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DDR-Bild mit doppeltem Charakter

Im Gespräch mit Helmut Müller-Enbergs

IM - das Wort der Wörter. Mittlerweile ist die Abkürzung zu einem Symbol geworden. Verteufelt oder verteidigt - jedenfalls immer gut für eine Schlagzeile. Nützlich auch für Politintrigen. Niemals frei von Emotionen. Mit zwei Buchstaben läßt sich einiges an Aufregung schaffen. Sachlichkeit bleibt oft auf der Strecke.
Im 3. Band der Wissenschaftlichen Reihe „Analysen und Dokumente“ der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR liegt nun eine Arbeit über die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS (1996) vor. Wie hilfreich diese Publikation für den fortdauernden Diskurs zur DDR-Geschichte sein wird, bleibt abzuwarten.
Zu diesen und anderen Fragen führte Burga Kalinowski für „Berliner LeseZeichen“ mit dem Herausgeber Helmut Müller-Enbergs das folgende Gespräch.
Helmut Müller-Enbergs, Jahrgang 1960, studierte Politikwissenschaft in Münster und Berlin, seit 1992 Mitarbeiter der o. g. Behörde. Er ist Mitautor und Herausgeber mehrerer Bücher zu Themen aus der DDR-Geschichte: „Von der Illegalität ins Parlament“ (1991), „Bündnis 90“ (1992), „Das Fanal. Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz und die evangelische Kirche“ (1993), „Wer war wer in der DDR?“ (1995) u. a. Bereits mit seinem ersten Buch „Der Fall Rudolf Herrnstadt“ (1991) läßt er sich auf DDR-Geschichte ein.


Wie sind Sie, im tiefsten Westdeutschland sitzend, auf Rudolf Herrnstadt gekommen, DDR-Geschichte pur?

Zufällig und von einem exotischen Ausgangspunkt. Anfang der achtziger Jahre beschäftigte ich mich mit der Frage, warum Intellektuelle in den sechziger und siebziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland von Stalin fasziniert waren, der zu ihnen im Handgepäck der Mao-Tse-tung-Ideen kam. Bei den Recherchen stieß ich auf eine kleine obskure Gruppe, die von 1965 bis 1968 bestanden hatte, und den Namen Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands trug. Sie gab ein kleines hektographiertes Blättchen mit dem Titel „Sozialistisches Deutschland“ heraus, in dem von sechs „Klassikern“ die Rede war: neben Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao Tse-tung auch noch ihr angebliches Mitglied Rudolf Herrnstadt, ein Name, der mir zunächst nichts sagte. Bei näherem Hinsehen fielen Herrnstadts biographische Eckdaten auf, nach denen er eine interessante Person gewesen sein mußte. So hatte er, von jüdischer Herkunft, in der Roten Kapelle und im Nationalkomitee Freies Deutschland mitgewirkt und wurde 1953 spektakulär aus dem SED-Politbüro gestürzt. Diese Angaben ließen die Behauptungen im „Sozialistischen Deutschland“ absurd erscheinen.
Diese Erkenntnis hätte normalerweise genügt, doch fielen mir zufällig einige Artikel Herrnstadts in die Hände, wie der „Über ,die Russen‘ und über uns“ oder „Kollege Zschau und Kollege Brumme“. Einerseits beeindruckte mich an ihnen die Art der Darlegung und andererseits die darin enthaltene kritische Sicht, die ich in der Stalin-Ära der DDR so nicht vermutet hatte. Das machte mich neugierig. Ich recherchierte weiter, wertete Zeitungsartikel aus, sprach mit ehemaligen Weggefährten, wühlte in Archiven und fand die Person Herrnstadt zunehmend interessanter. Zu der Zeit kam die Frage auf, wie der wahrscheinlich intelligenteste Mann in der SED-Spitze mit einer Partei umging, in der er nicht wirklich zu Hause sein konnte, da er seitlich eingestiegen war, nie Parteiarbeit im engeren Sinne gemacht hatte, war er doch stets nachrichtendienstlich tätig gewesen. Erst als seine ND-Arbeit endete, wurde er direkt in der Parteispitze installiert und kam dort prompt schräg an. Schon in Moskau hatte er sich im Jahre 1944 mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht bei der Konzeption für das zukünftige Deutschland angelegt. Das zusammengenommen machte die Faszination Herrnstadts aus und brachte mich dazu, meinen Studienabschluß über ihn und die Frage des Mandats des Intellektuellen in der DDR zu schreiben. Im August 1989 schloß ich die Arbeit dann ab.

Hatten Sie mit dieser Gruppe, die Sie eingangs erwähnten, selber zu tun, oder war das nur ein Außeninteresse?

