Eine Rezension von Jens Loock

Tote Zungen reden noch

Rochelle Majer Krich: Sprich nichts Böses
Aus dem Amerikanischen von Ursula Walther.
Goldmann Verlag, München 1996, 445 S.

Debra Laslow, einer jungen ehrgeizigen Rechtsanwältin jüdischen Glaubens, steht eine schwere Zeit bevor. Sie gerät in die Untersuchungsfänge der Polizei und weiß kaum noch einen Ausweg. Innerhalb kurzer Zeit werden eine ihrer Bekannten und ihre beste Freundin, beide ebenfalls Rechtsanwälte, auf grausame Weise umgebracht. Den beiden Opfern wurden außerdem die Zungen herausgeschnitten.

Debra wurde in beiden Fällen am Tatort gesehen, und mit ihrer Bekannten hatte sie gar in der Öffentlichkeit einen Streit - Grund genug für die Polizei, sie des Mordes zu verdächtigen. Die Ermittlungen leitet überdies ein Kriminalbeamter, der Rechtsanwälte haßt und an seiner übergroßen Abneigung gegenüber Debra keinerlei Zweifel läßt. Für ihn ist die junge Anwältin die Mörderin, und er verbietet ihr, die Stadt zu verlassen. Debra wird nunmehr von ihren meisten Mitmenschen und Kollegen geschnitten, und insbesondere von ihren jüdischen Glaubensgefährten brüskiert und teilweise mit Haß verfolgt. „Debra wird sich bewußt, daß sie zu einer persona non grata geworden war.“

Dann erhält sie Drohbriefe: „Die Zungen der toten Menschen verdienen Beachtung. Steh der Gerechtigkeit nicht im Weg.“ Sie bekommt ein gräßliches Geschenk, das brutal an die Geschehnisse erinnert und ihr Todesangst einjagt. Und wieder werden zwei Menschen, Rechtsanwälte, ermordet. Auch ihnen wurde die Zunge herausgeschnitten. In einem Gespräch mit einer ihr bekannten Kollegin sagt Debra in diesem Zusammenhang: „Für den Mörder ist die Zunge ein Symbol des Bösen.“ In der Tat, tote Zungen reden noch. Sie geben einen möglichen Hinweis auf das Motiv des Mörders.

Da Debra von der Polizei keinerlei Hilfe erhält, stellt sie auf eigene Faust Ermittlungen an. Sie konstruiert ein handfestes Motiv und kann dadurch den Täterkreis einschränken. Doch die Polizei verwirft die Theorie und bezeichnet sie als eine künstliche Spur, die die Rechtsanwältin legen wollte, um von ihrer eigenen Person abzulenken. Aber Debra hat verschiedene Verdächtige, die ein Motiv hätten, und unter ihnen ist auch einer ihrer engsten Bekannten. Mittlerweile ist klar, daß alle Opfer ihren Täter gekannt hatten, und wahrscheinlich ist er auch ihr einige oder mehrere Male begegnet. Sie fürchtet, daß sie das nächste Opfer sein könnte. Deshalb muß sie den Täter finden, bevor er das nächste Mal zuschlägt.

Alles scheint seinen Ursprung in Fällen zu haben, bei denen Rechtsanwälte Sexualtäter verteidigt und ebenfalls Drohbriefe erhalten hatten. Und Debra hat gegenwärtig die Verteidigung in einem solchen Fall. Sollte sie den Prozeß gewinnen, so würde sich der Mörder ihrer Theorie nach ihr zuwenden. „Und wenn ich es wirklich schaffe, denkt sie zum tausendsten Male, werde ich umgebracht, und man schneidet mir die Zunge heraus. Angst durchfuhr sie.“

Krich, Träger der begehrten Antony Auszeichnung, hat mit Sprich nichts Böses erneut einen spannenden und psychologisch einfühlsamen Thriller vorgelegt. Die „Frankfurter Rundschau“ bezeichnet sie wohl zu Recht als „eine Neuentdeckung auf dem Thriller- Markt“.

Die Autorin hat die Spannung systematisch von der ersten Seite aufgebaut und bis zum Schluß durchgehalten. Viel, fast alles, spielt sich im letzten Teil des Romans im Gerichtssaal ab, und es gehört schon eine gewisse Neigung des Lesers dazu, an den teilweise langwierigen Verhandlungen teilzunehmen.

Für den Leser ist es dann eine sehr große Überraschung, wer als Täter enthüllt wird, nachdem das Motiv zumindest im letzten Drittel des Buches klar war. Auf brillante Weise wird die Enttarnung des Mörders in den Mittelpunkt einer fiktiven Gerichtsverhandlung gestellt, bei der Debra wiederum um ihr Leben fürchten muß.

Mich hat allerdings der Täter als Täter nicht überzeugt. Dazu ist der Widerspruch zwischen seinem bisherigen Leben und den brutalen Morden zu groß; es wurde ganz einfach zu diesem Widerspruch, der sich ja sicherlich entwickelt hat, viel zu wenig gesagt. Aber wahrscheinlich hat die Autorin das ganz bewußt so gestaltet, daß dem Leser trotzdem noch viele Fragen offen bleiben. Alles in allem: Es ist ein spannender und gut geschriebener Roman, den zu lesen sich ohne Zweifel lohnt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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