Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Solche Pleite macht keiner allein

Marc Frey: Die Akte Schneider
R. Piper, München 1996, S. 396

Bei anhaltendem geschäftlichem Mißerfolg kommt jeder Unternehmer früher oder später in die finale Schwierigkeit: Er wird zahlungsunfähig und geht in Konkurs, sofern die Schulden seine Aktiva deutlich überschreiten. Dieses gerichtliche Verfahren, das in ostdeutschen Landen noch Gesamtvollstreckung heißt, hat seinen Namen vom lateinischen Verb concurrere, zusammenlaufen. Das tun nämlich die Gläubiger, um zu retten, was für sie noch zu retten ist. Als erste dürfen sich die Banken bedienen, die dem Pleitemacher Kredit gegeben haben. Geht ein kleiner Krauter zu Boden, stirbt er für sich allein, geschäftlich, manchmal auch physisch. Er hinterläßt arbeitslose Arbeitnehmer und ein paar Schulden, fünf- oder sechsstellig, die von der Bank - so denn nichts zu retten ist - mühelos weggesteckt werden. Eine große Pleite mit Hunderten Millionen Mark berührt in der Regel viele Existenzen und findet daher öffentliches Interesse. Geht es um Milliarden, die einer allein schuldet, wirds ein Medienereignis erster Klasse.

Das Buch von Marc Frey reflektiert die Aufmerksamkeit und den Rummel, die ab April 1994 mehr als ein Jahr lang dem Bauunternehmer Jürgen Schneider galten, dem bisher größten deutschen Pleitier. Der hatte sich spurlos außer Landes begeben, weil er Kredite über rund fünf Milliarden Mark nicht mehr bedienen konnte. Das Buch lebt zu einem wesentlichen Teil von Berichten in Zeitschriften und Zeitungen über den spektakulären Fall, der auch international Schlagzeilen machte, ist aber keineswegs als Kompilatorik einzustufen. Vielmehr wird hier - in seriöser Recherche und mit sauberen Quellenangaben - eine Akte Schneider zusammengestellt, die drei besonders bemerkenswerte Aussagekomplexe enthält und dadurch zu einem Zeitdokument wird. Sie zeigt, was in der Bundesrepublik von heute möglich ist, und sie läßt ahnen, was künftig möglich werden könnte, wenn mehr solche großen Schneiders ins Kraut schießen.

Erstens weist Frey allgemeinverständlich nach, mit welchen im Grunde simplen, bauernfängerischen Praktiken der Herr Dr. Schneider ein phänomenales Kreditvolumen zustande brachte. Zum Beispiel: Eine Schneidersche Strohfirma bestätigte für eine zu bauende oder zu renovierende Schneidersche Immobilie, etwa ein Geschäftshaus, überhöhte Mieten, die nie zu erzielen waren, und berechnete diese Traummieten nach überhöhten Flächen sowie manipulierten Mietverträgen. Auf dieser betrügerischen Grundlage konnte die Schneider AG, die faktisch aus Jürgen Schneider bestand, Bankkredite erhalten, mit denen neue Bauten und Immobilienkäufe finanziert wurden, deren durch firmeninterne Scheinverkäufe hochgetriebenen Preise wiederum den Banken als Grundlage für neue Kredite dienten. So konnte Schneider ständig mehr ausgeben als er einnahm - eine besondere Art von Perpetuum mobile, das jahrelang funktionierte.

Zweitens wird die Beteiligung einer relativ großen, allerdings noch nicht genau zu beziffernden Zahl von Personen an den Kreditbetrügereien schlüssig belegt. „Geschäftsführer dieser Firmen wurden in aller Regel Vertraute Schneiders, nicht selten Rechtsanwälte, die als Strohmänner dienten und ihre Rolle nach außen hin zu spielen hatten. Tatsächlich aber fielen die Entscheidungen in Königstein“, in Schneiders Residenz. Ein Blick auf eine besondere Art von Mafia tut sich auf.

Drittens und nicht zuletzt zeichnet der Autor ein wenig schmeichelhaftes Bild der Banken, insbesondere der Deutschen Bank (DB), das den eindeutigen Titel „Die Mitschuldigen“ verdient. Auf Schneiders plumpe Tricks sind 55 Kreditinstitute reingefallen, wie der Autor feststellt. „Niemals zuvor haben Banken in Deutschland einem Privatmann eine derartig hohe Summe geborgt“ - 5,3 Milliarden Mark. Bankenprimus DB, mit 1,2 Milliarden Mark Schneiders größter Kreditgeber, übte in einem internen Revisionsbericht blamable Selbstkritik: „Insgesamt gesehen kann die Engagementsführung (bei der DB) nur mit den Attributen ‚unprofessionell, gutgläubig, kritiklos‘ bedacht werden.“ Zuvor hatte übrigens der DB-Vorsteher, Hilmar Kopper, das Unwort des Jahres geprägt, die unbezahlten Rechnungen der Bauhandwerker seien peanuts im Vergleich zu den Außenständen der Banken.