Mit dieser Gruppe? Nein. Aber es gibt eine biographische Erfahrung. Als 16jähriger war mir so, als müßte ich in der Bundesrepublik Deutschland an der Revolution teilnehmen, und war als Schüler und Lehrling Mitglied einer Gruppe, die sich „Revolutionäre Jugend“ nannte. Dort schaffte ich es immerhin bis zum dritten Mann in der Ortsleitung Recklinghausen. Aber ich bekam erhebliche Probleme in dieser Gruppe gerade auch wegen Stalin. Denn ich hatte aus meinem familiären Umfeld erfahren, daß die deutschstämmige Großelterngeneration in der Sowjetunion gelebt und GULAGs durchlaufen hatte, daß sie mit der Deutschen Wehrmacht kollaborierte und gegen sowjetische Partisanen vorgegangen war. Sie hatten Stalin von einer ganz anderen Seite erlebt. Ihre Erinnerungen waren glaubwürdig und waren gar nicht mit Stalins Ausführungen in den 13 braunen Bänden, die wir seinerzeit fleißig und gläubig studierten, in Einklang zu bringen. Auch dieser Widerspruch führte Ende 1979 zu meinem Bruch mit dieser Gruppe, die mich anschließend u. a. wegen Ultrademokratismus auch noch ausschloß, nachdem eine gegen mich geführte Untersuchung diesen Befund zum Vorschein gebracht hatte. Mein ganzes politisches Leben hatte ich bis dahin dieser Gruppe und ihren Ideen gewidmet, die dann einsetzende Trauerarbeit zog sich folglich erheblich hin und wurde über ein historisches Thema, das sich zufällig an Herrnstadt festhing, verarbeitet und führte dann nicht nur zur Lösung von Stalin, sondern zum Abschied vom Marxismus-Leninismus.

Wie weit haben Sie sich bei dieser Arbeit über Herrnstadt seinen Intentionen nähern können?

Als ich mit der Arbeit über Herrnstadt anfing, hielt ich es für selbstverständlich, daß sich ein Intellektueller am Aufbau des Sozialismus beteiligte. An seinem Lebensende zog Herrnstadt jedoch das Fazit, daß er es nicht noch einmal machen würde, nicht zu dem von ihm gezahlten Preis. Dieser Entwicklungsprozeß, stark verkleinert und umgesetzt auf die eigene Biographie, führte bei mir zum gleichen Ergebnis. Mein DDR-Bild hatte aber während der Auseinandersetzung mit Herrnstadt einen doppelten Charakter: Einmal das Verständnis für Menschen, die sich engagiert darum bemühen, Vorstellungen von einer besseren Welt in die Wirklichkeit umzusetzen. Zum anderen das GULAG- oder besser, das Repressionsthema, das schon bei der Trennung von der Revolutionären Jugend relevant gewesen war. Das spielte seit 1987 wieder eine Rolle, als eine Arbeitskollegin meiner Frau, die von der Staatssicherheit „bearbeitet“ worden war, von ihren Erfahrungen im Potsdamer „Lindenhotel“ und dem Frauengefängnis Hoheneck berichtete. Sie war zu einer einjährigen Haftstrafe wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme verurteilt worden, nachdem sie einen West-Berliner Rechtsanwalt angerufen hatte. Sie selbst kommt aus einer staatstragenden Familie. Ich erlebte ihren Mann, den die Gefängniszeit psychisch verändert hatte. Er kam ebenfalls aus einer parteiloyalen Familie und hatte irgendwann den Entschluß gefaßt, Erich Honecker in die Luft zu sprengen. Erste Übungen führte er im Garten der Schwiegereltern durch. Er hatte sich dem sozialistischen Staat so entfremdet, daß er sich dem Staat konfrontativ gegenüberstellte und sogar zu einem solchen Schritt bereit war. Über die Begegnungen mit diesen beiden Menschen lernte ich die DDR von einer anderen Seite her kennen, quasi vom anderen Extrem. Diese Zufallsbekanntschaft schützte mich davor, die DDR romantisch zu sehen. Wobei das Verhältnis zur DDR stets kritisch war, nicht nur durch die DDR-Forschung an der FU Berlin, die ein kritisches Verhältnis lehrte, sondern auch schlicht durch Erfahrungen, die jeder Bundesbürger machen mußte, beispielsweise wenn er zur Grenzübergangsstelle kam und die Paßkontrolleinheiten des MfS erleben durfte, was ja doch erschreckend war. Die machten das Land nicht gerade sympathisch.

Nun haben Sie sich der DDR wiederum genähert, diesmal als Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Dort arbeiten Sie in der Forschungsabteilung und befassen sich mit den inoffiziellen Mitarbeitern des MfS. Sie haben zuletzt ein Buch über die IM herausgebracht. Was können Sie vom heutigen Stand, nach diesem Buch, sagen, wie sich Ihnen die DDR präsentiert?

