Eine Rezension von Hans-Rainer John

Jung, verstoßen und chancenlos

John Gilstrap: Nathans Flucht
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur, München 1996, 384 S.

Das ist ein handfester Krimi. Der zwölfjährige Nathan Bailey ist aus der Jugendstrafanstalt entwichen und hat zuvor einen der Wächter umgelegt. Nun wird er von der Polizei gejagt - wird er es über die kanadische Grenze schaffen, wie es sein Plan ist? Die wütenden Kops wollen ihn um jeden Preis fangen, ein öffentlichkeitsgeiler Staatsanwalt, der gern Senator werden will, putscht die Öffentlichkeit auf, indem er dem Kind den elektrischen Stuhl in Aussicht stellt, und ein sturer, herzloser Direktor sucht jeden Makel seiner Jugendstrafanstalt zu leugnen. Dabei mehren sich Signale, daß dort terroristische Zustände herrschen, Nathans Leben bedroht war und er in Abwehr akuter Gefahr gehandelt hat. Nur Chefermittler Michaels, den Nathan an seinen eigenen Sohn erinnert, und die couragierte Rundfunkmoderatorin Carpenter, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, stehen auf seiner Seite. Aber ihre Position wird wackelig, als weitere Polizisten bei der Verfolgungsjagd ihr Leben einbüßen, und außerdem kommen die beiden erst sehr spät, beinahe zu spät, dahinter, daß dem Jungen ein Killer auf den Fersen ist, weil mit seinem Tode - was er nicht weiß - ein Millionenerbe verbunden ist.

Natürlich kommt es zu einem guten, wenn auch leider sehr sentimentalen Ende („‚Jetzt ist alles vorbei, mein Sohn,‘ sagte Michaels mit gepreßter Stimme. ‚Jetzt kann dir keiner mehr weh tun.‘ Er drückte Nathan noch fester an sich und wiegte ihn sanft in den Armen. ‚Jetzt ist alles gut.‘ Lange saßen sie so zusammen auf dem Gehsteig und weinten wie kleine Kinder“.), aber zuvor geht es hart zur Sache. Das Buch durchzieht wirklich große, nicht nachlassende Spannung. Das ist auf drei Ursachen zurückzuführen.

Erstens ist die Geschichte rund, überwiegend in sich stimmig, und sie beruht auf Sachkenntnis: die Idee für diesen Roman entstammt Giltraps ehrenamtlicher Arbeit mit schwererziehbaren Jugendlichen. Zweitens ist sie hervorragend konstruiert; sie besteht aus einem gut kombinierten, genau kalkulierten Puzzle von Segmenten, wobei die vollen Sachverhalte und Hintergründe erst nach und nach aufgedeckt werden. Es gibt eine Fülle überraschender Wendungen und einen fulminanten Schlußspurt. Und drittens bemüht sich der Autor, die im Krimi übliche schematische Typisierung zu vermeiden und seinen Figuren so viel Hinterland wie möglich zu gönnen, ihnen zu wirklichem Eigenleben zu verhelfen. Die ironischen Seitenhiebe auf die Medien und der karrieresüchtige Staatsanwalt, der in die Politik will und alle seine Entscheidungen dadurch beeinflussen läßt, sind wohl letzte Tribute an den gängigen Thriller.

Natürlich muß man auch Abstriche in Kauf nehmen. Erstens handeln die Figuren nicht immer glaubhaft und überzeugend. Ich denke, daß der Autor die Gedankenwelt und Ausdrucksfähigkeit von 10 bis 12jährigen wie Nathan oder Billy schlichtweg überfordert und daß z. B. einer Gestalt wie dem Profikiller Lyle Poitner die innere Logik fehlt. Zweitens werden nicht wenige Unwahrscheinlichkeiten und Ungereimtheiten auffällig. Da erledigt der kleine Nathan mit einer Holzlatte den schwerbewaffneten und supererfahrenen Profikiller, dieser kann sich problemlos die Uniform eines Polizeioffiziers für sein mörderisches Treiben ausleihen, und der Chefermittler beschimpft den leitenden Staatsanwalt in aller Öffentlichkeit unflätig und obszön. In solchen und anderen Fällen wären doch Fragen und Zweifel anzumelden. Und drittens fällt es schwer, dem Buch literarische Qualitäten zu bescheinigen, weil der Autor Gassenjargon in penetranter Häufung in seine Texte einfließen läßt. Bemühungen um Milieuzeichnung, Sorge um Authentizität?

In Relation zum Ganzen sind das freilich läßliche Sünden, zumal es sich um ein Erstlingswerk handelt - Gilstrap leitet eigentlich eine Consulting-Firma für Umweltfragen in Woodbridge/Virginia. Wichtiger ist da wohl, daß er ehrlich bewegt ist vom unverdienten, harten Schicksal elternloser, verstoßener oder vernachlässigter Jugendlicher, für die er etwas tun möchte. Nathan Bailey ist zwar kein Oliver Twist unserer Tage, aber seine Sorgen und Nöte sind doch immerhin so bewegend beschrieben, daß sie nachdrücklich auf das Problem aufmerksam machen, das wir nur alle gemeinsam lösen können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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