Beantwortet wird auch die Frage, wieso speziell die Deutsche Bank durch die Schneider-Pleite nicht in die Knie gegangen ist: Verluste wurden von der DB steuermindernd geltend gemacht. Dies, so wollen wir hinzufügen, führte zu Mindereinnahmen im Bundeshaushalt, und die gingen zu Lasten aller anderen Steuerzahler. Frei nach Tucholsky könnte man sagen: Wir löffeln es aus, die brocken es ein - wer möchte da nicht ein Deutschbanker sein. Für das Jahr, in dem Großkunde Schneider sich absetzte, weist die DB einen Gewinn nach Steuern von 2,1 Milliarden Mark aus, nachdem sie 1,4 Milliarden Mark Steuern abgeführt hatte - 400 Millionen Mark weniger als im Vorjahr bei einem Reingewinn von „nur“ 1,7 Milliarden Mark. Die DB ist zu groß, als daß der größte Pleitier sie in den Ruin treiben könnte.

„Merkt ihr nischt?“ hätten sich die Geldgeber (wiederum mit Tucholsky) rechtzeitig fragen können. Die Bundesbank hatte in ihren Evidenzlisten das Anwachsen der Schneiderschen Schulden schon zeitig erkennen lassen. Aber die Privatbanker glaubten, Schneider „bringe ihnen das ganz große Geld ins Haus. Da wollten sie auf alle Fälle dabeisein“, schlußfolgert der Autor. Denn je höher der Kredit, desto größer die Summe der Zinsen. Mit solchen Hinweisen und vielen Fakten vermittelt Frey diesen Schluß: Beide Seiten, der Baumensch und die Bankmenschen, konnten den Hals nicht vollkriegen. Und der gestandene Journalist stellt eine naheliegende rhetorische Frage: „Kann man sich das vorstellen? Das größte Geldhaus der Republik wirft einer auf Sand gebauten Unternehmensgruppe die Millionen nur so in den Rachen, während sich der kleine Häuslebauer für vergleichsweise läppische Summen bis aufs Unterhemd ausziehen, gleichsam wie ein Bittsteller um einen Kredit nachsuchen muß. Man kann!“

Auf eine Schuldposition weist der Autor allerdings nicht hin: Gesetzgeber und Regierende, vom Bund bis zu den Städten, haben nichts getan, um Spekulanten wie Schneider wenigstens Grenzen zu setzen, besser noch einen Riegel vorzuschieben. Der „Baulöwe“, von Medien und Politikern hochgelobt, konnte widerstandslos in Frankfurt am Main 24 und in Leipzig 41 große innerstädtische Immobilien an sich bringen. So wirkt die Feststellung, „Leipzig ohne Schneider wäre nicht Leipzig, wie es sich dem Besucher heute präsentiert“, mehr als peinlich. Muß erst ein größenwahnsinniger Unternehmer mit dubiosesten Praktiken kommen, um eine Stadt aufzupolieren? Frey, der sich im ersten Teil des Buches vom Emporkömmling Schneider beeindruckt zeigt, läßt im zweiten Teil - nach Flucht und Verhaftung in den USA - den kritischen Blick auf dessen vollends entgleiste Persönlichkeit vermissen, zitiert nur, statt im Klartext zu analysieren. Schneider in Miami gegenüber einer Zeitschrift: „Die Medien, meine Größe“ und „der Zeitgeist gegen die Banken sind meine Waffen“. Man merkt, daß der Autor jeden Anschein von Vorverurteilung vermeiden will - der Konkurs ist längst nicht zu Ende geführt, ein Strafverfahren gegen Schneider und Helfer noch nicht eröffnet. Die Akte Schneider, zwischen Sachbuch und Unterhaltungslektüre angesiedelt, gibt einen informativen Ausblick auf den Strafprozeß, dessen Ausgang durchaus offen ist. Weder die Deutsche Bank noch der künftige Angeklagte, sofern er denn bei Sinnen und Kräften bleibt, möchten ins Licht. Sollte es am Ende ein beinahe tapferes Schneiderlein geben, dem man nicht viel beweisen kann?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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