Eine Rezension von Hans-Rainer John

Die dunklen Seiten der amerikanischen Justiz

Jean Hanff Korelitz: Die Schattenjury
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger.
Paul List Verlag, München 1997, 448 S.

Nach den großartigen Thrillern von John Grisham ist es eigentlich kaum noch möglich, amerikanische Gerichtsprozesse und Verhältnisse von Staatsanwalt, Verteidiger und Presse in neuem Lichte darzustellen. Ist es nicht so, als sei schon alles gesagt? Der Staatsanwalt verkörpert eben Macht und Arroganz und will unbedingt Senator werden, der Verteidiger ist ein kleines Würstchen in einem ärmlichen Büro, der erst allmählich das Ruder in die Hand bekommt, und beide werden belagert von der unbarmherzigen Meute der auf Sensationsmeldungen erpichten Journalisten. Auf dem Hintergrund oberflächlicher Ermittlungen und öffentlicher Meinungsmache rollt der Prozeß ab. Jede Neuauflage dieses Szenariums scheint zum Klischee zu gerinnen.

Jean Hanff Korelitz, eine in Princeton (New Jersey) ansässige Literaturjournalistin, ist der Gefahr nur zum Teil entgangen. Auch ihr Staatsanwalt ist karrieregeil und süchtig nach Publicity, und ihre hochbegabte Pflichtverteidigerin kommt natürlich aus höchsten und konservativen Kreisen, aber sie folgt nun eben zum Leidwesen ihres Vaters der Mission, sich Tag und Nacht im Dienste der Armen, Entrechteten und Beleidigten abzustrampeln, in vernachlässigter und unmodischer Kleidung und mit Tintenfingern - statt in einer eleganten Kanzlei reichen Klienten viel Geld abzuknöpfen. Da hat sie keine Zeit für Männergeschichten, obwohl sie bildhübsch ist - aber einen Mann bekommt sie trotzdem, natürlich ist der reich genug, sich eine schlechtbezahlte Arbeit als Armenanwalt leisten zu können, sonst hinge ja der Ehesegen schief.

Im übrigen hat Frau Korelitz bei der Darstellung des Gerichtsmilieus ungeheuer bei Grisham gelernt, sie kommt ihm in der Perfektion ziemlich nahe, was schon hohes Lob ist, und sie bringt durch die Verbindung von Justiz mit medizinischen Forschungen zusätzlich neue Züge ein. Das erfolgt im letzten Drittel des Buches und ist übrigens gar nicht theoretisierend, sondern sehr spannend im Rahmen einer packenden Handlung und ist plausibel bis zu einem gewissen Punkt. Dort geht es dann um die Nutzanwendung während des Gerichtsprozesses zugunsten der Anklage - und da wird die Story nicht mehr so recht nachvollziehbar, da wird die LSD-Geschichte überzogen, da verliert die Sachlage den Boden der Wahrscheinlichkeit. Worum geht's nämlich?

In New York wird Amanda Barrett, ein neunjähriges Mädchen, angefallen, als sie mit ihren Freundinnen aus dem Bus steigt. Trent, ein Obdachloser, der bisher als freundlich und friedlich galt, stößt mit einem Skalpell zu und schlitzt ihr Bauch und Wangen auf - planlos, wie von Sinnen, ohne jeden Anlaß. Im Prozeß stehen sich Bezirksstaatsanwalt Andrew Greer, der Stimmen für eine politische Karriere sammeln will, und die Pflichtverteidigerin Sybylla Mulldoon gegenüber, für die der harmlose Trent ein guter alter Bekannter ist. Greer hat angesichts des erbarmungswürdigen Zustands des kindlichen Opfers leichtes Spiel, was aber soll Sybylla für ihren Klienten ins Feld führen, zumal der es ablehnt, als schizophren bezeichnet zu werden? Soll sie seinen geheimnisvollen Andeutungen von einer Entführung, über die er aus Gründen ihrer Sicherheit erst vor Gericht aussagen will, nachgehen? Es bleibt ihr nichts anderes übrig. Sie ist schon nahe an der Wahrheit, und Trents Aussage steht unmittelbar bevor, da fordert Greer plötzlich eine Unterbrechung der Verhandlungen. Nach der Pause ist Trent tot. Zufall? Sybylla kann es nicht glauben und führt ihre Ermittlungen fort. Die Spur führt zu einer Einrichtung, die mit den Zufälligkeiten in der amerikanischen Rechtsprechung, hervorgerufen durch die Unberechenbarkeit der Jurys, aufräumen will zugunsten härteren Durchgreifens und deshalb mit LSD experimentiert. Sie fängt schizophrene Obdachlose weg und programmiert sie mittels Langzeitimplantaten, Schlaftherapie, Elektroschocks und Tonbandbeschallung um. Es entstehen neue Persönlichkeiten, die in Jurys eingeschmuggelt werden und die Urteilsfindung dort im Sinne des jeweiligen Staatsanwalts herbeiführen (daher „Schattenjury“). Sybylla läßt alle Schuldigen hochgehen, verliert den am Verbrechen nicht unbeteiligten Vater und gewinnt mit Sam Larkin einen eleganten, tüchtigen und begehrten Ehepartner. Noch Zweifel?

Natürlich kann man mit Lysergsäurediathylamid eine Menge bewirken. Man kann Menschen in Hochstimmung versetzen oder in den Wahnsinn treiben, man kann Aggressionen freisetzen (wie bei Trent), vielleicht sogar Schizophrenie mildern oder heilen. Aber was immer man auch experimentiert und mit anderen Behandlungsmethoden kombiniert - daß man ganz andere Persönlichkeiten mit hohem Intellekt mittels LSD produzieren kann, die selbständig, logisch und überzeugend eigene Argumentationsketten entwickeln und eine ganze Jury mitreißend manipulieren (und zwar nicht als Einzelfall, sondern in der Regel), das ist schwer zu glauben. Dieser Prozeß wird im Buch auch nicht anschaulich verlebendigt, sondern ohne Überzeugungskraft nur trocken referiert.

Das geschieht übrigens erst auf den letzten Seiten - bis dahin versteht die Autorin zugunsten großer Dramatik der Vorgänge das Geheimnis, das heißt das Motiv, zu wahren. Es ist auch verdienstvoll, daß die „Auflösung“ nicht im Nachtrag (durch den Bericht eines Ermittlers o. a.) erfolgt, sondern im Rahmen der raffiniert konstruierten Handlung, in der es bis zuletzt um Leben oder Tod Sybyllas geht. Daß die „Bösen“ hier ohne Not ihre gesamte Strategie rückhaltlos offenlegen und daß Sybyllas Vater sich plötzlich gegen die Komplizen wendet und dann, seine Mitschuld sühnend, Selbstmord begeht, wirkt mehr wie ein Wunschtraum der Autorin und ist - da so wenig vorgebaut wurde durch differenzierte Charakteristik - mit den Wirklichkeitserfahrungen des Lesers schwer in Übereinstimmung zu bringen.

Trotzdem: das Buch fordert Interesse und Anteilnahme heraus, weil es dem verbreiteten Unbehagen an der amerikanischen Jury-Spruchpraxis überzeugenden Ausdruck verleiht, weil es auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken anregt und weil es eine auch sprachlich beachtliche Leistung darstellt. Deshalb wird man die Autorin bereits nach diesem ersten Roman zu den äußerst vielversprechenden Talenten zählen, von denen noch einiges zu erwarten ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite