Eine Rezension von Helmut Fickelscherer

„Untergang eines Menschen und einer Zeit“

Günter Görlich: Ein Anruf mit Folgen
Roman.
SPOTLESS-Verlag, Berlin 1995, 191 S.

Im Jahre 1978 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Günter Görlichs: Eine Anzeige in der Zeitung. Schon der erste Satz, „Anfang August, an einem Donnerstag, vermutlich in den Vormittagsstunden, nahm sich der Lehrer Manfred Just das Leben“, zog die Leser in seinen Bann, veranlaßte sie im folgenden zum Nachdenken über Manfred J. und dessen Sterben. Ein Selbstmord in der DDR-Literatur war nicht unumstritten, konnte doch diese privateste Art des Todes wie eine Absage an die „Verhältnisse“ wirken, und so war es für die buchbegleitenden Verantwortlichen eine Erleichterung, daß da eine schwere Krankheit des jungen Lehrers im Spiel war.

Nach der Wende nun sind Selbstmorde und auch Morde keine Seltenheit, und die Selbstzerstörung und die Zerstörung von Individuen gehören zu den Alltäglichkeiten, bewegen nicht das öffentliche Gewissen, höchstens die Redakteure der Boulevardpresse, sind Sache der Polizei. Und so meldet sich in dem Roman Ein Anruf mit Folgen telefonisch ein Kriminalkommissar bei dem Schriftsteller Robert Berger, teilt ihm den Tod des jungen Autors Jens Krause, dessen Mentor Berger zu DDR-Zeiten war, mit und erbittet Auskünfte, da auf dem Schreibtisch des Toten ein angefangener Brief an Berger lag.

Berger ist erschüttert über den Tod des jungen Mannes, der dem ersten Anschein nach Selbstmord verübt hat. Wie der Lehrer Herbert Kähne in Eine Anzeige in der Zeitung wissen will, weshalb sein Kollege Just gestorben ist, so forscht auch Robert Berger in seiner Betroffenheit den Spuren des Jens Krause und den Ursachen dieses Todesfalles nach.

Jens Krause, Sohn eines hohen Funktionärs auf Bezirksebene, nach dem Abitur für drei Jahre Soldat im Eliteregiment „Feliks Dzierzynski“, war ein begabter junger Autor. Berger, Mitglied der Nachwuchskommission des Schriftstellerverbandes der DDR, förderte ihn und setzte sich auch für ihn ein, als es Schwierigkeiten mit einer Erzählung gab, weil deren Hauptfigur, ein Soldat auf einem Wachturm im Zentrum Berlins, nicht nur die Flugzeuge vom Typ IL und TU beobachtet, die Schönefeld anfliegen, sondern auch die vom Typ Boeing, die Tegel zum Ziel haben, und darüber reflektiert. Krause wurde zum jungen Vorzeigeautor, fuhr zu einer wichtigen Konferenz: „Und was Jens Krause (dort) sagte, hatte Berger mit ihm vorbereitet. Der junge Schreiber hatte sich daran gehalten. Und es kam Zufriedenheit auf im Präsidium ...“

Aber das blieb nicht so. Die nächste Geschichte Krauses hatte einen pessimistischen Grundton und war in einer hektischen Sprache geschrieben. Jens Krause brach ein gerade erst begonnenes Geschichtsstudium ab und bewarb sich um ein Studium am Leipziger Literaturinstitut. Wieder wollte Robert Berger ihm den Weg ebnen, traf aber auf dogmatischen Widerstand in der Kommission: „Krause habe schon ein Studium abgebrochen. Ein Jahr sei sinnlos und unverantwortlich vertan ... sauer verdientes Geld der Werktätigen (werde) nicht für Extravaganzen ausgegeben.“

In der Sitzungspause der Studienkommission nahm sich der Sekretär für Nachwuchsfragen Robert Berger vor, er sei darüber informiert, daß Krause an der Universität einer Relegierung zuvorgekommen sei. Krause propagiere Glasnost und Perestroika und bringe sie auch in Bezug zur DDR-Gesellschaft. „... unter diesen neuen Gesichtspunkten ist eine Delegierung nach Leipzig nicht möglich ... Es ist besser, die Weichen heute zu stellen, als sich später größeren Ärger einzuhandeln ...“ Und die negativen Informationen über Jens Krause kamen natürlich vom „Großen Haus“ - „absolut zuverlässige Informationen“.

Nach der Sitzungspause funktionierte Berger wie gewünscht und formulierte auch noch die Ablehnung des Studienantrags, versuchte sich einzureden, dem Studienbewerber sogar einen Gefallen getan zu haben, indem er ihn aus der „Schußlinie“ nahm. Jens Krause wurde empfohlen, sich in drei Jahren erneut zu bewerben; bis dahin habe er neue Arbeiten vorzuweisen und der Abstand zum abgebrochenen Studium sei dann groß genug.

Diese Szene, die 1988 spielt, liest sich beklemmend, besonders wenn man bedenkt, daß ein Jahr später das „Große Haus“ mit seinem Staat wie ein Kartenhaus zusammenstürzte, nicht zuletzt aufgrund angestrebter Konfliktlosigkeit („Was wollen wir bloß mit unserer Forderung nach Ausgewogenheit? Probleme nennen, aber sofort in einen Gesamtzusammenhang stellen, nicht zuspitzen ...“), die zur gesellschaftlichen Agonie führte.

Wie schon in Eine Anzeige in der Zeitung - überhaupt hat der Autor eine ähnliche Struktur beider Bücher anscheinend bewußt geschaffen - gibt es im vorliegenden Roman einen „Nachlaß“ des Verstorbenen, hier Aufzeichnungen aus seinem Leben, die zur Klärung des Todesfalles beitragen sollen.

Berger, der auf abenteuerliche Weise in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt, liest nun nach, wie es bei Jens Krause zum Bruch mit dem Vater kam und wie Krause das Studium abbrechen mußte, weil er seine Kommilitonen und Professoren nicht länger ausspionieren wollte und die weitere Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst verweigerte, zu der er sich kurz nach der Armeezeit aufgrund seiner Erziehung ganz selbstverständlich verpflichtet hatte. Auch erfährt Berger, wie der von ihm selbst unterschriebene Brief mit der Ablehnung des Studiums am Literaturinstitut den jungen Schriftsteller traf: „Das war der Sturz aus großer Hoffnung in tiefe Enttäuschung.“

Gleich nach diesem Fehlschlag in der Lebensplanung verdingte sich Jens Krause bei einem Kohlenhändler, und trotz der schweren körperlichen Arbeit entstand ein weiteres Manuskript, das aber - nun nach der Wende - keinen Verleger fand. In dieser Zeit hatte er ein Verhältnis mit einer Gastwirtin, die ihm half, danach lernte er die junge Kellnerin Melanie kennen, die ihren Lohn mit ihm teilte, als er seine Arbeit beim Kohlenhandel verlor. Endlich schien sich ihm eine neue Chance zu bieten: Eine deutsch-russische Export-und-Import-GmbH stellte ihn als Dolmetscher und Kurier ein. Doch seine guten Russischkenntnisse wurden ihm letztlich zum Verhängnis; er entdeckte durch Zufall, daß sich die Geschäftstätigkeit dieser Firma nicht nur auf legale Waren beschränkte, und wollte aussteigen. Am Schluß war er ganz allein. Melanie hatte ihn entlassen, der Kontakt mit den Eltern war zerstört, die Firmenleitung bedrohte ihn ganz handfest. Wie ein Hilferuf wirkte der begonnene Brief an Robert Berger. Wenig später wurde Jens Krauses Leichnam gefunden, und manches blieb unklar.

Günter Görlich beschreibt dieses kurze Leben eines begabten jungen Autors, der sich immer wieder aus den Verstrickungen befreien wollte, in die er geraten war, weil es „das Märchen vom reinen Herzen“ in unseren Zeiten nicht gibt. Vor allem aber ist es die Geschichte des Schriftstellers Robert Berger, der Bilanz zieht, der sich nicht herausredet, wenn es ums eigene Versagen geht, der die Vergangenheit zu bewältigen versucht, aber auch die positiven Dinge dieser Vergangenheit herüberretten will in die andere Zeit. So kann man den Roman als sogenannten Wenderoman bezeichnen, aber es ist eben auch ein Buch von der Zerstörung der Unschuld, von den Auseinandersetzungen unserer Epoche, denen niemand entgeht. Wieder spielen die Verse Majakowskis eine Rolle: „Sterben ist hienieden keine Kunst. Schwerer ist's: das Leben baun auf Erden.“ Immerhin endet das Buch mit einem Lichtblick: Berger geht zu seinem Schreibtisch und arbeitet an einem neuen Manuskript ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite