Eine Rezension von Bernd Sander

Sadistische Rache

John Burdett: Die letzten Tage von Hongkong
Aus dem Englischen von Sonja Hauser.
R. Piper, München 1996, 487 S.

Wohl kaum in einem anderen Ort der Welt leben Menschen so gedrängt auf engem Raum wie in in der britischen Kronkolonie Hongkong. Über sechs Millionen Chinesen zählt das nur 1045 km2 große Territorium (mit den angegliederten Gebieten) am Südchinesischen Meer.

Und es gibt kaum eine andere Stadt, die sich so dynamisch entwickelt hat wie diese ostasiatische Metropole. Sie besitzt nicht nur nach Rotterdam den zweitgrößten Containerhafen der Welt und ist neben Singapur das bedeutendste Finanzzentrum Asiens, sondern verfügt neben den zahllosen engen Gassen und der unübersehbaren Schar von Dschunken, Sampans und Frachtschiffen, die in dem weiträumigen Hafen vor sich hindümpeln, auch über eine kaum schätzbare Ansammlung von Wolkenkratzern, in denen fast alle großen Monopole und Banken ihre Filialen unterhalten. Hongkong schläft nie, Tag und Nacht wird hier gearbeitet, sich amüsiert, Millionen-Geschäfte gemacht, gestohlen, geraubt und gemordet.

Hongkong ist ein Sammelsurium von Glanz, Glitzer, Reichtum, Macht, Sex und Drogen. Auch die schier unangreifbaren, mächtigen und straff organisierten Triaden, die chinesischen Verbrechersyndikate, die z. T. legal in den lukrativsten Branchen tätig sind, wickeln von hier aus weltweit ihre profitablen Geschäfte ab.

Die britische Kronkolonie wird laut Vertrag zwischen London und Peking um Mitternacht des 30. Juni 1997 an China zurückgegeben. 99 Jahre britische Kolonialherrschaft gehen dann zu Ende. Peking hat Hongkong zwar stets als „Diebstahl am Reich“ betrachtet, aber auch immer gewußt, wie man das kapitalistische Wirtschaftssystem für eigene Zwecke nutzen konnte. Das kommunistische China und das kapitalistischen Hongkong hatten sich auf eine höchst eindrucksvolle Weise arrangiert, sie sind gewissermaßen eine Symbiose eingegangen. Hongkong war für Peking das „Huhn, das goldene Eier legt“ - und nach chinesischen Ambitionen auch weiterhin legen soll. Immerhin hat China 60 Prozent seines gesamten Exports über Hongkong abgewickelt, und Hongkongs Geschäftswelt hat von dem riesigen Markt vor seiner Haustür mit den 1,5 Milliarden Menschen erheblich profitiert.

Zwar hat China Hongkong weitgehende innere Autonomie und eigenständige kapitalistische Wirtschaftsentwicklung zugesichert, doch die bange Frage vieler Hongkong-Chinesen, insbesondere der Oberschicht, aber auch der Kolonialverwaltung, lautet, ob man sich auch daran hält. Peking gilt als eine mächtige, aber unberechenbare Größe, und viele Menschen meinen, gegenwärtig in Hongkong zu leben, sei als ob man sein Lager in der Höhle des Zyklopen aufgeschlagen habe. So liegt denn auch ein tiefer Zwiespalt zwischen Hoffnung und Angst über der Stadt.

In dieser brisanten und hochexplosiven Situation im April 1997, 6 000 000 Sekunden vor dem Einholen des Union Jack, spielt Burdetts Kriminalroman. Er führt den Leser in die Mystik des fernen Ostens, in die Machen- und Intrigenschaften der Reichen, die brutale „Arbeitsweise“ der Triaden und in die immer feinsinniger gesponnene und schwer durchschaubare Diplomatie des fernen London.

Da fällt es auch Chan, dem Chefinspektor der Royal Hong Kong Police, schwer, das Knäuel von unterschiedlichen oder sich zum Teil ergänzenden Interessen in seiner Arbeit zu durchschauen, geschweige denn es zu entwirren.

Der Kriminalinspektor ist ein Eurasier, der Vater Ire, die Mutter Chinesin, und so streitet häufig die eine Seele mit der andern in seiner Brust. Vom Vater hat er die Beharrlichkeit geerbt, von der Mutter die Gelassenheit. Zumeist überwiegt allerdings das mütterliche Erbgut; er denkt und handelt wie ein Chinese und er haßt die Rotchinesen, die seine Mutter umgebracht haben. Er ist ein sehr guter Kriminalist, dessen Erfolgsquote bei 90 Prozent liegt. Allerdings handelt es sich dabei zumeist nur um Routinefälle.

