Eine Annotation von Horst Wagner
Dieckmann, Friedrich:
Wege durch Mitte. Stadterfahrungen
Berlin Verlag A. Spitz, Berlin 1995, 214 S.

Wer unter diesem Titel einen neuen feuilletonistischen Stadtführer erwartet, ärgert sich schon auf den ersten Seiten, daß die Wege-Empfehlungen so gar nicht up to date sind. Haben Autor oder Verlag die ganzen Straßenum- und Rückbenennungen gar nicht mitgekriegt? Spätestens beim Satz, der Arbeiter in diesem Lande „ist nicht nur angestellt, sondern fest angestellt, mit fast unbegrenztem Kündigungsschutz, und teilt diese Grundverfassung fast mit der ganzen Bevölkerung“ (S. 51) merkt der Leser, daß es sich bei Dieckmanns Stadterfahrungen um Historisches handelt. Der dem ganzen Buch den Titel gebende erste Beitrag Wege durch Mitte ist noch zu DDR-Zeiten, im Januar 1989, für die westdeutsche Zeitschrift „Merian“ geschrieben worden. Die sich anschließenden zwölf Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätze des (Ost-)Berliner Dramaturgen und Publizisten - hier erstmals in einem Sammelband vereinigt - stammen aus dem Jahren 1991 bis 1994. Vom lokalen Erlebnis ausgehend, verbinden sie aktuelles Geschehen mit politisch-historischer Betrachtung und persönlichen Wünschen und Vorschlägen. Dabei ist Dieckmanns Sicht auf DDR-Vergangenheit genauso ausgewogen kritisch wie auf real-kapitalistische Gegenwart. Spürbar ist sein Drang nach neuen originellen Formulierungen, an denen man sich reiben oder über die man einfach schmunzeln kann. So, wenn der Anschluß der DDR an die BRD als „Sozialkolonialismus“ beschrieben (S. 59) oder wenn Ulbricht als „bizarre Mischung aus einem sächsischen Vorarbeiter und einem wilhelmischen Professor“, Honecker hingegen als „konfliktscheuer, harmoniebedürftiger Saarländer“ bezeichnet wird. (S. 69) So sehr man Dieckmanns Vorschlag, das Holocaust-Denkmal im Scheunenviertel bzw. an der Großen Hamburger Straße zu errichten (S. 97/98), nachvollziehen kann, so schockiert ist man bei seinem Vorschlag, den Fernsehturm - koste es, was es wolle - abzureißen, weil er noch weniger als der Palast der Republik in die Berliner Mitte passe. (S. 102/103) Als geschichtsinteressierter Leser möchte man auch fragen, womit, um Gotteswillen, die Königin Luise als „falsche Ratgeberin ... ihr Land und sich selbst niedergeworfen“ hat (S. 40). Was im übrigen die Straßenumbenennungen betrifft: Ihnen ist ein besonderes Essay gewidmet, das sich gedankenreich mit Leben und Verdienst des sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und des kommunistischen Spanienkämpfers Hans Beimler beschäftigt. (S. 143-146)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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