Nun, zunächst gibt es da eine thematische Kontinuität. Herrnstadt war - genau besehen - IM „Friedrich Brockmann“, so daß ich mich schon einige Zeit mit diesem Thema auseinandersetzen mußte. Herrnstadts inoffizielle Arbeit, grundsätzlich an sowjetischen Interessen orientiert, war überwiegend gegen den Nationalsozialismus gerichtet, so daß er im Kontext von Widerstand sicherlich anders zu bewerten ist als IM, deren Engagement überwiegend gegen Demokratie gerichtet ist. - Als ich in die Behörde eintrat, war ich mir nicht sicher, ob ich das Thema inoffizielle Mitarbeiter wirklich behandeln möchte. Ich zögerte, denn bewußt hatte ich nicht Theologie studiert oder ein Psychologie-Studium abgebrochen. Das hängt mit einem gewissen Respekt oder einer Angst vor menschlichen Abgründen zusammen, und ich fürchtete mich bei der Konfrontation mit Akten, wie mit den dort genannten Menschen umzugehen sei. Es war seinerzeit schon erklärte Absicht und heute praktiziertes Verhältnis zu Akten, daß sie nur Momentaufnahmen von Menschen zeigen, so daß die Aufgabe darin besteht, die dort beschriebenen Akteure lebendig werden zu lassen. Ich muß mir die in der Akte beschriebenen IM richtig vorstellen können, mit ihnen in einen Dialog treten, und das machte mir Angst. Zudem fürchtete ich, daß wissenschaftliches Arbeiten mit Akten, das ja nicht mit Dienstschluß endet, sondern ein Dauerzustand ist, mein gesamtes Leben prägen und, vor allem, mein Menschenbild verändern würde.
Als ich dem ersten IM in den Akten begegnete, dessen pädophile Neigungen der Staatssicherheit Anlaß gaben, ihn zu verpflichten und ihm im Gegenzug zu gestatten, seine Neigungen auszuleben, war ich mir nicht sicher, wie ich mich diesem Mann, sollte ich ihm einmal begegnen, gegenüber verhalten sollte. Das sprach gegen die Wahl des IM-Themas, anderes sprach dafür: Es fehlt an Basiswissen, Fachinformationen in der öffentlichen Diskussion. Es ist auffallend, daß Personen, die früher einen Teil ihrer Lebenszeit für die Staatssicherheit tätig waren, quasi gebrandmarkt sind nur mit diesem Detail ihres Lebens. Sie in der öffentlichen Erörterung zu einem Menschen reduziert werden mit diesem Ausschnitt ihres Lebens. Andererseits ist auffallend, daß ehemalige Akteure diese Dimension vollständig ausblenden. Nun ist doch von Wissenschaft zu verlangen, daß sie etwas dazu beiträgt, Menschen in ihrer ganzen Persönlichkeit zu begreifen, nachvollziehbar machen, warum Menschen bereit waren, ihren oder einen anderen Staat auf dieser Flanke zu unterstützen, sogar so weit gingen, über Lebensgefährten Informationen zu bringen, oder noch weiter, sogar gezielt Menschen heirateten, damit die Staatssicherheit an Information herankam. Um zum Verstehen solcher Zusammenhänge beizutragen, habe ich mich für diese Arbeit entschieden. Ich möchte Wissen darüber verbreiten, wie die Staatssicherheit selbst mit diesen Akteuren umgegangen ist, welches Regelwerk sie entwickelte, welches Bild sie von diesem Personenkreis hatte, das zuweilen erschreckend ist. Um einen Aspekt herauszugreifen, sei das Prinzip genannt, einem IM das Gefühl von gegenseitigem Vertrauen zu vermitteln, obgleich er für den Führungsoffizier ministeriumsintern nur eine Schachfigur, ein Zinnsoldat war.

Sie sprechen von Sorge, was die Akten betrifft, und ob Sie damit überhaupt klarkommen - gab es auch die Sorge, daß das, was sie erklärtermaßen als wissenschaftlichen Beitrag leisten wollen, für tagespolitische Interessen benutzt werden könnte?

Natürlich steht Wissenschaft immer im Verdacht, politisch verwertbar zu sein. Sie findet ja nicht im politikfreien Raum statt. Ich selbst finde aber neugierige und energisch betriebene, im Ergebnis offene Forschung viel spannender als das Anfertigen von Materialien, die politische Ansichten angeblich wissenschaftlich untermauern. Unbeschadet davon muß ein jeder seine Arbeitsergebnisse verantworten, wobei doch gegenwärtig nur Maxime sein kann, Klarheit zu schaffen, Fakten zu liefern und Zusammenhänge zu beschreiben. Aktenmaterial zum Sprechen zu bringen ist doch, perspektivisch gesehen, für die Gesellschaft viel brauchbarer als das Bedienen tagespolitischer Interessen. Arbeitsergebnisse, die vornehmlich Basisinformationen liefern, sind selten politische Intervention. Und ich glaube, die aktuelle Diskussion leidet sehr stark darunter, daß Grundwissen fehlt. Das Buch über die IM etwa ist für eine Zielgruppe gedacht, die in Kommissionen über ehemalige IM zu befinden haben, ob der Arbeitsvertrag gekündigt wird oder nicht, ob eine tarifliche Abgruppierung stattfinden soll usw. In diesem Kontext ist es mir wichtig, Basisinformationen für zumindest begründbare Entscheidungen zu liefern.

Daß das immer Menschen und ihre Existenz betrifft, darüber sind Sie sich auch im klaren, nehme ich an?

Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung haben selbstverständlich unmittelbar mit Menschen zu tun. Das interessiert mich ja auch. Bewußt beschäftige ich mich nicht mit den Eßgewohnheiten von vor 4 000 Jahren, die Fragen müssen heute schon relevant sein. Wissenschaftlicher Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion muß doch sein, nutzbare Erkenntnisse zu liefern. Freilich können sie individuell als Hilfe für oder als Waffe gegen Menschen genutzt werden. Jede Erkenntnis kann diese zweifache Verwertung finden. Wenn ich jedoch meine Arbeitsergebnisse zutreffend einordne, tragen sie zur Information über Handlungszusammenhänge aller drei Akteure - Opfer, Führungsoffizier und IM - bei.

