Eine Annotation von Klaus M. Fiedler
Nothomb, Amélie:
Der Professor
Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 1996, 196 S.

Für das Ehepaar Hazel hat sich ein Traum erfüllt. Emile und Juliette werden ihren Lebensabend in einem glyzinienumrankten Häuschen auf dem Lande verbringen können; fernab jeglicher Zivilisation, in wohltuender Stille und Abgeschiedenheit. Einziger Nachbar ein Arzt, der unweit der Hazels gleichfalls in einem kleinen Häuschen wohnt. Und der erscheint dann auch eines Tages zu einem „Antrittsbesuch“, wie die Zugezogenen meinen. Etwas ganz Normales also. Nach zwei Stunden geht er wieder. Doch tags darauf ist er wieder da. Setzt sich wie selbstverständlich hin und nimmt die angebotene Tasse Kaffee an. Und er kommt wieder, Tag für Tag, Woche für Woche. Klopft an die Tür, öffnet sie auch selbst, setzt sich und trinkt. Zu Gesprächen ist er nicht aufgelegt. Er schweigt stur, bleibt exakt zwei Stunden und geht. In das Leben der Hazels ist mit ihm eine Bedrohung getreten, es verändert sich. Der Traum von Ruhe, von Beschaulichkeit, von schlaftiefen Nächten und naturverbundenem Tagewerk hat sich verflüchtigt. Es bleibt nur eine Lösung. Und für sie entscheidet sich Emile.

Die Belgierin Amélie Nothomb war noch nicht einmal 30 Jahre alt, als sie dieses Psychogramm eines älteren Ehepaares schrieb. Erstaunlich, wie gekonnt sie mit den Spannungselementen jongliert, wie sie es versteht, den Leser mehr und mehr hineinzuziehen in das gespenstische Fluidum dieser äußerlich so reinen, überschaubaren Welt der Hazels. Mit Der Professor, ihrem nach Die Reinheit des Mörders und Liebessabotage dritten Roman, weist Amélie Nothomb auf die Grenzen abendländischer Zivilisiertheit hin. Doktor Palamède Bernardin, der Störenfried, der Eindringling, die fleischgewordene Provokation, erschüttert das Gebäude aus uneingeschränkter Höflichkeit der Hazels bis in die Grundfesten. Emile, der ehemalige Lehrer und Altphilologe, muß erkennen, daß in ihm etwas Animalisches schlummert, und das wächst und wächst und durchbricht schließlich die Mauer von Anstand und Sitte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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