Eine Annotation von Jutta Plaga
Gross, Johannes
Tacheles gesprochen
Notizbuch 1990-1995.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996, 301 S.

Die Sammlung aphoristischer Tagesnotizen aus dem F.A.Z-Magazin der Jahre 1990-1995 verleitet zum Verlaufen ohne irgendwo anzukommen. Deshalb trifft die Bemerkung Rüdiger Altmans auf dem Klappentext, „daß der rasche Eindruck erst im Nachdenken zur Wirklichkeit wird“, Sinn und Zweck dieses Lexikons von Gedanken täglicher Nachhaltigkeit auf den Punkt genau.

Man mag die Tendenz der Notizen von 1990 mit denen von 1995 vergleichen. Man mag mit der Philosphie des Autors von der Unteilbarkeit der individuellen Wahrheit einhergehen oder ihm eher in dem geistvollen Spott am Umgang der Deutschen mit der Wahrheit folgen, wonach diese wohl wüßten, daß in der Kürze die Würze liege -„aber sie lieben die Würze nicht sehr“. Und man kann auch, diesem intellektuellen Harmoniebedürfnis beim Fassen rational unerklärbarer Widersprüche folgend, zum Beispiel eine Perlenkette deutscher Politikbefindlichkeit fädeln: „Entscheiden tut weh.“ (einen Monat vor den DDR-Schicksalswahlen am 2. Februar 1990 - siehe Seite 11); „Deutsches Befinden: wunschlos unglücklich“ (ein Jahr später - siehe S. 76); Mitterrands enttäuschte Antwort auf die Frage nach der wichtigsten Politikereigenschaft im Jahre 1993: „Ich hätte gern gesagt - die Wahrhaftigkeit; in Wirklichkeit ist es die Gleichgültigkeit“ (S. 216); und last, not least die nicht erst seit dem 21. Oktober 1994, aber bis heute gültige „allgemeine“ Wahrheit: „Wir sitzen doch alle in einem Boot!“, ruft meist der, der mehr Platz darin haben will (S. 284).

Die deutsche Wiedervereinigung ein Klassiker? Aber ja doch, im Sinne jenes „Spruches“ Nr. 774 über Goethe (S. 217): man könne nicht zu ihm zurück, käme aber auch nicht darüber hinaus. Also wird die Gross'sche Sammlung noch manches mal im „Berliner Lesezeichen“ präsent sein - zumindest, wenn der Unterzeichner, der gegenwärtig im Luisenstädtischen Bildungsverein im Projekt „Vereinigungsliteratur“ tätig ist, Sachliteratur aus den letzten beiden Jahren beleuchtet. Dessen Maxime lautet nämlich: hoffnungsvoll illusionslos.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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