Was sind Ihre Intentionen bei Forschungsarbeiten dieser Art - gibt es den höheren Zweck? Auf eine Ebene sind Sie bereits eingegangen, aber die Geschichte zu betrachten, ist nur die eine Seite. Die andere ist, Konsequenzen daraus zu ziehen. Denken Sie, daß Sie auch etwas in diese Richtung bewirken?

Es gibt da einen Lernprozeß. Als ich anfing, Politikwissenschaft zu betreiben, war ich der festen Überzeugung, daß aus Geschichte gelernt werden könnte. Daß Erfahrungswissen, gebündelt dargelegt, verständlich und nachvollziehbar ist, und daß Menschen auf Basis dieses Wissens Fehler vermeiden. Dieser Optimismus ist weg. Jetzt mache ich die Beobachtung, daß die Behörde schon seit fünf Jahren Wissen produziert, und selbst bei Fachleuten, die sich mit der Materie beschäftigen, ist auffallend, daß es nur teilweise zur Kenntnis genommen wird. Das hat mich überrascht und hatte zur Konsequenz, neben der Schreibtischarbeit in Schulen zu gehen und Vorträge vor Schülern zu halten. Denn es ist zu beobachten, daß die DDR, was Geschichte, Erfahrungen, Sprache, Kultur, Empfinden, Gefühle betrifft, Schülern überhaupt nicht mehr präsent ist. Die letzten acht Jahre haben eine derartige Veränderung bei den Menschen hervorgerufen, daß sie die Dimension DDR nicht mehr nachvollziehen können, das Land rosiger erscheint, als es war oder erlebt wurde. Und diese Entwicklung erfordert es, Erinnerungsarbeit zu leisten, wobei das verschiedenes bedeutet. Das wichtigste ist auf jeden Fall, den Platz der Betroffenen - die eine sehr große Gruppe sind, auch sehr vielschichtig, in sich verschachtelt - in der Geschichte zu bestimmen. Es ist schon bedrückend, mit Menschen zu sprechen, die einem Zersetzungsplan des MfS unterworfen waren, die krank geworden sind, die heute Mühe haben, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden, die beruflich gescheitert sind und Schwierigkeiten haben, Partnerbindungen einzugehen, daß denen noch das Gefühl gegeben wird, daß sie nicht ewig im Schatten stehen. Und bei einer zweiten Gruppe ist, unabhängig von den Akteuren, IM oder MfS-Hauptamtlicher oder Parteisekretär, daran zu erinnern, welchen lebensweltlichen Bedingungen sie unterlagen, wie agierten sie in diesem Umfeld. Da hat es Spielräume gegeben zwischen nichtreflektierter, dumpfer Folgschaft und zwischen Leiden, doppelter Lebenswelt, beruflich und privat.

Meinen Sie, daß es irgendwann einen DDR-Boom geben wird?

Ja, das ist meine feste Überzeugung. Das ist übrigens eine weitere Intention, daß wir Wissen für die Zukunft schaffen, also unbeschadet der Behauptung, daß man aus Geschichte doch nicht lernen kann. Ich denke, daß in 20 bis 25 Jahren die Zeit vor 1989 noch einmal Thema werden wird, wenn wieder die Frage aufkommt, wie will man leben, wie soll der Staat organisiert sein, welches Erfahrungswissen gibt es in Deutschland, in seiner Geschichte? Zumal dieses Jahrhundert ja doch ein ungewöhnlich grausames Jahrhundert war. Ich hoffe dann dazu beigetragen zu haben, nicht nur Aktenwissen systematisiert zu haben, sondern auch das Wissen, das jetzt nur noch in den Köpfen vorhanden ist, aufgehoben zu haben für die Zukunft. Eine Erfahrung nach 1945 war, daß zu wenige Menschen sich mit der Zeit davor auseinandergesetzt haben, um Klarheit über das System zu gewinnen. Nur mühsam gelang es der Studentengeneration '68, bestimmte Aspekte noch einmal aufzuwerfen, und noch heute finden in größtem Maßstab Forschung und sensationelle Diskussionen, wie bei Goldhagen, über Ereignisse statt, die schon über 50 Jahre her sind. Ich glaube, was die DDR betrifft, da sind wir als Behörde eine Investition in die Zukunft.

Bei der Beschäftigung mit dem Thema „IM“ haben Sie sich ja notwendigerweise auch mit den sicherheitspolitischen Überlegungen von Partei und Regierung der DDR beschäftigt. Gibt es signifikante Zusammenhänge zwischen politischen Situationen und dem Handeln durch das MfS?

