Eine Rezension von Irene Knoll

Eine Leiche im Keller

Ingrid Noll: Kalt ist der Abendhauch
Diogenes Verlag, Zürich 1996, 246 S.

Auf der Seite 50 hört der Noll-geschulte Leser schon die Nachtigallen trapsen. Eine Andeutung von bröckeligen Elektrodrähten im Keller setzt seine logistischen Fähigkeiten in Gang. Soll der angekündigte Besucher, Hugo, Omas alte Liebe, dran hängenbleiben? Aber schon tut sich eine andere Möglichkeit auf. „Wenn's einen Kurzen gibt und Du Pech hast, Oma, ist Dein Häuschen in fünf Minuten abgefackelt“, warnt Felix, der Enkel. Und Oma ist versichert. Aber in diesem Buch Ingrid Nolls geschieht kein Mord, jedenfalls nicht in der Erzählzeit. Er ist schon geschehen. Oma hat eine Leiche im Keller.

Seit Ingrid Noll mit ihrem ersten Buch, Der Hahn ist tot, in der Krimiliteratur erschien, das ist erst ein paar Jahre her, gilt jedes neue von ihr von vornherein als Bestseller. Die Kritiken überschlagen sich mit vergleichenden Attributen. Deutschlands beste Krimi-Autorin wird sie genannt und eine „Neurosen-Spezialistin im Patricia-Highsmith-Format“. Ich finde, Noll ist Noll. So fröhlich und en passant wie bei ihr wird sonst nirgendwo gemordet. Weder stellt sich bei den Tätern Schuldbewußtsein ein, noch bekommt der Leser Skrupel ob der reinen, moralisch ungetrübten Freude am Geschehen seiner Lektüre. Ich weiß nicht genau, wie sie es macht, aber die Wirkung ist ungefähr so wie bei Chaplins Filmen, in denen die gräßlichsten Dinge auf eine Weise passieren, daß sich die Zuschauer kaputtlachen.

Ingrid Nolls Täter sind weiblichen Geschlechts. Ihre Mordstaten werden von ihnen selbst referiert, nicht unbedingt unter Gewissensdruck, obwohl gelegentlich eine gewisse Anteilnahme am Ableben der Opfer zu spüren ist, nein, mehr wie ein unversehens aufgetauchtes und bestandenes Abenteuer. Tatsächlich gerieren sie sich ein bißchen wie bescheidene Helden, die sich gegen die Angriffe des Lebens schlau und tatkräftig zur Wehr setzen. Was sich unsereins manchmal wünscht, einen lästigen Verwandten, einen chancenreichen Konkurrenten, eine hübschere oder jüngere Rivalin um die Gunst eines Geliebten und was dergleichen die eigenen Kreise störenden Individuen mehr sind, aus dem Wege räumen zu können - sie tun es, rasch und unerschrocken, und ihr Dilemma fängt erst bei den Aufräumungsproblemen an, die aber zumeist auch so gelöst werden, daß die Polizei keine Spuren findet. Ingrid Noll hält es weder mit scharfen Waffen, noch hat sie an der Beschreibung von polizeilichen Ermittlungen viel Spaß. Wann immer Überdruß oder eine fixe Idee Denken und Wollen der Damen stimulieren, inspirieren Gelegenheiten zum kühnen Handeln. Wie die Freundinnen Cora und Maja sich ihrer Lieben - Bruder, Vater, Ehemänner und Galan - entledigen, das hat Esprit.

Eine Flasche, ein Lockenstab, ein energischer Stoß gegen die Beine einer vertrauensvoll auf einer Turmmauer balancierenden Freundin wirken endgültig. Nur einmal wir das klassische Mittel weiblicher Mörder, Gift, verwendet, da aber sehr zum Entsetzen der Apothekerin Hella Moormann, die es besitzt.

