Eine Rezension von Sabine Graßmann

„Es gibt Dinge, die muß man abhaken ...“

Helga Königsdorf: Die Entsorgung der Großmutter
Roman.
Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 120 S.

Herr Schrader hält sich aus. Der blasse, eher uninteressante Ingenieur für Sanitärtechnik hat eine gewisse Vorliebe für sich entwickelt, das macht ihn stark. Jedenfalls solange nichts Unvorhergesehenes geschieht. Gelegentlich, wenns niemand sieht, versetzt er dem Rauhaardackel Winston einen Tritt. Omas Hund.

Aber sonst scheint alles perfekt. Schraders bewohnen ein Einfamilienhaus in einer Vorstadtsiedlung. Der Garten gepflegt. Gepflegt wird auch gute Nachbarschaft. Und Herr Schrader ist geachtetes Mitglied im örtlichen Kirchenchor. Ergo, eine ganz und gar ordentliche deutsche Familie. Zu der Frau Schrader gehört, die, statt ihren Doktor zu machen, heiratete, zwei Kinder gebar und seitdem ihr Leben als pflichtbewußte Hausfrau fristet. Sohn Thomas, siebenundzwanzig, bereits etwas wunderlich, ist ein in Fachkreisen anerkannter Mathematiker, Tochter Franziska, auch schon volljährig, bereitet sich auf das Abitur vor. Ach ja, da war dann noch die Großmutter, die Schraders aufs peinlichste ins Gerede brachte, weil sie in ihrer zunehmenden Vergeßlichkeit nachts in den Parkanlagen umherirrte und von der Polizei mehrfach nach Hause gebracht werden mußte. Als sie noch halbwegs bei Verstand war, hatte sie ihrem Schwiegersohn - nicht der Tochter- das Haus vermacht, eine notariell beglaubigte Schenkung. Und das Haus „ mit einer fast frei schwebenden Treppe im Zentrum“ ist Herrn Schraders ein und alles. Doch das Haus gerät in Gefahr, staatlichem Zugriff anheimzufallen, da die Großmutter in ein Pflegeheim müßte, aber weder ihre Rente noch Schraders finanzielle Situation jene Kosten decken könnten.

An einem schönen Herbsttag verschwindet die Großmutter. Sowohl die Nachbarn als auch die ermittelnden Beamten zeigen Verständnis „Wie soll man denn auch einen erwachsenen Menschen, der nicht mehr ganz bei Troste ist, ununterbrochen familiär observieren. Wenn er den Drang zum Weglaufen hat, irgendwann gelingt es ihm.“

Mit distanzierter Ironie beschreibt Helga Königsdorf in ihrem neuen Roman am Schicksal der Familie Schrader, wie in einer vom Sozialabbau bedrohten Gesellschaft menschliche Beziehungen allmählich verkommen.

Daß in der kleinbürgerlich-spießigen Familie schon lange nichts mehr stimmt, offenbart sich dem Leser nach und nach, auch, daß die Oma nicht aus eigenem Triebe verschwand.

An einem Herbsttag wird Herrn Schrader gekündigt, der Betrieb für Sanitäranlagenbau, bei dem er mehr als dreißig Jahre beschäftigt war, ist zahlungsunfähig, verursacht durch die schlechte Zahlungsmoral der Kunden.

„Dieses Ereignis hatte Herrn Schraders Vertrauen in die Vernünftigkeit der Welt erschüttert.“ Nach mehreren Absagen auf seine Bewerbungen, er gerät schon in Panik, verhilft eine Chorsängerin ihm zu neuer Arbeit. Er wird Verkäufer in einem Fachgeschäft für Sanitäranlagen, mit Kollegen, die mobben, und einem Chef, der ihn demütigt. Doch einen weiteren sozialen Abstieg wird er nicht hinnehmen. „Denn jetzt entscheidet sich, ob jemand in Zukunft oben oder unten hingehört. Und unten kann in Zukunft furchtbar unten sein.“

An einem schönen Herbsttag, so die zweite Ebene des Romans, füttert eine dicke Frau in einer weit entfernten Großstadt an bestimmten Plätzen herumstreunende Katzen. Um sich und die dreizehn Katzen in ihrer Wohnung durchzubringen, geht sie einer geregelten Arbeit nach. Folgt aber im Archiv, in dem sie arbeitet, gelegentlich ihrer eigenen Moral - was geht die Nachwelt der intime Briefwechsel eines berühmten Dichters an -, die Dokumente, angeblich „Schlüsselbriefe“, wandern in die Toilette, als Schnipsel gewissenhaft weggespült. Herrlich anarchisch.