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Agieren eines einzelnen IM, seines Führungsoffiziers und der Interpretation der Weltlage durch die sowjetische Führung. Verkürzt läßt er sich vielleicht so darstellen: Die sowjetische Sicherheitspolitik hatte hinsichtlich der DDR immer zwei Aspekte im Auge. Einmal die geopolitische Lage der DDR direkt an der Grenze, andererseits die deutsch-deutsche Teilung. Auch hatte die Furcht vor militärischer Intervention aus dem Westen eine immense Bedeutung. Und in diesem Kontext war die DDR Vorposten und Faustpfand der Sowjetunion. Der sowjetische Staatssicherheitsminister Berija hatte es nach dem 17. Juni 1953 einmal auf sensationelle Weise sinngemäß so formuliert: „Die DDR, was ist das schon? Sie besteht nur aufgrund sowjetischer Truppen.“ Dieser inneren und äußeren Bedrohungssituation war sich die SED-Führung stets bewußt, d. h., sie kämpfte einerseits um internationale Anerkennung, andererseits wußte sie, ihr Staat hat nur Bestand, wenn sie den Laden in Schuß hält, er also auch sicherheitspolitisch stabil ist. Da die Sympathie, die Anbindung zwischen Volk und Führung wesentlich schwächer ausgeprägt war, als noch vor 1945 in Deutschland, war die SED-Führung auf einen starken Sicherheitsapparat angewiesen. In dem Kontext gibt es die beiden Menetekel 17. Juni und Mauerbau. Das veranlaßte die SED-Führung, das Netz der anfangs 10 000 IM zu einem exorbitanten System von zuletzt 174 000 IM zu entwickeln. Im Jahre 1989 gab es 91 000 hauptamtliche MfS-Mitarbeiter, 80 000 Volkspolizisten, 173 000 Angehörige der NVA usw., ein riesiger Sicherheitsapparat also, der trotz Entspannungspolitik stetig größer wurde.

Hat sich die Rolle des IM über die Zeiten in ihrer Bedeutung für das MfS geändert?

Insofern ja, als IM eine bestimmte Stellung im sicherheitspolitischen Konzept hatten. Sie waren zum einen Ersatzöffentlichkeit für die Führung, die offensichtlich in Sorge war, daß der Staat zusammenbrechen würde. Man wollte schon sehr genau wissen, wie die Sicherheitslage war. Das ist aber nur eine von vielen Dimensionen. Die zweite Dimension ist eine ganz alltägliche, IM hatten eine Kontroll- und Überwachungsfunktion. Die SED-Führung war sich bewußt, daß die offiziellen Berichte von Partei, staatlichen Einrichtungen, gesellschaftlichen Organisationen nach oben hin geschönt waren, und man erhoffte sich von den IM ein sehr präzises und exaktes Bild über die Gesellschaft. Auf der Basisebene war auch ein exaktes Bild vorhanden, aber je weiter Berichte nach oben kamen, desto mehr wurden sie den politischen Wunschvorstellungen angepaßt. Die dritte Dimension bestand darin, daß IM auch Funktionsleistungen zu erfüllen hatten: dort, wo das System defizitär war. Anfang der sechziger Jahre, als die LPGs entschieden aufgebaut wurden, mußte man feststellen, daß der parteipolitische Einfluß unter der Landbevölkerung sehr schwach war. Hier hatten IM Ersatzleistungen vorzunehmen, quasi hatten sie das Projekt LPG nach vorne zu bringen. Das sind drei verschiedene Grunddimensionen. Die wandelten sich mit der Zeit. Je nach politischer Interessenlage veränderten sich auch die Schwerpunkte. Um nur ein paar Aspekte herauszuheben: Nach dem 17. Juni 1953 merkte man, daß das IM-Netz noch sehr schwach entwickelt war, daß man kaum Informationen über die reale Stimmung in der Bevölkerung hatte. Das MfS stellte dann im Jahre 1955 fest, es kommen nur noch Stimmungsberichte, aber zu wenig richtige „Feinde“ wurden gefunden. Es mußte doch „Feinde“ geben, der Westen würde doch stets bemüht sein, der DDR den Hahn abzudrehen, also kippte man den Schwerpunkt von Stimmungsberichten hin zur Feindsuche. Oder Mitte der siebziger Jahre, als die Kultur aus Sicht der SED-Führung zu selbständig wurde, da legte man den Schwerpunkt auf diesen Bereich. Als in den achtziger Jahren die Ausreiseantragswelle exorbitante Größenordnungen annahm, hatte das MfS sogar eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema eingerichtet und auch die IM verstärkt auf diesen Schwerpunkt angesetzt. Das heißt, was immer IM taten, sie waren quasi die Soldaten, die den politikstrategischen Interessen der SED-Führung zu genügen hatten. Natürlich haben sie das unterschiedlich gemacht.

Mir ist in Ihrem Buch über die IM aufgefallen, daß Sie Feind oder feindliche Maßnahmen oftmals in Anführungsstriche setzen, mithin vermittelt wird, es gab dies eigentlich nicht. Sind Sie wirklich der Meinung, daß es keine Bestrebungen gab, dieses Gebilde, diesen Teilstaat von der politischen Bühne wegzuschaffen? Läßt sich nicht aus einem Selbstverständnis heraus, das übrigens auch bei Herrnstadt zu finden ist, doch feststellen: Feinde gab es wohl.