Die Apothekerin ist vielleicht die unschuldigste unter den Mörderinnen Ingrid Nolls, eine nicht mehr ganz junge, nicht sehr attraktive Frau, die von einem jungen Draufgänger umgarnt, ausgenutzt und betrogen wird. Aber ein bißchen unschuldig sind sie alle, und irgendwie läßt sich ihr Handeln als Notwehr begreifen. Ihre kriminelle Energie resultiert aus Defiziten, aus Defiziten an Liebe, Fürsorge, Anerkennung. Ihre Ich-Erzählung gibt das deutlich zu erkennen, und so ist der Leser von Anfang an mehr oder weniger Sympathisant, mehr im Falle der Apothekerin und von Cora und Maja, weniger von Rosi Hirte, die mit wahrhaft psychopathischer Gier alle Frauen vernichtet, die ihrer späten Liebe Witold zu nahe kommen. Und ganz und gar mag und akzeptiert man Charlotte, die Oma mehrerer Enkel, unter ihnen die schon bekannte Cora.

Ingrid Noll erzählt vom Leben, und sie erzählt lebendig und witzig. Ihre Mörderinnen sind keine Monster, auch nicht Psychopathen des Formats, das Ruth Rendell vorführt. Sie kranken an seelischen Beschädigungen, die nahezu jeder an sich selbst oder an anderen erlebt, an Mangel an Liebe, an Fürsorge, an Anerkennung. Das bringt sie dem Leser nahe. Und auch die Autorin mag sie, denn keine von ihnen wird der Gewalt der Justiz ausgeliefert, Strafe, wenn schon welche sein muß, wird bei ihr anders zugemessen. Sie ergibt sich für Rosi Hirte beispielsweise pointiert als Fluch der bösen Tat.

Daß sie so etwas wie der Fluch der bösen Tat einholen und den Frieden ihres Lebensabends vernichten könnte, beginnt die achtzigjährige Charlotte zu befürchten, als Enkel Felix und dessen Freunde ihr Häuschen revidieren. Es dauert ein bißchen, bis die Erzählung in Fahrt kommt, bis Charlottes Erinnerungen an lange Vergangenes ihre Explosivkraft enthüllen. Die Aussicht auf Hugos Besuch ist der Auslöser für eine Inventur ihres Lebens. In Episoden entsteht das Bild einer bürgerlichen Familie, werden Charaktere gezeichnet, Schicksale in ihrer Bindung an die Denknormen und die historischen Ereignisse umrissen. Charlotte erinnert sich ohne Larmoyanz, wenn auch nicht ohne Schuldeingeständnisse und nicht ohne Traurigkeit. Unverwunden ist der Tod des Lieblingsbruders Albert, über den sie von Hugo noch Neuigkeiten zu erfahren hofft. Das ganz normale Leben von Charlotte, die, wie so viele Mütter, die meiste Kraft ihres Lebens darauf verwandte, ihre drei Kinder über den Krieg und die Nachkriegsjahre zu bringen, war dennoch voller Turbulenzen, von denen Kinder und Kindeskinder nichts ahnten. Nun aber überschlagen sich die Dinge. Berührend und komisch wird erzählt, was da wie ans Licht kommt und wie die Wahrheiten ihren gebührenden Platz erhalten.

Kalt ist der Abendhauch ist kein Krimi im eigentlichen Sinne, wenngleich es genau so spannend ist und mit immer neuen komischen Wendungen aufwartet. Charlottes Lebensbilanz ist verquickt mit der Darstellung ihres Alltags, in den Hugos Besuch Unruhe bringt und längst vergessene Fragen und zweifelnde Hoffnungen aufkommen. Das ist mit Wärme geschildert; und mit einem Witz, der ganz allein aus der nüchternen Betrachtung der Ich-Erzählerin rührt, werden die körperlichen Veränderungen und die Gewohnheiten alter Menschen auf die Situation des Wiedersehens bezogen.

Ein Hauch von Wehmut ist wohl manchmal zu spüren, weil Vergangenes irreversibel ist, aber kalt ist er nicht, der Abendhauch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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