersagt, wahrgenommen. Oppositionelle Kräfte haben sich im 89er Jahr stärker formuliert. Damit nähern wir uns der Wende, ohne daß wir hier alle Geschehnisse berücksichtigen können. Herr Professor Dohle, wie haben Sie persönlich die Wende erlebt? Haben Sie selbst einmal an einem Gottesdienst teilgenommen, z. B. in der Berliner Gethsemane-Kirche?

In dem Maße, wie ich begriffen habe, daß die Sache mit Jesus Christus eine gesellschaftliche und politische Dimension hat, hat sich natürlich auch mein Verhältnis zum christlichen Glauben und zur Kirche geändert, ohne daß ich ein Christ geworden bin. Schon in diesen Jahren, von denen wir hier reden, war mir ein Christ herzlich gleichgültig, für den sein Christ-Sein nur eine Frage der persönlichen Frömmigkeit war und nicht eine Frage seines Verhaltens in der Gesellschaft. Wenn christlicher Glaube für das gesellschaftliche Verhalten folgenlos ist, dann ist mir die ganze Sache herzlich gleichgültig. Es gehört auch zu meinen enttäuschenden Erlebnissen, daß ich häufig in der DDR Christen getroffen habe, die auf die Frage, warum sie Christ seien, nur antworteten, warum sie gegen die DDR sind. Das war mir zur Begründung eines Christ-Seins eigentlich zu wenig. Was nun die Vorgeschichte der Wende betrifft, möchte ich nicht von der Hysterie und Nervosität und Ratlosigkeit im Staatssekretariat für Kirchenfragen reden. Ich habe diese Wende auf meine Weise erlebt. In den 1 1/2 oder 2 Jahren vor der Wende habe ich meine Möglichkeiten bis zum letzten ausgeschöpft. Es war mir wichtig und wesentlich, mit Pfarrkonventen, Kirchgemeinden im Gespräch zu sein und im Gespräch zu bleiben. Soweit ich mich erinnere, habe ich keinen Gethsemane-Gottesdienst erlebt. Da war man nie sicher, ob man von einer Reihe von Leuten oder gar von der Presse erkannt wird und das Ganze zu Irritationen führt. Ich habe in der Zeit, in der andere Mitarbeiter des Staatssekretärs schon nicht mehr den Mut hatten, Einladungen zu Pfarrer-Gesprächen im Lande wahrzunehmen, jede dieser Gelegenheiten genutzt, z. B. in Abendkreisen, in Kirchgemeinden und sonstwo, weil ich mir gesagt habe, in dieser Situation gehörst du ganz dicht zu den Leuten, mit denen du dich so lange beschäftigt hast. Insofern habe ich die Wende sehr intensiv erlebt. Und neben aller Enttäuschung über die Unfähigkeit, den sozialistischen Versuch zu retten, habe ich sie auch in einer großen Solidarität mit Christen erlebt, für die ich bis heute dankbar bin. Den Abend der Maueröffnung am 9. November 1989 habe ich in der Französischen Kirche erlebt und bin damals vom Pankower Superintendenten Werner Krätschell zum ersten Mal in meinem Leben auf eine Kanzel gestellt worden, weil wir uns an diesem Abend in der Französischen Kirche über ein von Manfred Stolpe vorgeschlagenes Thema verständigen wollten: die Kirchen, die Parteien und die DDR. Da sollte ich im Sinne der SED ein paar Worte sprechen. Ich habe also diese Wende ganz intensiv, sehr solidarisch und auch sehr dialogisch erlebt. Einen Dialog über weltanschauliche Fragen des Verhältnisse von Marxist-Sein und Christ-Sein durfte es ja in der DDR nicht geben. Das war eines der großen vorgegebenen Tabuthemen der SED-Führung. Insofern habe ich die Wende auch erlebt als den Wiederbeginn eines seit Ende der 60er Jahre nicht mehr stattgefundenen christlich-marxistischen Dialogs, der mich bis heute beschäftigt und prägt.

Herr Professor Dohle, Sie haben dann in der Endphase der DDR auch Lothar de Maizière als Staatssekretär für Kirchenfragen erlebt. Also die Phase nach der Wende bis hin zum 3. Oktober 1990, an dem dann der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland vollzogen wurde. Ganz sicher haben Sie auch aus jener Zeit Interessantes zu berichten!

Es ist ja bekannt, daß Ende November 1989 Staatssekretär Kurt Löffler von seiner Funktion entbunden wurde und entschieden worden ist, daß Lothar de Maizière der Leiter unseres Amtes wird. Er hat sich dann ab Januar 1990 etwas intensiver um die personelle Zusammensetzung und die sachliche Zuständigkeit dieses Amtes kümmern können. Ich habe an die Zusammenarbeit mit Lothar de Maizière eine ausgesprochen angenehme Erinnerung. Auf einmal waren Dinge möglich, von denen man bis dahin nicht zu träumen gewagt hatte, z. B. eine offizielle Entschuldigung der DDR bei den Juden für das, was im deutschen Namen diesem Volk angetan worden ist. Es waren auf einmal Verhandlungen mit der Volksbildung möglich, Gespräche zwischen Staat und Kirche, und es waren in der Diakonie neue Entscheidungen möglich. Ich hatte in einigen Fällen an solchen Aufträgen Lothar de Maizières mitzuwirken oder für ihn Reden zu schreiben. Ich erinnere mich sehr gern an die Zusammenarbeit mit ihm, und ich schätze ihn bis heute sehr als einen Vertreter von Politik, wie sie damals völlig unbekannt war: sehr persönlich, in der Sache sehr streng und sehr genau, aber mit einer ungeheuren Kreativität, dabei zugleich mit einer Verletzlichkeit, die ich bei damaligen Führungsfunktionären der SED nicht zu spüren bekommen hatte, und die ich bei heutigen Politikern auch nicht spüre. Eine Form von Umgang und Politikverständnis, die unglaublich viele Möglichkeiten für eine reformierte DDR enthalten hätte, wenn es sie denn weiter gegeben hätte.