Es ist nicht zu leugnen, daß die DDR leidenschaftliche und zu allem bereite Feinde hatte. Das ist ein Fakt. Nur muß man sehen, daß da zwei Gesichtspunkte wichtig sind. Erstens: Die Staatssicherheit hat sich auf diese Feinde konzentriert, das war ihr zentrales Legitimationsmuster. Insofern hat sie auch IM ausgebildet und auf Feinde hin präpariert. Speziell auf Feinde - echte und vermeintliche - waren jedoch nur drei Prozent der IM, die in den fünfziger Jahren Geheime Mitarbeiter und zuletzt IMB hießen, angesetzt. Da das MfS nach Notwendigkeiten handelte, hatte es für die reale Feindtätigkeit nur einen Bruchteil seiner IM vorgesehen. Was haben die anderen 97 Prozent der IM gemacht? Die haben, vergröbert gesprochen, das Volk im Visier gehabt. Zweitens: Die SED-Führung hatte einen sehr umfassenden Feindbegriff. Selbst in der Partei konnte man u. U. sehr schnell zum Feind werden, wenn man nur eine einzige Handlung begangen hatte, die sich möglicherweise mit den Interessen des echten Feindes deckte. Das konnte in den fünfziger Jahren das Auftragen des roten Lippenstiftes oder das Tragen der Jeanshose sein, womit man angeblich der ideologischen Diversion des „amerikanischen Imperialismus“ auf den Leim gegangen sei. Der exorbitante Feindbegriff war übrigens auch für die MfS-Mitarbeiter ein Problem. Wen suchten sie, wenn sie Feinde finden sollten? Pragmatisch wurde das dann so organisiert: Feind war, wer nicht der Parteilinie folgte, wer abweichende Meinungen hatte. Selbst gediente Genossen, die seit Jahrzehnten der Arbeiterbewegung verbunden waren, und die sich darüber beklagten, daß ihre Tochter von einem Rotarmisten vergewaltigt worden war, entgingen diesem Vorwurf nicht. Um die staatliche Sicherheit zu organisieren, mußte ein weiter Feindbegriff her. Das zeigt eigentlich, wie instabil die DDR war, und wirft heute interessante Fragen auf, weil sich ja Millionen Menschen oftmals unter Rückstellung ihrer individuellen Interessen bemüht haben, dieses Staatswesen zu gestalten.

Im Zusammenhang mit IM, es gibt viele Publikationen dazu, ist unter anderem auch die Rede von dem Untertanengeist der DDR-Bürger oder zumindest derer, die zu einer IM-Tätigkeit gezogen werden konnten. Was haben Sie dazu aus den Unterlagen zu IM-Tätigkeit erkennen können? War es Angst, Repression oder Überzeugung?

Das ist eine Frage nach der Motivation. Zunächst muß man feststellen, daß man sich beim MfS nicht bewerben konnte, sondern daß der Kandidat in aller Regel von der Staatssicherheit ausgewählt wurde. Wenn man nun die Akten und die vom MfS angefertigten Analysen durchsieht, dann stellt man fest, daß die Palette der Gründe für das Mittun recht groß ist. Sie reicht von knallharter Erpressung wegen eines kriminellen Vergehens bis hin zu selbstverständlicher Mitarbeit. Wie verteilen sich die einzelnen Motivgruppen in dieser Spannbreite? Es spricht vieles dafür, daß nur ein sehr kleiner Teil der IM erpreßt wurde. Wir sind uns sicher, daß etwa drei Prozent der IM durch klassische Erpressungsmittel, also kompromittierende Materialien, Faustpfänder zur Zusammenarbeit genötigt wurden. Der Anteil des Personenkreises, der aus materiellen oder sozialen Motiven mitgemacht hat, der Karriere wegen, um Vorteile für ihre Kinder zu erreichen oder ein Auto oder ein Haus oder eine Westreise erhalten wollte, machte, ich spekuliere, unter den IM höchstens 10 bis 15 Prozent aus. Das ist ein sehr geringer Anteil. Das Gros, wahrscheinlich über 90 Prozent, hat primär aus einem ideellen Interesse mitgemacht, weil es, da gibt es auch Extreme, selbstverständlich war, die Genossen von der Sicherheit zu unterstützen, oder aber, weil Menschen, die nur ein puzzleartiges Weltbild haben, das lediglich einzelne Aspekte verkörpert, nur über Einzelfragen ansprechbar waren. Nehmen wir doch nur einmal die Generation, die in der Weimarer Republik sozialisiert worden war, sie war durchaus über in der DDR garantiertes Arbeiten, Wohnen und Essen ansprechbar. Oder Anfang der achtziger Jahre gab es Menschen, denen die DDR als der friedliebendere Staat erschien, während im Westen der angeblich aggressive Imperialismus hinter der Mauer hockte. Oder das Beispiel einer Frau, deren Tochter vergewaltigt wurde und der die Staatssicherheit hatte helfen können, den Täter zu finden - da war die Motivbrücke Gerechtigkeit. Es gibt da in der großen Gruppe der Überzeugungen eine breite Palette von einer punktuellen bis hin zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung mit der DDR. Man muß dazu noch sagen, daß es einen Wandel der Motive gibt. Das Erstmotiv für das Mitwirken muß nicht identisch sein mit dem Motiv in der Höhepunkt- oder Schlußphase der Zusammenarbeit. Man muß im Auge behalten, daß zahlreiche Menschen Nein gesagt haben, oder manche Bedenken hatten, Nein zu sagen, und wollten nur offiziell, aber nicht inoffiziell mitwirken, oder waren nur bereit, über dienstliche Belange zu sprechen, aber nicht über private. Feststellbar ist eine beeindruckende Vielfalt von Gründen, Nein zu sagen. In der Behörde wird dieser Personenkreis oftmals als stille Helden bezeichnet. Nach MfS-Statistiken und Analysen hatte jeder Zweite, der dem MfS das Ja-Wort gab, Angst gehabt. Das muß man mitdenken. Es deutet vieles darauf hin, daß die Angst des Betroffenen dadurch motiviert war, daß das MfS vielleicht irgend etwas wußte, was gegen ihn verwendet werden könnte. Die Leistung des Führungsoffiziers bestand darin, diese eingebildete Angst runterzufahren. Im übrigen war die Werbungsvariante Erpressung beim MfS selten angewandt worden, weil es Menschen brauchte, die aus Überzeugung heraus wirkten. Gezwungene Menschen arbeiten bekanntlich weniger gut.