Jetzt allerdings muß er einen grausamen Mord untersuchen, der für ihn ungewohnte Dimensionen annimmt. Drei Leichen werden in einer Lagerhalle gefunden. Die Opfer wurden bei lebendigem Leib von einem riesigen Industriefleischwolf zu einer formlosen Masse zermahlen. Nur die Köpfe fehlen, die er später in einem Plastesack in der Nähe der chinesischen Küste im Meer findet. Ihnen waren die Vorderzähne abgebrochen, die Nasen, Ohren und Augenlider abgeschnitten worden.

Man glaubte zunächst, es mit einem der üblichen Racheakte der konkurrierenden Triaden zu tun zu haben, über die sich keiner sonst große Gedanken macht. Diese Annahme erhärtet sich, als man durch aufwendige kriminaltechnische Untersuchungen feststellte, daß es sich hierbei um drei Triadenkuriere aus New York handelte.

Doch so einfach stellt sich der Fall nicht dar, denn bald zeigt sich, daß einflußreiche Generale aus Südchina ihre Hände im Spiel haben und London sich sehr irritiert, wenn nicht gar wissend zeigt. Chan, der unbeirrbar an dem Fall arbeitet und immer tiefer in das Geflecht internationaler Verwicklungen vorstößt, wird deshalb zunächst von diesem Fall entbunden, doch überraschend dann wieder damit beauftragt.

Der eiskalte und machtbesessene General Xian aus dem Süden Chinas wird nunmehr Chans Gegenspieler und, ohne daß dieser es zunächst weiß, im Hintergrund später sein Zweckverbündeter. Xian wird als der künftige Stadthalter von Hongkong gehandelt und genießt bereits jetzt so viel Einfluß und Macht, daß ihm keiner zu widersprechen wagt. Mit stillschweigender Duldung der britischen Kolonialverwaltung und einer Stillhalte-Politik Londons wäscht er sein Geld aus dem Rauschgift- und Waffenhandel in Hongkong. Mal 200 Millionen amerikanische Dollar in bar, dann wieder 500 Millionen schiebt er wie Peanuts über den Tisch. Er und seinesgleichen handeln nach der uralten kapitalistischen Devise, daß das Glück der wenigen vom Elend der vielen abhängt.

Einer dieser Mächtigen aus China, wenn nicht gar der Mächtigste von ihnen, der den Triaden einen umfangreichen und in dieser Größenordnung und Art einmaligen Geschäftsauftrag gab, fällt auf deren Konkurrenzhandeln und Profitgier herein und läßt nun rachesüchtig nach den Verantwortlichen für seinen mißglückten Deal suchen. Und alles hat etwas mit dem mysteriösen Mord in der Lagerhalle zu tun.

Fürchterlich ist dann auch seine Rache - und damit sind die Hintergründe für das mißlungene Geschäft und für die Morde aufgeklärt. Die Polizei findet in einer großen Lagerhalle 43 Industriefleischwölfe, fein säuberlich und mit militärischer Präzision diagonal von einer Seite zur anderen aufgereiht und...

Der ganz offensichtlich bekannte Auftraggeber für das, was in dieser Lagerhalle geschah, wird nicht zur Verantwortung gezogen. Und nichts davon darf an die Öffentlichkeit gelangen. Cuthbert, der britische Politische Berater des Gouverneurs in Hongkong, schließt den Fall mit den Worten: „Sie werden den Leuten von der Zeitung nichts über das hier berichten... Es geht um China.“

John Burdett, 1951 in Southampton geboren, hat Literatur- und Rechtswissenschaften studiert und ist 1982 nach Hongkong übergesiedelt. Er gilt als ausgezeichneter Kenner der Hongkonger Geschäftsszene und der ostasiatischen Mentalität, was er u. a. durch diesen Roman eindrucksvoll bewiesen hat.

Die letzten Tage von Hongkong (Originaltitel:The Last Six Million Seconds) ist Burdetts erster Roman, der in deutscher Übersetzung erschien. Es ist ein brillant geschriebener Kriminalroman, der in einer den meisten europäischen Lesern noch fremden Region spielt. Mit profunder Kenntnis der politischen Zusammenhänge und einem sicheren Gespür für die Denk- und Handlungsweise der unterschiedlichsten Charaktere hat es der Autor meisterhaft verstanden, auf rund 500 Seiten die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite aufrechtzuerhalten. Der Roman gewinnt noch dadurch, daß er in einer aktuellen politischen Gegebenheit angesiedelt ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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