Eine Rezension von Helmut Walther

Die Farm am Turtle Creek

Gail Anderson-Dargatz: Von Blitzen, Tod und Buttercookies
Roman. Ins Deutsche übertragen von Fred Schmitz.
Ullstein, Berlin 1997, 448 S.

Spätestens seit Johannes Mario Simmel wird Belletristik zuweilen mit Koch- und Backrezepten geliefert, die beim geistigen Vergnügen auch den Körper nicht zu kurz kommen lassen, eine Einladung zum literarischen Festmahl sozusagen. Wenn nun zu den Rezepten für Speisen und Kuchen auch noch andere Haushaltstips, Ratschläge für den Garten und die Viehzucht bis hin zu einem Behandlungsvorschlag für vom Blitz Getroffene hinzutreten, dann wird ein Buch zur Lebenshilfe schlechthin.

Die fünfzehnjährige Farmerstochter Beth Weeks findet all diese Weisheiten im Merkbuch ihrer Mutter, die diese zur Zeit der großen Wirtschaftskrise und nun während des zweiten Weltkriegs zusammengetragen hat und wie ein Geheimnis hütet. Die Farm der Weeks' liegt am „Schildkrötenflüßchen“ nahe der kleinen Stadt Promise in der kanadischen Provinz British Columbia. Beth ist von kleinauf an das harte, arbeitsreiche Leben in der Landwirtschaft gewöhnt. Dabei kann die Arbeit auf der Weeks-Farm unter mehreren Personen verteilt werden; außer den Eltern und dem Bruder sind zwei Landarbeiter indianischer Herkunft - Dennis und der ewig fluchende, alles verwünschende Schiet-Billy - auf der Farm beschäftigt. Ringsum haben sich die Männer schon zur Armee gemeldet, und man sieht mit Neid und Mißgunst auf die mit Arbeitskräften gutbesetzte Farm.

Beth' Vater ist ein Sonderling; wohl hervorgerufen von einer schweren Kopfverletzung aus dem ersten Weltkrieg, die ihm immer wieder Beschwerden macht, ist er streitsüchtig, jähzornig, krankhaft eigensinnig, noch dazu eifersüchtig. Als er einen angesehenen Bürger aus Promise verprügelt und mit seinem Nachbarn einen kleinlichen Streit um einen Grenzzaun beginnt, gerät er - natürlich mit seiner Familie - immer mehr ins Abseits. Beth' Mutter, eine lebenstüchtige Frau - wie ihr Merkbuch beweist -, erträgt diesen Zustand zumeist klaglos, obwohl sie darunter leidet, daß kaum noch jemand mit der Familie Kontakt halten will. Eine Ausnahme hierbei macht ihre Freundin, die „vertraglich geschützte Indianerin“ Bertha aus dem nahe gelegenen Reservat, die „mit Töchtern und Töchtern der Töchter“ öfters zu Besuch kommt, was in Promise nicht gern gesehen wird.

Durch diesen Kontakt mit den Indianern eröffnet sich für Beth eine Welt von eigentümlichem Reiz. Zwar leben die Indianer im Reservat in ärmlichsten Verhältnissen, aber ihre Sensibilität, ihre enge Verbindung zur Natur, ihr gelassener Umgang mit bösen Geistern und dem Tod vermitteln Beth letzte Eindrücke vom Reichtum einer vergangenen Kultur.

Der Vater zündet die Scheune des verhaßten Nachbarn an und wird daraufhin in eine Nervenheilanstalt gebracht. Nun nimmt die Mutter die Zügel fest in die Hand, versucht sich mit ehemaligen Freunden und Bekannten in Promise zu versöhnen, läßt die abgebrannte Scheune des Nachbarn wieder aufbauen und pachtet von ihm das umstrittene Stück Land am Zaun. Als der Vater Monate später zurückkehrt, muß er sich dem neuen - allerdings fürsorglichen - Regiment fügen. Beth ist unterdessen sechzehn geworden.

Dieses eine Jahr im Leben der Beth Weeks ist so ereignisreich und prägend für sie gewesen wie keines zuvor. Sie mußte feststellen, wie schnell man ohne eigenes Verschulden zur Außenseiterin wird, die Schulkameraden wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, ein Mitschüler versuchte sie zu vergewaltigen, ein junger Mann machte ihr ein unzweideutiges Angebot, was er sonst nie gewagt hätte. Der Vater tat ihr Gewalt an. Doch auch das konnte sie nicht zerbrechen, nach und nach verstand sie es, sich zu wehren. Sie befreundete sich mit Nora, einem Mädchen aus dem Reservat, und es entstand eine erste zarte Liebe zu Billy, der nun gar nicht mehr flucht.

Beeindruckend im Roman die Landschaft während der verschiedenen Jahreszeiten, die enge und notwendige Verflechtung des Menschen mit der Natur, das Leben auf der Farm. Beth versorgt mit Hingabe, aber ohne Sentimentalität das Vieh, sie jagt Kojoten, die die Lämmer töten wollen, sie versucht vergeblich, die neugeborenen Katzen zu retten, die der Vater ersäufen möchte. Unvergeßlich das Bild: Ein heftiger Sturm hat auf dem weiten Flachsfeld die Blüten abgerissen, die nun wie ein blauer, duftender Schnee über Haus und Garten liegen. Das Staunen darüber ist bei den Farmern natürlich sogleich vermischt mit der Sorge angesichts der verlorenen Ernte; denn selten nur hat man das Gefühl der Dorfromantik. Die Männer ziehen in den Krieg, auch Beth' Bruder hat sich noch gemeldet. Der Zusammenhalt der Bewohner ist gefährdet, und mit den Indianern will man schon gar nichts zu tun haben. Es gibt Verdächtigungen, wer ein Mädchen getötet haben könnte, denn der bald darauf erlegte Grizzlybär ist es anscheinend nicht gewesen. Und aus dem Reservat sind mehrere kleine Kinder verschwunden...

Die junge kanadische Schriftstellerin Gail Anderson-Dargatz hat ein Stück ursprünglicher Literatur vorgelegt, das einen sogleich einbezieht in das Leben ihrer Figuren. Das ist kein Text mit bemüht philosophischem Tiefgang, aber wenn man den Band gelesen hat, gewinnt man den Eindruck, mehr über das Wesen des Menschen erfahren zu haben, als wenn man ein tiefsinniges Traktat rezipiert hätte. In seiner erzählerischen Dichte und poetischen Erzählweise ist der Roman ein bemerkenswertes Debüt.

Auf den letzten drei Seiten gibt es ein „Verzeichnis der Rezepte und Arzneien“, so kann man sie alle noch mal nachschlagen, die klugen Ratschläge vom Gebäck „Äpfel in Vogelnestern“ bis hin zum „Weihnachtseintopf“. In einer kurzen Vorbemerkung schreibt die Autorin, daß sie all diese „inspirierenden“ Hinweise von ihrer Großmutter habe, die den „First Nations Canadians and Pioneer Women“ angehört - eine echte Pionierleistung also.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite