Eine Rezension von Burga Kalinowski

Landkarte der Erinnerung

Stephan Krawczyk: „Das irdische Kind“
Verlag Volk und Welt, Berlin 1996, 265 S.

Was Menschen auch passiert - die Bilder der Kindheit bleiben erhalten. Vielleicht, daß sie verblassen, daß sich über sie die Patina des Erwachsenenlebens legt und Umrisse ihre Schärfe verlieren ... Die Bilder bleiben. Kleine, oft unauffällige Markierungen auf der Landkarte der Erinnerung: Von dort komm ich her, da war ich mal, das sind meine Orte.

Kindheit - der Anfang von allem: Wie man fühlt, was geachtet wird und was geliebt. Angst und Freude, Enttäuschung und Glück. Die großen Gefühle entstehen aus einfachen Dingen. Das ist für jeden anders - und immer einzigartig.

Stephan Krawczyk erzählt seine Bilder. Das irdische Kind - eine Sammlung von Geschichten, scheinbar lose, am Ende ist es ein Zyklus von aufeinander verweisenden Alltäglichkeiten, wie sie die Wirklichkeit in einer ostdeutschen Kleinstadt bestimmt, eine normale DDR-Familie geprägt haben. Das Klima des Lebens damals wird von Krawczyk herbeigezaubert - unaufwendig, ohne große Gestik, frei von Anmaßung und Pathos. Kein Wortgeklingel, statt dessen leises Erinnern, genaue Beobachtungen, nachdenkliche Spurensuche. Kein Diktum - dem Leser bleibt Spielraum für eigenes Erinnern. Es ist eine Einladung: Komm mit, ich zeig dir was.

Spazierengehen durch eine andere Biographie, die Geschichte für Geschichte vertraut wird - oder eben fremd bleibt. Es gibt kein Einheitsraster für Leben. Doch manches Bild erkennt man wieder. Oder die dazu gehörige Stimmung. Wie das mit dem ersten Schnee.

„Es waren die ruhigsten Momente. Herr Zipfel hielt in seiner Physik inne, Missis Möllhoff in ihrem Oxford, Frau Möbius erstarrte in ihrer Chemie, Herr Neugebauer, der die Tafel selber abwischte, blieb mit erhobenem Schwamm davor stehen und sah hinaus. Der erste Schnee fiel immer während der Schulstunden.“

Ja, so war's. Jedenfalls meistens.

Oder die familiären Rituale und Legenden. Die Westpakete gehören dazu und „der Wunsch, einmal richtig Glück zu haben“. Woche um Woche spielte der Vater Lotto und immer sagte die Mutter: „Freu dich doch, Lotterieschwede. Da hast du umsonst gespielt.“ Nicht vergessen sind die Sonntagsausflüge mit der Karre, die Gondelfahrt zum Märchenwald, der Geschmack der grünen Limonade. Und dann ist da die Geschichte von der Oma und dem Groschenring. „Mutters Mutter trug einen besonderen Ring. Er war das Wunder meiner Kindheit schlechthin. Sie trug ihn immer und wurde damit sogar begraben.“ Eine Familienlegende. Andere haben andere. Aber alle haben eine.

Stephan Krawczyk erzählt lakonisch, ohne kunstvolle Pointen. Vom Tod des Vaters, der sich, als Wismutkumpel unheilbar vom Uranstaub zerfressen, vom 10. Stock aus dem Leben stürzt. Vom August 1968, als durch Krawczyks Stadt Weida 82 Panzer fahren, und der zornige Schrei der Bürger „Es lebe Dubcek“ leider nicht zu hören war, weil die Motoren den Ruf erstickten. Von seiner Armeezeit ist zu lesen, und der Untertext teilt Rohheit ebenso mit wie das Heimweh nach zu Hause.

Er legt die Bilder in aller Ruhe hin. Er sagt nicht: Das mußte dir angucken. Er sagt nur: So war das.

Das erste Mal mit einem Mädchen. Der Spruch der Mutter „Wo nichts reinkommt, kommt nichts raus“. Sturmfreie Bude und dann „Oh, Schmach geheimer Vorsichtsmaßnahmen, oh, Pein des Vollzugs der beschlossenen Sache“ in krachender Silvesternacht, das Bettlaken und wieder ein mütterlicher Spruch, „da habt ihr ja eine schöne Schweinerei gemacht“.

Der Wettbewerb mit Statussymbolen. Echte Jeans, Beatbilder, Kofferradios. Stern Smaragd (3 Wochen Schuften in den Ferien) gegen Blaupunkt, dessen Besitzer so gelassen wirkte, „als wäre er in Drachenblut gebadet“.

Die Fahrt nach Berlin zum Treffen Junger Sozialisten. „Man sang Arbeiterkampflieder oder benahm sich wie auf dem Bau. (...) Fußballstimmung kam auf, nur daß man keinen Gegner hatte. Ich wollte mitbrüllen, schämte mich aber schon, nachdem ich mein erstes lautes Wort gehört hatte, und war wieder still.“

Massenrausch, der Jahre später im Katzenjammer enden und gegen einen anderen getauscht werden wird.

Und die echten Momente, auch sie sorgsam bewahrt. „Einmal ging es um mehr. 1973 besuchte uns eine chilenische Gruppe in Gera, fünf Chilenen, ebenfalls mit Feuer in den Augen. Ein Jahr später besuchten sie uns wieder - diesmal zu viert. Den fünften hatte Pinochet ermordet. ‚Venceremos‘ hieß die Hymne der jungen sozialistischen Andenrepublik. Ich sang das Lied (...) aus einer Haltung heraus, in der man mich hinters Gewehr hätte stellen können.“

Kann sein, daß manche Bilder weh tut, vielleicht unerträglich sind oder unansehnlich — aber sie sind wahr. Keine Fälschungen und keine glatten griffigen Ansichtskarten aus weit entlegener Lebenslandschaft. Die Markierungen führen nicht in die Irre. Mit dieser Landkarte der Erinnerung sind auch die eigenen Herkunftsorte zu finden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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