Eine Annotation von Sabine Graßmann
Braun, Volker:
Die vier Werkzeugmacher
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 51 S.

Da sitzen sie nun, die vier Werkzeugmacher - die Brigade - im trostlosen heruntergekommenen Fabrikgelände Berlin-Schöneweide, beäugen die große Demo auf dem Alex am Fernseher. Sie haben sich eingerichtet, im wahrsten Sinne des Wortes, auf das System und in ihrer Werkstatt, ihr eigentliches Zuhause für den größten Teil des Tages. Sie sind schließlich als Arbeiter im Arbeiter-und-Bauern-Staat ohnehin Besitzer des Werkes und als Werzeugmacher die gefragtesten Leute, weil sie vom Mangelsyndrom im Land profitieren. Sie dürfen sich stolz Bestarbeiter, sogar Erfinder nennen - sie haben sozusagen Narrenfreiheit. Und auch die unerwartete Maueröffnung kann sie in ihrem Betriebsleben zunächst nicht verunsichern, sind sie doch die Macher, die man immer gebeten hat, Künstlern gleich, denen keine Norm gesetzt war.

Brigadier Matthes ahnt in seiner Einfalt, daß da irgend etwas geschehen sei, „was für alle einen Schritt fort bedeute“. Und der „Schritt fort“ ist in der Tat gewaltig, gewalttätig fast ... die gewichtigen Männer werden samt ihres Betriebes abgewickelt, „aufgehoben“, und sind schließlich arbeitslos. Nachdem ihr Werk treuhänderisch verwaltet wurde, sich ein potenter Käufer fand, finden sie sich zwar erneut eingestellt, doch als „Wichte“ wieder, denen nunmehr unumwunden bedeutet wird, daß sie ein Nichts sind. Als sie dann in ihrer Werkstatt stehen, können sie nichts Vertrautes wiederfinden. Die vormals von der Geschichte als „glimpflich“ behandelte Vier-Mann-Brigade ist ihrer Identität beraubt, ihres Selbstwertes. Mit den einstigen Machern wird gemacht ... Die Geschichte, so kam es ihnen vor, hatte verrückt gespielt. „Die Welt würde sich wundern und zu lachen haben für Jahrhunderte auf ihre Kosten ...“

Braun geht auf eine alte italienische Novelle zurück, in der dem dicken Holzschnitzer Manetto aus Florenz Kollegen einen Streich spielen, indem sie ihn glauben machen, er sei quasi über Nacht ein anderer geworden, worauf dieser fast den Verstand verliert.

Ein Gleichnis, das sich ... zigtausendmal für viele Ostdeutsche nach der Wende als Realität erwies.

Volker Braun, der Denker und Dichter, der Philosoph, der sich sowohl im Tiefbau als auch im Braunkohlenrevier auskennt, Jahrgang 39, geboren in Dresden, in Berlin lebend, hat nichts von seinem Biß, von seinem scharfen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse verloren.

Mit trockenem Humor beleuchtet er jüngste Geschichte, philosophiert wortgewandt über einen historischen Prozeß, der noch in vollem Gange ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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