Kann man bei der Arbeit des MfS mit IM davon sprechen, daß es das Psychogramm, das Idealbild eines IM gab?

Meines Erachtens wird das kaum zu machen sein. Es ist überhaupt schwer, Menschen nach verschiedenen Psychogrammen zu gruppieren. Ich versuche Handlungstypen zu beschreiben, muß aber feststellen, daß ich alle paar Monate wieder etwas Neues entdecke und mein gerade entwickeltes System wieder verwerfen muß. IM waren schon Individuen. Manch einer hat wie selbstverständlich schriftliche Berichte angefertigt, manche haben sogar ein Tonbandgerät mit nach Hause genommen und es dort besprochen und die Kassette beim nächsten Treff übergeben, andere wollten nur mündlich berichten. Es gab sogar in der Bundesrepublik einen Agenten, der sich bei Treffen immer eine Strumpfmaske übergezogen hatte, damit er vom Führungsoffizier nicht identifiziert werden konnte. Das vielfältige Spektrum an Verhaltensweisen gegenüber den Führungsoffizieren scheint allerdings über ein Kriterium charakterisierbar zu sein: Wie weit ist der IM bereit, dem Führungsoffizier ein Faustpfand, ein Erpressungsmittel zu geben. Die Scheu, sich auszuliefern, war immer irgendwie da, nur, viele Führungsoffiziere, talentierte Menschenführer, konnten oftmals diese Scham abbauen, so daß sogar freundschaftliche Verhältnisse entstanden. Ich meine nicht nur Scheinfreundschaften, sondern echte freundschaftliche Beziehungen. Ein mir bekannter IM gratuliert seinem Führungsoffizier immer noch zum Jahreswechsel oder zum Geburtstag. Es gibt auch noch ab und zu Treffen zwischen beiden, dann, wenn ein IM möglicherweise enttarnt wird, weil der Arbeitgeber eine Überprüfung bei der Behörde veranlaßt hat, so daß beide ihre Verteidigungsstrategie abstimmen müssen. Es gibt das bekannte Beispiel des Frühstücksdirektors, der seinen Führungsoffizier dazu anhielt, sich nicht zu ihm öffentlich zu äußern. Daran merkt man, daß es unterschiedliche Formen des Verhältnisses zwischen IM und Führungsoffizier auch nach 1989 gibt. Auch hat die unterschiedliche menschliche Sozialisation ein Gewicht: War nur ein Elternpartner für die Erziehung des späteren IM zuständig, oder gab es eine Heimerfahrung oder eine gestörte Elternbeziehung, konnte der Führungsoffizier eine Vater- oder Mutterrolle einnehmen, oder aber, wenn jemand ein Kumpeltyp war, einen entsprechenden Habitus anbieten, oder aber Führungsoffiziere führten mit IM ein kühles Sie-Verhältnis, was vielleicht besonders Vertrauen schuf usw. Wenn auch in den MfS-Lehrbüchern stets ein Idealbild vom IM entworfen wurde, in der operativen Praxis mußten sich Führungsoffiziere auf jeden IM individuell einstellen, sich dem Persönlichkeitsprofil anpassen.

Was unterscheidet den IM des MfS vom V-Mann westlicher Dienste?