Ihr ist im Leben übel mitgespielt worden. „Seit sie die Katzen hat, geht es ihr besser. Sie braucht die Menschen nicht mehr.“ Im Gespräch mit zwei Katzenfreundinnen, „Die Menschen kannst du vergessen“, sagt die eine, kommen sie überein, daß man die meisten Menschen, wenn schon nicht einschläfern, dann wenigstens kastrieren müßte. „Das besorgen die selber“, meint die andere.

An einem Herbsttag macht eine herumstreunende, völlig verwahrloste Alte den Katzen das Futter streitig. Die Katzenfütterin, vor die Wahl gestellt, der Obdachlosen zu helfen, doch dabei ihre heimliche Fütterstelle preiszugeben, entscheidet sich letztlich für das Wohl ihrer Katzen.

Nein, Weltuntergangsstimmung wird hier nicht verbreitet, sondern sachliche Bestandsaufnahme des Gegenwärtigen. Und die Autorin läßt ihre Romanfiguren eintauchen in eine Mischung aus Anpassung und individuellem Aufbegehren, Resignation und spontanem Ausbruch.

Weihnachten bei Schraders. Die Lichterkette an der Blautanne im Vorgarten erstrahlt - für die Nachbarn. Vater Schrader bringt bei Klößen und Gänsebraten einen Toast auf die dummerweise verschollene Oma aus.

Sohn und Tochter machen sich ihre eigenen Gedanken, ist die Großmutter tatsächlich in einem Heim, besuchen könne man sie allerdings nicht, sie würde ohnehin niemanden mehr erkennen, sagten die Eltern an jenem Herbsttag - oder wurde sie von den Eltern um die Ecke gebracht... Thomas, der in mathematischen Kategorien denkt, wichtet zwischen logischen Systemen und Menschen innewohnender Unlogik. Obwohl er seinen Eltern nichts Böses zutraut, möglich wäre alles.

Als die Schwester ihm gewisse Befürchtungen bezüglich der Eltern und der Großmutter anvertraut, entgegnet er lakonisch, daß es Dinge gäbe, die man abhaken muß.

In jenen Weihnachtstagen löst Sohn Thomas ein mathematisches Problem, an dem sich viele vor ihm vergeblich versuchten. Eine Sensation, die ihm Weltruhm einbringen wird. Doch die Schwester, mit der er von Zimmer zu Zimmer nur per Computer kommuniziert, erinnert ihn an die entschwundene Großmutter - ein gefundenes Fressen für sensationslüsterne Reporter...

Der Leser ahnt, daß sich eine Katastrophe anbahnt, die Ereignisse überstürzen sich förmlich, Sohn Thomas erleidet einen Nervenzusammenbruch, Tochter Franziska verläßt Elternhaus und Schule, Frau Schrader reicht die Scheidung ein.

In der weit entfernten Großstadt hat die Stadtreinigung für Ordnung gesorgt, selbst die letzte heimliche Katzenfütterstelle existiert nicht mehr, auch nicht die greise Obdachlose, die dort mit den Katzen hauste.

Als das neue Jahr beginnt, gibt es auch keine Familie Schrader mehr, nur vier einzelne Menschen, die lediglich einen Namen gemeinsam haben. Herrn Schrader wollen Nachbarn heruntergekommen und angetrunken in der Bahnhofsszene gesehen haben.

Ich habe selten einen Roman - spannend bis zur letzten Seite -, der eine völlig unvergnügliche Geschichte erzählt, mit soviel schauderndem Vergnügen gelesen. Es hat mir kalte Schauer über den Rücken gejagt. Science-fiction?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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