Eine Rezension von Hans-Rainer John

Geheimdienstchef beim Eisernen Kanzler

Wolfgang Brenner: Stieber
Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1997, 400 S.

Geheimdienstchefs bleiben eigentlich am liebsten im Dunkeln, aber aus dem Leben Wilhelm Stiebers (1819-1882), der hierzulande wohl als erster diese Funktion ausübte, ist vieles überliefert, nicht zuletzt durch seine Autobiografie (Spion des Kanzlers). Er war ein begabter und erfolgreicher Kriminalist, bis er als Undercover-Agent auf den Weg geschickt wurde: mit neuer Identität, als Kunstmaler Wilhelm Schmidt, deckte er 1845 in Schlesien, im Hirschberger Tal, eine „Arbeiterverschwörung“ auf, die die Reichen enteignen und ihre Güter unters Volk verteilen wollte; die Rädelsführer brachte er hinter Schloß und Riegel. Die nächste Reise, diesmal als Redakteur Wilhelm Schmidt, führte zu Karl Marx nach London, wo er durch einen raffinierten Trick die geheime Adreßkartei des „Weltbundes der Kommunisten“ (damals ca. 700 Seelen) an sich brachte und damit das Material für den Kölner Kommunistenprozeß (4.-12. 11. 1852) beschaffte. Zum Höhepunkt seiner Karriere aber strebte Stieber, nachdem 1862 Bismarck Kanzler geworden war. Dieser beauftragte ihn nämlich, erst Österreich und dann Frankreich mit einem dichten Spitzelnetz zu überziehen. Nachdem systematische Recherchen ergeben hatten, daß Deutschland militärisch und geheimdienstlich weit überlegen war („Eine Einladung an deutsche Soldatenstiefel“ nannte Bismarck diesen Zustand), provozierte der Kanzler 1866 bzw. 1870 den jeweiligen Kriegsgrund. Stieber begleitete beide Male die Truppen als Chef der „Feld-Sicherheitspolizei“, betraut mit den Aufgaben Aufklärung, Spionageabwehr, Personenschutz, Kontrolle von Post und Presse.

Kein Wunder, daß Stieber, ein kluger und absolut skrupelloser Machtmensch, ein von Ideologie und allen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Staatsräson unbelasteter Pragmatiker, Eingang in Kunst und Literatur fand. Günther Rücker machte ihn 1968 in seinem Stück Der Herr Schmidt über den Kölner Kommunistenprozeß zur Theaterfigur, und Wolfgang Brenner (43), bewährt und bekannt als Drehbuchautor für so manchen „Tatort“ oder „Polizeiruf“ (bisher einziger Roman: Welcome Ossi!), beleuchtet nun in dem neuen Buch Stiebers Rolle während des Frankreich-Feldzuges.

Entstanden ist kein langweiliger Historienroman, sondern ein spannender, auch in der sprachlichen Gestaltung beachtlicher Krimi mit unverwechselbarem und glaubhaft umrissenem historischen Kolorit. Brenner, der sich als glänzender Erzähler erweist, hat sich in die Epoche vertieft und rekonstruiert geschickt die Bedingungen, Lebensumstände und Atmosphäre der Zeit. Zugleich hat er sich die Hände frei gemacht für die Erzählung einer fiktiven Geschichte, die durch Dramatik und ständige, unerwartete Handlungsumschwünge für sich einnimmt, indem er den historischen Stieber sozusagen in die zweite Reihe versetzte, und den Inspektor Lamartine, Ermittler der Pariser Mordkommission, eine offenbar erfundene Figur, in den Mittelpunkt rückte.

Lamartine wird eines Tages zu einer Leiche gerufen, die im Bois de Boulogne gefunden wurde. Sein professioneller Drang, den Mord zuverlässig aufzuklären, läßt ihn Mahnungen seiner Vorgesetzten in den Wind schlagen und die Hilfe des Deutschen Stieber annehmen. Zu spät erkennt er, daß er sich in dessen tückisch ausgelegten Fallstricken verheddert hat. Bald sieht er sich als Vaterlandsverräter gebrandmarkt und von seiner Frau verlassen. Verzweifelt reist er nach Berlin, um Stieber entweder den Mord nachzuweisen oder für seine Rehabilitierung zu gewinnen. Aber die Begegnung mit der deutschen Hauptstadt wird für ihn zu einem Alptraum: Von einem Tatort zum anderen taumelnd, des Mordes verdächtigt, von deutschen wie von französischen Kriminalisten verfolgt und am Leben bedroht, kann er am Ende froh sein, mit Stiebers Hilfe nackt und bloß wieder Heimatboden zu erreichen. Aber wie weiter, Lamartine?

Begegnungen und Gespräche Lamartines mit Stieber geben Gelegenheit, geschickt dessen Biografie einfließen zu lassen, ohne daß die Spannung zerstört wird.

Vergegenwärtigt wird seine Hintergrundsarbeit in der Zeit der Reichsgründung.

Auch bei Stieber bedurfte es des Fiktiven, Lücken waren mit Erfindungen zu schließen, zu denen sich der Autor ausdrücklich bekennt. Aber auch das Unwahrscheinliche bleibt dabei meines Erachtens im Bereich des Denkbaren. Nicht so bei Lamartine.

Der Inspektor wird eingeführt als tüchtiger und kluger Kriminalist, als energischer, zupackender und entscheidungsfreudiger Vorgesetzter, belesen in der Enzyklopädie und in Theorien über die richtige Anwendung der Vernunft, erfüllt von den Idealen des Rechts und der Gerechtigkeit. Es ist schwer, sich solchen Menschen an der Seite einer unter den Pantoffeln ihrer spießigen Eltern stehenden Frau zu denken, an die ihn weder Liebe noch Geld noch geistige Übereinstimmung binden. Schwer erklärlich ist auch, daß ein solcher Mann - den Blick fast borniert auf seine Ermittlungen gerichtet und blind für die komplizierte kriegerische Umwelt - naiv alle Karten der Pariser Polizei aufdeckt und rückhaltlos mit Stieber paktiert, wo selbst seine wenig weitsichtige Frau solche Handlungsweise sofort als Vaterlandsverrat klassifiziert. Wenig plausibel wird auch, was ihn eigentlich nach Berlin führt, und warum er dort im Kreise irrt, seine Zielstrebigkeit verliert, nur noch Objekt ist, ein zweites Mal Verrat begeht und trotz lebensbedrohlicher Situation den preußischen Justizminister ohrfeigt (nur weil ihn ein Zeitungsartikel mit deutschem Großmachtgehabe geärgert hat?). Natürlich kann ein Mensch vielseitig und facettenreich sein, widersprüchlich handeln, überraschende Züge offenbaren, aber müßte nicht doch eine innere Logik alles wahrscheinlich machen und uns den Weg zum Kern des Charakters ebnen?

Wenn auch in diesem Sinne Fragen anzumelden sind, so wird das spannungsreiche Lesevergnügen dennoch nicht grundsätzlich beeinträchtigt. Die Handlung treibt zielstrebig auf ein packendes Finale zu und das Tischtuch zu Stieber, einer Figur, die gleichermaßen fasziniert wie abstößt, wird zerschnitten. Damit der Leser Fiktion und gesicherte historische Kenntnisse auseinanderhalten kann, liefert der Autor anschließend verdienstvollerweise auf vierzig kleingedruckten Seiten die komplette Vita Stiebers, soweit sie belegbar ist, in einem glänzenden Essay.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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