Eine Rezension von Hans-Rainer John

Geschichte über drei Generationen hinweg

Isabelle Hausser: NITSCHEWO
Roman.
Aus dem Französischen von Christel Gersch.
Rütten & Loening, Berlin 1996, 380 S.

Nitschewo (Macht nichts) ist der ironische Titel eines Buches, das den Drangsalierungen und Pressionen der Menschen während der siebzigjährigen Geschichte der Sowjetunion gewidmet ist, aber auch dem Widerstand gegen das Böse und der Bewahrung menschlicher Würde. Dabei handelt es sich nicht um Paukenschläge, große Aktionen oder ideologische Debatten. Die Autorin erzählt von einfachen Menschen, ihrem tiefen Leid und ihrer Solidarität, und ihr Buch ist zart und still, wie es wohl nur eine Frau zuwege bringt, und es ist über weite Teile sogar poetisch und sensibel. Der Roman ist sorgsam, aber kompliziert. Vier fast selbständige Kapitel führen über die Zeit von 1917 bis 1991 und schließen die Geschichte einer Familie ein.

Das erste Kapitel spielt 1917 in einem kleinen Lazarett. Im Mittelpunkt steht die Krankenschwester Marina, eine Frau von Sanftmut, Großherzigkeit und religiöser Inbrunst, tief in sich ruhend und umworben sowohl von dem hochbegabten Arzt Dr. Saizew als auch von einem der Patienten, dem hübschen und feinfühligen Hauptmann Dynkin. Da bricht die Revolution über den abgelegenen Ort herein, Leutnant Ossipow, der ihr fanatisch anhängt, läßt alle seine Kameraden, die losziehen sie zu bekämpfen, niedermetzeln und schießt ziemlich unmotiviert auch Dr. Saizew tot. Er ist kein sympathischer Typ, eher ein Finsterling ohne Samthandschuhe, wird natürlich Tscheka-Chef im Ort, und unbegreiflich und unerklärt bleibt, warum ihn Marina ehelicht.

Das zweite Kapitel führt ins Jahr 1991 und hat Natalja zum Mittelpunkt, die Enkelin Marinas. Sie ist Bauingenieurin mit einem Poetenherzen, sie ist fleißig, mitfühlend, intelligent und extrem oppositionell. Ihr Mann, ein berühmter Atomphysiker, hat sich kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl das Leben genommen, ihre Tochter ist todkrank. Ihre Mutter Nadeshda hängt den kommunistischen Idealen immer noch fanatisch an und kämpft um die Rehabilitierung ihres Vaters, der 1937 Opfer von „Säuberungen“ geworden war: Der Tscheka-Mann wurde nun selbst verhaftet, verurteilt, hingerichtet - die Revolution fraß ihre eigenen Kinder. Die Menschen, die mit siebzig verlorenen Jahren nicht umzugehen verstehen, leiden ...

Das dritte Kapitel ist wieder in den zwanziger Jahren angesiedelt. Im Zentrum steht der achtjährige Kolja, der mit seinen Geschwistern die scheinbar tote Mutter verläßt, um dem Waisenhaus zu entgehen, in eine Widerstandsaktion hinein und in die Hände der Tscheka, nämlich Ossipows, gerät. Da dieser im Dienstgebäude zugleich wohnt, nimmt er die Kinder zu sich, und diese lernen nun die sanftmütige Marina kennen, die freilich keinerlei Illusionen über das Treiben Ossipows haben kann. Durch eine Fülle unwahrscheinlicher Zufälle (Koljas Mutter war nur scheintot, der Vater kommt just aus dem Kampf zurück und bringt seinen Politkommissar zur Verstärkung mit ...) kommt Kolja schließlich wieder frei. Im Alter von 24 Jahren wird er allerdings in ein Lager kommen und sein Sohn Wsewolod in ein Waisenhaus.

