Eine Rezension von Bernd Sander

Vision des Bösen

Wolfgang Hohlbein: Azrael
Wilhelm Heyne Verlag, München 1996, 496 S.

Eine ganze Reihe von nicht erklärbaren Selbstmorden und makabren Todesfällen erschüttert die Bevölkerung von Berlin. Die Polizei, die versucht von den schrecklichen Vorfällen nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, ist ratlos, denn es gibt für die mysteriösen Morde zunächst keinerlei Motiv und auch überhaupt keinen Zusammenhang.

Innerhalb von nur anderthalb Wochen stirbt mehr als ein Dutzend Menschen - und die Todesliste ist noch lange nicht zu Ende.

Ein früher angesehener Wissenschaftler springt aus dem Fenster, nachdem er seine Küche und die Fenster schwarz angemalt hat, ein Fotograf sieht aus seiner Fixierschüssel ein grausiges Wesen kommen und stürzt sich zu Tode, ein Arzt mit seinem Team und ein Polizist verschwinden spurlos, eine junge Krankenschwester taucht auf, die eigentlich längst tot ist, ein Sohn versucht seinen Vater zu erwürgen und stirbt dabei in dessen Armen...

Wer rächt hier was und wofür?

Die Frage ist vorerst überhaupt nicht zu beantworten, und es erscheint sehr fraglich, ob jemals darauf eine Antwort gefunden werden kann, denn etwas Unfaßbares liegt über der Stadt und seinen Menschen, mysteriös, bösartig und grausam. Scheinbar ein Geist, ein Dämon, das Böse an sich, das Gestalt angenommen hat, treibt sein Unwesen. Jeder, der mit dem „Etwas“ in Berührung gekommen ist, verliert früher oder später jeglichen Bezug zur Wirklichkeit, er hat nur noch grenzenlose Angst und erlebt scheinbar real jene Vision: „Etwas raste auf ihn zu, etwas Gigantisches, Schwarzes, mit Schuppen und glänzenden Krallen und einem gewaltigen, gierig aufgerissenen Maul und Augen, in denen das Feuer der Hölle loderte... Mörderische Klauen streckten sich aus. Er spürte den heißen, übelriechenden Hauch. Zähne wie geschliffene spitze Dolche schnappten nach seinem Gesicht.“

Selbst der Polizist Bremer, der mit an der Untersuchung beteiligt ist, sieht hin und wieder einen Schatten, eine über zwei Meter große unheimliche Gestalt. Voller Angst ist er dann bewegungslos, keiner Regung mehr fähig. Auch der unterkühlte und von seinen Kollegen gerühmte und ebenso gefürchtete Leiter der Mordkommission glaubt an das Böse, das sich seiner Ansicht nach aber in einer menschlichen Gestalt verbergen muß, und fürchtet trotz seiner Gelassenheit um sein Leben.

Immer wieder taucht der Name „AZRAEL“ auf; er oder es steht hinter dem Grauen, denn die Handschrift ist unverwechselbar. Doch wer oder was ist „AZRAEL“? Es ist zwar der Name des biblischen Todesengels, aber es ist eben noch mehr.

Die Spur führt die Polizei schließlich zu den Pharma-Werken des Dr. Sillmann, in der vor Jahren seltsame und gefährliche Experimente durchgeführt wurden, und bei denen einige Jugendliche starben und andere seelisch verkrüppelten. Dieser Vorfall konnte von der Polizei nie aufgeklärt werden, da mächtige Kräfte aus dem Hintergrund schützende Hände über Dr. Sillmann hielten und weitere Untersuchungen unterbanden. Und erneut sind diese Mächtigen auf nicht gerade zimperliche Weise im Spiel.

Azrael von Wolfgang Hohlbein ist ein mit psychologischem Feinsinn geschriebener Roman, der sehr gut die Charaktere der handelnden Personen ausleuchtet, selbst die Bösewichte menschlich und die Ängste nachvollziehbar macht. Es ist ein meisterhaft geschriebener phantastischer Roman, der den Leser in die Welt des Unerbittlichen und des Grauens führt. Es ist ein spannungsgeladenes Buch von einem nicht enden wollenden Alptraum, von dem bestimmte Dinge bei dem heutigen Stand der Wissenschaft sehr wohl vorstellbar sein können.

Hohlbein hat sich mit diesem Roman ohne Zweifel weiter in der Reihe phantastischer Autoren profilieren können, und man darf gespannt auf seine nächsten Romane sein, von denen bereits zwei dem Verlag vorliegen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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