Da gibt es zunächst einmal den klassischen Unterschied: cui bono? - wem nützt es? Der zweite Unterschied besteht darin, daß sich die Dienste der Bundesrepublik in der Regel auf den echten „Verfassungsfeind“ konzentrieren. Diesen Bereich deckte auch das MfS ab, allerdings nur mit drei Prozent seiner IM. Der Unterschied zwischen einem durchschnittlichen IM und einem durchschnittlichen V-Mann besteht darin, daß ersterer auf das gewöhnliche Volk angesetzt war. Drittens: Der handwerkliche Unterschied ist wahrscheinlich nicht so groß, wobei es aber beim Personenkreis und bei den Zielen signifikante Unterschiede gibt: Die Arbeit mit Minderjährigen ist bundesdeutschen Diensten verboten, während das MfS sehr wohl davon Gebrauch machte. Es dürften schätzungsweise 3 bis 4 000 Minderjährige zuletzt für das MfS gearbeitet haben. Signifikant ist auch, daß das MfS, wenn es glaubte, ein Problem nicht anders lösen zu können, Menschen entführte und auch vor Mordanschlägen nicht zurückschreckte. Das ist bundesdeutschen Diensten untersagt. Schließlich setzte das MfS in Plänen IM zur „Zersetzung“ von Menschen ein, ein solches Mandat haben bundesdeutsche Dienste nicht. Ein vierter Unterschied besteht darin, daß die Staatssicherheit nur ein sieben Zeilen umfassendes Gesetz zur Grundlage hatte. Im ersten von zwei Paragraphen wurde die Umwandlung einer Hauptverwaltung zum MfS definiert, im zweiten Paragraphen der Zeitpunkt, ab wann das Gesetz gelten sollte. Das war es schon zum Thema gesetzliche Grundlage des MfS. In der Bundesrepublik ist die gesetzliche Grundlage wesentlich weiter gefaßt. Es wird definiert, was die Dienste dürfen oder ihnen untersagt ist. Zudem wird gesellschaftlich leidenschaftlich darüber diskutiert, ob Wohnungen abgehorcht werden dürfen und wie weit das gehen darf. Es fand zu dieser Frage sogar eine parteiinterne Abstimmung statt. Das war so in der DDR nicht möglich. Ein weiteres unterscheidet beide Dienste und somit die inoffizielle Arbeit: In der DDR gab es zwar eine Kontrolle der politischen, aber nicht der operativen Arbeit. In der Bundesrepublik gab und gibt es die G-10-Kommission, Untersuchungsausschüsse und Datenschutzbeauftragte. Sicherlich läßt sich über die Reichweite dieser Kontrollmöglichkeiten diskutieren, aber Vergleichbares gab es in der DDR nicht. Zum Beispiel die jüngste 1.-Mai-Demonstration in Berlin, bei der sich ein Polizist offensichtlich verkleidet hatte, undercover also. Nun gibt es eine öffentliche Debatte über diesen Einsatz, und die Polizei ist aufgefordert, sich öffentlich und vor parlamentarischen Gremien zu erklären. Das hört sich zwar nicht nach viel an, bedeutet aber immerhin so viel, daß sich potentiell jeder Akteur innerhalb eines westlichen Dienstes darauf einstellen muß, daß u. U. die Ergebnisse seiner Arbeit öffentlich oder vor einer Kommission erörtert werden. Solch einer öffentlichen Auseinandersetzung, wie in einer Demokratie, mußte sich ein Führungsoffizier des MfS vor 1989 wahrlich nicht unterziehen.

Halten Sie es für denkbar, daß irgendwann einmal auch die Akten des jetzigen Dienstes so akribisch erforscht werden, wie Sie es derzeit mit den Akten des MfS tun?

Ja. Ich möchte auch darlegen, warum. Schon jetzt kann ja jeder seine Akte einsehen, wenn er einen entsprechenden Antrag gestellt und begründet hat. Zugegeben, man weiß dann immer noch nicht, ob das vorgelegte Material alles ist. Ich selbst habe mich auch dieser Übung unterzogen und muß sagen, ich bin mit dem Ergebnis unzufrieden. Zu ihrer Frage:
Ich glaube schon, daß sich westliche Nachrichtendienste, nachdem sie ein zentrales Zielproblem haben, darlegen sollten, wie erfolgreich sie waren oder wie sie sich vor der Gesellschaft heute legitimieren. Das klassische Feindbild funktioniert nicht mehr, und sie können nun erläutern, wie sie gearbeitet haben, wie weit sie informiert waren, welchen Nutzen sie brachten und bringen können. Dieser Diskussionsprozeß wird dazu führen, Aktenbestände der Forschung zur Verfügung zu stellen. Allerdings nicht mehr in diesem Jahrhundert.

Was haben Sie nach dieser Arbeit vor?

Diese Arbeit wird noch einige Zeit dauern. Der erste Arbeitsschritt zieht sich immerhin schon fünf Jahre hin, und ich fürchte, die nächsten Arbeitsschritte brauchen nochmals so viel Zeit. Bisher versuchte ich, das IM-Regelwerk für die IM-Arbeit in der DDR zu beschreiben, und werde nun im zweiten Band, der jetzt im November vorgelegt wird, das IM-Regelwerk der HVA für Agenten, Kundschafter und Spione im Operationsgebiet beschreiben und an Fallbeispielen erläutern. In diesem Zusammenhang bin ich sehr an Gesprächen mit Zeitzeugen interessiert; vielleicht fühlt sich der eine oder andere Leser des „Berliner LeseZeichen“ angesprochen.

Zum Schluß ganz kurz, am besten in einem Satz, wenn das geht, nach all dem, was Sie jetzt wissen und erfahren haben, was war die DDR?

Eine SED-Diktatur.


Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.):
Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit
Richtlinien und Durchführungsbestimmungen.
Ch. Links Verlag, Berlin 1996, 544 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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