Diesem Wsewolod nun ist das letzte Kapitel gewidmet. Er hat - von Adoptiveltern aufgezogen - eine brillante Karriere gemacht, ist zum Mitglied der KPdSU und Berater Gorbatschows aufgestiegen. Da meldet sich Kolja bei ihm, der 16 Jahre im Lager geschmachtet und seither die Entwicklung des Sohnes aus der Ferne beobachtet hatte, offenbart sich als Vater und bittet, Nadeshda aufzuspüren, mit der er ein Kind gezeugt, sie aber vor der Niederkunft verlassen hatte. Der erschütterte Wsewolod geht der Spur nach, stößt auf seine Schwester Natalja, lernt von ihr - ohnehin durch die Entwicklung nachdenklich geworden - die tatsächliche Lage des Volkes kennen und schließt sich dem Putsch gegen Gorbatschow an. Der Putsch scheitert, und Wsewolod endet im Gefängnis. „Ich komm dich besuchen, sooft ich kann“, verspricht Natalja.

Marina, Nadja und Natalja - drei Frauen zwischen 1917 und 1991, in deren Leben das politische Geschehen im Lande wie ein Verhängnis einbricht, und Rußland als ein Land, in dem man nicht glücklich werden konnte. Marinas Entscheidung für Ossipow bleibt allerdings ganz und gar unerklärlich, Motive werden nicht genannt, eine innere Zerrissenheit bleibt ungestaltet. Nadja ist mehr Nebenfigur, wird so recht plastisch nicht. Die Hoffnungen der Autorin liegen eindeutig bei den Jungen, bei Natalja und Wsewolod. Die Geschichte über drei Generationen hinweg suchte Isabelle Hausser mit einer Metapher zu verbinden und zu überspannen, zugleich ein Sinnbild für die verlorene Zeit, in der sich sieben Jahrzehnte sowjetischer Diktatur ereigneten: Es handelt sich um filigrane Kristallflakons, in denen Marina Schneeflocken zu bewahren sucht, deren Zerrinnen unabänderlich ist. Mit den Glasscherben, die sie von den zerberstenden Flakons retten will, bewahrt sie ein Stück Leben auf - für ihre Tochter und ihre Enkeltochter (die letzte Scherbe gibt Natalja an Wsewolod weiter). Leider wirkt das etwas gekünstelt, das Bild wird nicht so tragfähig wie etwa bei Aitmatow, der ähnliche Mittel einsetzt.

Die Autorin, 1953 in Südfrankreich geboren, Verfasserin mehrerer Romane, hat im diplomatischen Dienst gestanden und dabei fünf Jahre in Moskau verbracht. Sie hat sich nicht nur mit russischer Geschichte befaßt, sie ist auch tief eingetaucht in die russische Seele und in russisches Denken. Dabei ist sie ein großes literarisches Talent: Mit kurzen Strichen vermag sie Zeit und Umwelt, Natur und Stimmungen einzufangen und den Charakter ihrer Helden sicher zu umreißen. Was sie mitzuteilen hat, liest sich leicht und immer spannend, man nimmt tiefen Anteil bis zum Ende.

Dabei stößt man freilich auch auf Widersprüche und Ungereimtheiten als Ausdruck gestalterischer Schwächen, und insgesamt fragt man sich, ob das Bild Rußlands als Land des Bösen, das sie entwirft, stimmt. Leider gesteht sie keinem der ideologischen Gegner aufrichtige Motive oder edle Ziele zu, da ist überall nur Zynismus und Brutalität, und wenn alle Menschen (mit Ausnahme der privilegierten Apparatschiks) tatsächlich siebzig Jahre lang unter der Tyrannei nur gelitten und gestöhnt haben, woher kam dann der Heroismus der Massen während des Zweiten Weltkriegs? Hin und wieder wird doch spürbar, daß der Blick von außen kommt und daß mit der Latte eines westlichen Landes gemessen wird - wobei ich mir freilich sicher bin, daß die Autorin als große Humanistin ehrlich genug wäre, zum Beispiel die Verbrechen des Algerienkrieges in gleicher Weise zu brandmarken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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