Eine Rezension von Rainer Jahn

Ein populäres Kriminal-Brevier

Wolfgang Schüler: Verbrechen im Netz
Fälle - Fakten - Fahnder.
Militzke Verlag, Leipzig 1997, 240 S.

„Mit großer Spannung schildert Wolfgang Schüler die spektakulären Kriminalfälle Dr. Crippens, Al Capones, Jack the Rippers und des Massenmörders Kürten. Begeistert folgt er den Spuren berühmter Detektive...“ Dieser Klappentext des Verlags weckt falsche Erwartungen. Spannung und Begeisterung ist eben des Autors Sache nicht, er äußert sich journalistisch korrekt, oft aber auch trocken und dozierend, und die genannten großen Kriminalfälle (bis auf Al Capone, auf den er überhaupt nicht eingeht) firmieren eher am Rande, werden nur kurz und sachlich referiert. Nein, wenn es eine durchgehende Linie in diesem Kriminal-Brevier gibt, das auf alles Unrechtmäßige eingehen will, das von der Urzeit bis zur Gegenwart aufgetaucht ist, von Kain und Abel sozusagen bis zum Betrug in Reparaturwerkstätten (und das natürlich gar nicht bewältigen kann), dann ist es die Geschichte der Verbrechensbekämpfung. Dabei freilich hat Schüler den Blick auf nur wenige Länder gerichtet - Deutschland, England, Frankreich, USA -, obwohl gerade die historische Entwicklung z. B. in China sehr interessant ist.

Immerhin erfahren wir einiges über die Entstehung von Ordnungs- und Polizeiorganen sowie Rechtsprechung, und wir werden informiert über die Organisationsstrukturen, Unterstellungsverhältnisse und Arbeitsweise der Kriminalisten in den genannten Ländern. Ein absoluter Schwerpunkt ist die Entwicklung von Techniken der Verbrechensaufklärung, und hier wird der Autor ziemlich systematisch und ausführlich. Vom Gottesurteil und der Foltertortur führt er den Leser zu den modernen Methoden, deren sich heute Sureté, Scotland Yard, FBI und natürlich auch unsere Kripo bedienen, und mitunter erwähnt er auch, wer sie bei welcher Gelegenheit erfunden oder eingeführt hat: Steckbrief, Körpermeßverfahren, Daktyloskopie, forensische Wissenschaften (Gerichtsmedizin, Psychologie, Biologie, Chemie). Der Autor erläutert, wie mehr und mehr Wissenschaft und Technik in den Dienst der Ermittlungen gestellt wurden, wie Reagenzglas und Mikroskop, Infrarotfotografie und spektralanalytische Verfahren zu Hilfsmitteln der Kommissare und Detektive avancierten. Daß er den Lügendetektor als unwissenschaftlich ablehnt und als Rückfall in die Inquisition qualifiziert, verdient Beifall.

Dieser Teil wird mit Beispielen unspektakulärer Fälle recht anschaulich gemacht, aber angesichts der Flut von Kriminalromanen, Kriminalfilmen und Tatort/Polizeiruf-Spektakeln im TV ist dem Leser bei der Erläuterung der Methoden doch kaum noch Neues zu vermitteln. Nur die Historie bietet noch Fakten, die über das vorauszusetzende Allgemeinwissen hinausgehen. Die Biographie von Alphonse Bertillon, der um 1880 das Körpermeßverfahren zur Ermittlung von Gesetzesbrechern einführte, oder die Geschichte der Durchsetzung der Daktyloskopie sind in diesem Sinne interessant. Wer weiß denn schon, daß William J. Herschel bereits 1877 den Vorschlag unterbreitete, Personen anhand von Fingerabdrücken zu identifizieren, daß es aber noch des Einsatzes von Wissenschaftlern und Fanatikern wie Francis Galton, Juan Vucetich und Edward Henry bedurfte, bis der Fingerabdruck ab 1901 endlich als Ermittlungsmethode zugelassen wurde?

Überhaupt ist das Blättern in der Kriminalgeschichte ergiebig. Warum wurde das Leben von François Vidocq (1775-1857) noch nicht verfilmt, fragt man sich. Vidocq war ein abgefeimter Verbrecher, galt als König der Ausbrecher und wurde doch 1809 vom Polizeiminister Joseph Fouché in den Dienst der Polizei gestellt. Anfangs als Spitzel benutzt, brachte er es bis zum Chef der Sureté mit einem Jahresgehalt von 6000 Talern, sein Erfolg war enorm. Nach seiner Entlassung gründete er das erste private Detektivbüro der Welt und arbeitete gewinnträchtig für Privatleute und Geschäftsmänner. Eine ähnliche Karriere machte um 1850 in Amerika Allan Pinkerton: Vom armseligen Böttchermeister brachte er es zum Chef einer Detektiv-Agentur mit mehreren hundert Mitarbeitern, der 1861 den Schutz von Präsident Abraham Lincoln übernahm.

An solchen Stellen liest man das Buch mit Vergnügen und Gewinn, vor allem, wenn sich Vergleiche mit der Gegenwart aufdrängen. Von der „Pulvertruhe“ (um 1600) lassen sich Verlängerungslinien bis zur heutigen Briefbombe ziehen, und die Parallelen zwischen den Präsidentenmorden an Lincoln und an Kennedy sind verblüffend. Leider schleicht sich immer wieder ein lehrhafter Ton ein. Wenn der Autor erklärt, wie die Bezeichnung „Scotland Yard“ entstanden ist (das Hauptquartier der Londoner Polizei grenzte an den Schottischen Königshof, in dem die schottischen Könige abstiegen, wenn sie nach London kamen), so ist das in Ordnung. Aber wenn er bei der Erwähnung eines Bankeinbruchs zu einem Exkurs über den Begriff „Bank“ anhebt (= leitet sich von den Bänken her, auf denen die mittelalterlichen Geldwechsler ihre Münzen türmten; eine der ersten öffentlichen Banken 1587 in Venedig; ähnliche Geldinstitute bald darauf in Italien, Deutschland, Holland), so ist das belastend.

Wolfgang Schüler sei Rechtsanwalt, Bürgermeister, Werbetexter, Journalist und Schriftsteller, teilt der Verlag mit. Als passionierter Krimileser und -schreiber habe er sich selbst ein Studium der Kriminalistik verordnet. Nun, eine „Geschichte der Kriminalistik“ im Sinne eines wissenschaftliche Kriterien erfüllenden Lehrbuches ist so nicht entstanden, dazu ist der Band nicht gründlich und umfassend genug, dazu ist er zu lückenhaft und sporadisch in der Auswahl. Ob er andererseits unterhaltsam und vergnüglich genug ist, eine breite Leserschaft zu gewinnen, ob er deren Bedürfnis nach Information und Aufklärung hinreichend bedient, wird der Absatz erweisen.

Das Buch wird durch interessantes Fotomaterial (71 Abbildungen) bereichert. Die Freude daran wird leider durch miserable Wiedergabe geschmälert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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