Herr Professor Dohle, Sie haben jahrzehntelang Kirchenpolitik erlebt, aktiv mitgestaltet. Nun haben wir seit dem 3. Oktober 1990 eine neue Wirklichkeit, die ich jetzt nicht werten möchte. Was würden Sie denn aus ihren Erfahrungen heraus und aus der Kenntnis gegenwärtiger Kirchenpolitik meinen, was man aus DDR-Zeiten in diese unsere Gegenwart und Zukunft hinüberretten könnte oder sollte?

Ich habe zu DDR-Zeiten öfter, auch in großen Kreisen von Mitgliedern der SED, einen Satz prägen dürfen, und mir ist für das Aussprechen dieses Satzes nichts passiert: Ich möchte die DDR eines Tages, wenn es denn mit mir soweit ist, ein bißchen toleranter verlassen als ich sie vorgefunden habe. Der Gedanke war in meinem damaligen Denken nicht vorgesehen, daß die DDR mich verläßt. Ich mußte also nach 1989 mit Scheitern fertig werden, einer Vokabel, die in meinem marxistischen Denken bis dahin nicht vorkam. In der historischen Erfahrung von Christen kommt Scheitern vor, und insofern ist mir der Umgang mit Scheitern auch in der Gemeinschaft mit Christen seit 1989 vertrauter geworden. Was ich aus Erfahrung denke, was bleiben müßte, auch wenn ich mir heutiges Agieren von Kirche in Deutschland und auch in der Ökumene ansehe, aber vor allen Dingen in Deutschland: Christliche Kirchen haben in der DDR durch die Begegnung mit der Macht der SED gelernt, kritischer Begleiter etablierter Macht zu sein. Die SED war nicht souverän genug, diese kritische Begleitung anzunehmen, gar wohl, was nötig gewesen wäre, herauszufordern. Ich hoffe, das bleibt. Daß Kirchen die Fähigkeit zur kritischen Begleitung von Macht nicht wieder verlieren, sondern, wenn es geht, ausprägen. Ich denke, heutige etablierte Macht in Deutschland verdient kritische Begleitung. Ich könnte eigentlich unverschämterweise, obwohl ich Kirche keine Ratschläge zu geben habe, nur Mut zu dieser kritischen Begleitung machen, etwa so, wie es mit dem jüngsten Wort der beiden Großkirchen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland geschieht. Ich wünschte mir und erlebe auch gelegentlich Kirche als einen Ort kritischen, auch alternativen Umgangs mit Wirklichkeit, auch als Ort einer Vision, damit wir nicht den Fehler machen, zu glauben, die Zukunft sei bloß die Verlängerung der Gegenwart.

Kirche als „Ort einer Vision“... Aber bekanntlich gibt es auch außerhalb der Kirchen, allerdings auch hier nur sehr gelegentlich, Visionen. Ich nenne als Beispiel die „Erfurter Erklärung“. Was hat Sie dazu bewogen, diese Erklärung zu unterschreiben?

Sehr froh bin ich darüber, daß es die „Erfurter Erklärung“ gibt. Ich erlebe, wie viele ehemalige DDR-Bürger auch gegenwärtig in deutscher Politik einen Zustand von politischer und auch ideologischer Verkrustung beklagen. Eine Überzeugung wie: „Nur immer weiter so, und alles wird gut“; das erinnert mich sehr an Verkrustungs- und Versteinerungserfahrungen in der SED. Das macht mich aufs höchste unruhig und deshalb halte ich die „Erfurter Erklärung“ für einen ganz wichtigen Impuls, parteiübergreifend Aufbrüche und alternatives Nachdenken über unseren Alltag und über unsere Gesellschaft zu initiieren. Ich erinnere daran, daß Probst Heino Falcke, einer der Initiatoren der „Erfurter Erklärung“, in den 80er Jahren in allen SED-Texten als der Feind Nr. 1 der DDR und der SED eingestuft wurde, ein völlig unsinniger Vorgang, aber es war so. Ich erlebe zu meinem Entsetzen, daß er, nachdem er die „Erfurter Erklärung“ mit initiiert hat, nun schon wieder als Feind des heutigen Systems qualifiziert wird. Ich weiß, daß Heino Falcke sich „zwischen den Stühlen“ am wohlsten fühlt, aber es sollte uns gerade diese eben genannte Erfahrung stutzig machen. Ich denke schon, daß keine einzige Frage, die Karl Marx aufgeworfen hat, erledigt ist, und ich erfahre durch meine mannigfaltigen ökumenischen Beziehungen, die ich Gott sei Dank seit 1989/90 haben darf, daß auch in vielen Ländern der Dritten Welt das Ende des realen Sozialismus zwar bedauert wird, dort aber nicht das Ende alternativen Denkens bedeutet. Warum soll eigentlich mit dem Ende der DDR und des sozialistischen Versuchs in Deutschland das alternative Denken in Deutschland zu Ende sein ?

Das Gespräch führte Hans-Joachim Beeskow


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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