Eine Rezension von Gudrun Schmidt

Durchs Schlüsselloch in die DDR geschaut

Peter Hoff: Das große Buch zum Polizeiruf 110
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1996, 256 S., zahlr. Fotos und Statistiken

„Nein, ich mochte sie damals nicht, diese ostdeutsche Kriminalreihe mit der Telefonnummer im Titel! Ich war einfach andere Krimis gewöhnt. Hitchcocks Leichen waren schöner“, bekennt Peter Hoff provokativ auf der ersten Seite und begibt sich damit zunächst lustvoll in Widerspruch zu der großen Fan-Gemeinde. Diese Reihe war zu DDR-Zeiten ein Straßenfeger. Familien richteten ihre Wochenendausflüge so ein, um rechtzeitig sonntagabends wieder im heimischen Wohnzimmer zu sein, wenn das bekannte Signal Hauptmann Fuchs und seine Leute zum Einsatz rief. Und das Buch hält - trotz Hoffs Einwand -, was der Klappentext verspricht: „Mordsspaß und -spannung“ über den „DDR-Alltag im Lichte seiner Verbrechen“.

Die waren mit historischem Abstand und bei Lichte besehen weniger dunkel und spektakulär als die Mordgeschichten, die heute über den Bildschirm flimmern. Statt Zwölfgängemenü, konstatiert der Autor, „rührten die ostdeutschen Fernsehköche meist nur einen Eintopf zusammen. Und immer fehlte die Petersilie auf der Suppe, mochte diese sozialpädagogisch auch noch so nahrhaft sein.“ Wozu auch in eine Bank einbrechen? Für DDR-Mark gabs begehrte Mangelwaren wie Fliesen oder Autoersatzteile ohnehin selten zu kaufen. Auch Ehescheidungen ließen sich einfacher als durch einen Mord lösen. Existenzieller war da schon der Diebstahl eines Trabi oder Lada. Es gehört zu den Pikanterien der deutsch-deutschen Vereinigung, daß ausgerechnet dieser „Stützpfeiler“ des Adlershofer Programms die Wende überlebte, und während sich einst Altbundis bei Einreisen in die DDR von Vopos schikaniert fühlten, wächst jetzt auch von Sylt bis zum Tegernsee die Fan-Gemeinde, die mit den Genossen von der „K“ auf Verbrecherjagd geht.

Glück für den Leser, daß sich Hoff einen radikalen „Selbstversuch - 250 Stunden ‚110‘“ zugemutet hat. Er ist gut ausgegangen, und wir können uns über ein kluges und gewitztes Buch freuen. Wie so oft im Leben gewinnen die Dinge erst dann ihren Wert, wenn man sie nicht mehr besitzt. Aber nicht nostalgische Verklärung oder dem Zeitgeist geschuldet ist's, wenn Medienwissenschaftler Hoff den „110er“ jetzt mag. Es ist „ein Blick durchs Schlüsselloch mitten hinein in das intime Leben der DDR“.

Feuilletonistisch erzählt der Autor, bestens vertraut mit Adlershofer Fernsehgeschichte und -geschichten, übers Krimimachen und über Krimimacher, über Highlights und Flops, über Verhinderungen und Aufbrechen von Tabus, über Schauspieler und Regisseure, über Täter und Opfer, letztere in der DDR-Sprachregelung „Geschädigte“ genannt. Er erinnert an die Fernsehanfänge dieses Genres mit Kauls „Pitaval“ über klassische Justizskandale und die vorwiegend dokumentarische „Blaulicht“-Reihe ebenso wie an die Schwierigkeiten, überhaupt den Fernsehkrimi gesellschaftsfähig zu machen. Unterhaltung und Vergnügen galten lange als entbehrliche Nebenwirkung der Kunst. Reizvoll auch der Vergleich mit den Ganovenjägern vom Revier auf der „Gegenseite“. Während Schimanski & Co nach rasanten Verfolgungsjagden sich schon mal ein Bier gönnten oder nach der Zigarette griffen, waren Hauptmann Fuchs, der „Maigret im Klassenauftrag“, und Oberleutnant Hübner reine Musterknaben. Dienst ist Dienst. Und die Genossen vom Innenministerium achteten streng auf die Einhaltung der Dienstvorschriften.

Unfreiwillig komisch ist's, daß ausgerechnet jener Mann, dessen ewiges Jugendbildnis die polizeilichen Amtsstuben schmückte, zu den Geburtshelfern des Polizeirufs gehörte. Honecker rannte mit seiner Forderung auf dem VIII. Parteitag nach mehr „Spannung“ und „Unterhaltung“ im Staatsfernsehen offene Türen ein. Günstig die Stunde auch für neue Sendungen wie „Außenseiter - Spitzenreiter“ und „Ein Kessel Buntes“. Für eine kurze Zeit schien nahezu alles möglich zu sein. Zeitweilig, so resümiert Hoff, kam der Polizeiruf dem Ziel, „endlich die immer wieder aufgeschobene Auseinandersetzung um die innere Widersprüchlichkeit der Gesellschaft aufzunehmen, sehr nah ...“. Das war an jenem Punkt, „an dem diese Widersprüche zur Verletzung gesellschaftlicher Normen und Gesetzlichkeit eskalierten“. Interessant ist auch Hoffs Analyse, welchen sozialen Gruppen kriminelle Handlungen zugetraut wurden. Besonders anfällig erwiesen sich Freiberufler, fahrendes Volk, Gastronomen.

Der DDR-Leser und Fernsehzuschauer, geübt, zwischen den Druck- und Bildzeilen zu lesen, findet hier Probleme und Konflikte gestaltet, die sonst unter der Decke gehalten wurden. Das gefiel offenbar den Zuschauern am 110er. Die Kriminalstories erzählten Alltagsgeschichten - vom Antiquitätenschmuggel, über Diebstahl und Devisenvergehen bis zum Raub und Totschlag. Einen Mord mit einer schönen Leiche à la Hitchcock gab's in der Tat selten. In den achtziger Jahren, als die DDR zunehmend in Agonie versank, wurde die Krimireihe zum letzten Refugium für Gegenwartsdramatik. Vor allem junge Autoren und Regisseure versuchten gesellschaftskritische Ideen, im Schutz einer Krimistory, unter die Leute zu bringen.

Als das „große“ Buch zum Polizeiruf preist der Verlag die Ausgabe. Sei's drum, worauf sich groß bezieht. Ein gutes, ein wichtiges Buch ist es auf alle Fälle. Wer wissen will, wie's war in der „ollen DDR“, kann hier eine Menge erfahren. Informativ auch ein Anhang mit Beschreibungen aller Folgen, Auszügen aus der Kriminalstatistik, Kurzporträts der Darsteller, Literaturhinweisen. Schade, daß für die Fotos nur Briefmarkenformat blieb. Manche erinnern eher an eine Fahndungskartei. Das haben die Darsteller wirklich nicht verdient. Nicht zuletzt verdankt der Polizeiruf seine Wirkung auch den exzellenten Darstellern.

Übrigens, Sie ahnen es vielleicht schon, den neuen, aufgepeppten, Nach-Wende-Polizeiruf mit neuen Kriminellen und Kriminalen, anderen Konflikten, neuen Tätern und Opfern, kann Hoff wieder nichts abgewinnen. „Sorry ... Nein, ich mag ihn nicht...“ Gesamtdeutsch geblieben ist „die Enthaltsamkeit jenen gesellschaftlichen Problemen gegenüber, die eigentlich Ursachen der Kriminalität sind.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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