Eine Annotation von Klaus M. Fiedler
Leon, Donna:
Venezianische Scharade
Commissario Brunettis dritter Fall.
Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 1996, 384 S.

Ein wenig erinnert er an Maigret. Noch mehr aber an Martin Beck, diesen verschlossenen Kriminalisten aus der Feder des schwedischen Autorenduos Sjöwall/Wahlöö. Kein Hau-drauf-Typ also dieser Guido Brunetti, Commissario in Venedig und Hauptheld der Kriminalromane von Donna Leon. Ihn zeichnen Besonnenheit und Zurückhaltung aus; für spektakuläre Aktionen, Handgreiflichkeiten, bewaffnete Auseinandersetzungen hat er nur wenig übrig. Er ermittelt leise, liest Tacitus, liebt die italienische Küche und zum Abend nach einem glühendheißen Tag einen eisgekühlten Wodka. Den braucht er auch bei dem Fall, den Autorin Donna Leon in Venezianische Scharade beschreibt. Arbeiter haben in einem häßlichen Industriegelände den Leichnam eines Mannes in Frauenkleidern gefunden. Schnell ist das Urteil gefällt: ein ermordeter prostituto travestito, ein Transvestit, der seinen Körper verkauft. Doch Brunetti zweifelt. Und er beginnt, sich mit der Vergangenheit des Toten zu beschäftigen. Wer war der Mann? Kam er überhaupt aus der Transvestiten- und Prostitutionsszene? Welche Rolle spielt Giancarlo Santomauro, der angesehene Anwalt und Präsident der Lega della Moralità, jener allseits gelobten Organisation, die sich den Bedürftigen, den Wohnungssuchenden, den Witwen und Waisen widmet? Erstaunliches tritt zutage. Und der Commissario gerät mehr und mehr in einen Sumpf von Doppelmoral und bürgerlicher Scheinheiligkeit.

Mit Venezianische Scharadelegt die in New Jersey geborene Mittfünfzigerin nach Endstation Venedig und Venezianisches Finale ihr drittes Brunetti-Werk vor. Es ist wie seine Vorgänger logisch strukturiert und liest sich flott. Donna Leon skizziert vor allem ihren Haupthelden mit Akribie, lotet ihn auch psychologisch aus und läßt den Leser teilhaben an den Gedankenwanderungen dieses sympathischen Burschen. Guido Brunetti - das charismatische Bild eines Vertreters der mediterranen Lebensart. Seine Entscheidungen sind nachvollziehbare Ergebnisse solider Recherchen oder geistiger Vorarbeit. Weitere Brunetti-Fälle sind angekündigt. Man darf gespannt darauf sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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