Eine Rezension von Klaus Ziermann

Kriminalliteratur vom Feinsten

Elizabeth George: Im Angesicht des Feindes
Roman.
Deutsch von Mechtild Sandberg-Ciletti.
Blanvalet Verlag, München 1996, 736 S.

Es ist nicht allein der für einen Kriminalroman außergewöhnliche Umfang von 736 Seiten, der Elisabeth Georges Roman als gewichtig erscheinen läßt. Die Amerikanerin, die sich bereits mit den Romanen Gott schütze dieses Haus, Auf Ehre und Gewissen, Keiner werfe den ersten Stein, Mein ist die Rache, Denn bitter ist der Tod, Denn keiner ist ohne Schuld und Asche zu Asche als literarisch anspruchsvolle Kriminalschriftstellerin ausgewiesen hat, wird auch diesmal ihrem Ruf als Bestseller-Autorin vollauf gerecht. Innerhalb kürzester Zeit erschien bereits die dritte Auflage ihres neuesten Romans.

Die Handlung spielt in England und führt unverzüglich in das Milieu der britischen Hautevolee: Der konservativen jungen Politikerin Eve Bowen, die schnell auf „exponierten Posten“ der konservativen Regierung aufsteigen konnte und alle Aussichten hat, „die nächste Margaret Thatcher zu werden“, ist - keiner weiß zunächst so recht, warum - die zehnjährige Tochter Charlotte entführt worden. Für Eve Bowen kommt nach Erhalt eines Erpresserbriefs jedoch nur ein Täter in Frage: Dennis Luxford, der Chefredakteur des gefürchteten Londoner Boulevardblattes „Source“ - der Vater ihrer unehelichen Tochter. Mit ihm hatte sie vor Jahren als junge Reporterin auf einem Parteikongreß der Konservativen eine kurzzeitige Affäre. Ein Skandal - weiß sie - stünde bevor, wenn die britische Öffentlichkeit nun aus der Boulevardpresse erfahren würde, „Eve Bowen, zukünftige Abgeordnete der Konservativen Partei, zukünftige Staatssekretärin und zukünftige Premierministerin, damals erzkonservative, gottesfürchtige, selbstgerechte kleine Reporterin, ist mit der übelsten Dreckschleuder des Landes ins Bett gehüpft. Das wird für die Presse noch ein gefundenes Fressen sein. Und dieses Schmierblatt wird die Meute anführen.“ (S. 69)

Was wunder, daß die Untersuchungen zunächst in aller Heimlichkeit anlaufen und der Gerichtsmediziner Simon St. James mit seiner Schwägerin Helen Clyde den Fall in Privatdetektiv-Manier übernimmt. Der Roman erhält jedoch eine jähe Wendung, als auch noch Luxfords Sohn Leo entführt wird. Nun sind Inspektor Lynley und sein Sergeant Barbara Havers nicht mehr herauszuhalten. In 30 Kapiteln - spannend bis zum letzten - enthüllt Elizabeth George den Fall mit allen Raffinessen einer gestandenen Kriminalautorin.

Es ist Kriminalliteratur vom Feinsten. Elizabeth George hat die Gabe, nicht nur einprägsame Szenen wie das erste Zusammentreffen von Sergeant Barbara Havers mit dem Mörder - ein Höhepunkt des Buches - zu schaffen, sie läßt auch eine ganze Reihe von Originalen aus der klassischen britischen Romantradition wie Simon St. James und Helen Clyde agieren. In der Endkonsequenz vermittelt Elizabeth George durch Handlungsablauf, Figurenensemble und unbestechlichen Blick hinter die Kulissen eine differenzierte, entlarvende sozialkritische Gesellschaftsanalyse, die es in sich hat. Das Duo der Hauptfiguren Eve Bowen und Dennis Luxford läßt darüber hinaus eine aufschlußreiche Tendenz in der gegenwärtigen angloamerikanischen Kriminalliteratur erkennen: So wie der Kriminalroman offenbar immer häufiger den politischen Skandal als Ausgangspunkt benötigt, so braucht offensichtlich der gesellschaftskritische politisch motivierte Roman immer mehr den Kriminalfall als Vorlage für seine Aussagen. Eine eigentümliche Dialektik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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