Eine Rezension von Jens Uwe Seidnitz

Späte Pubertät von Kopf und Bauch

Frank Singielli: Funkstille Berührungen. Nicht nur ein Liebesbrief
Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997. 322 S.

Der Klappentext annonciert die Liebesgeschichte eines etwa 40jährigen Mannes zu einer Nachrichtensprecherin. Liest man hinein, will der Ich-Erzähler, mal Victor genannt, gleich die überaus emanzipierte Radiodame, Christine genannt, „festhalten, alles abtasten, was zwischen ihrem Bauch und seiner Leserstirn, dem Mund und Nabel ... für ihn zur Sendezeit relevant ist“. Und das gelingt dem Autor nicht gleich vollkommen, aber ausführlich.

Mit Erstaunen nimmt man den Roman in die Hand. Inbrünstig wird Pornographisches in zehn kabbalistisch angelegten Kapiteln geboten, von bisweilen hoher Intelligenz - denn er kommt aus anständigem papierverarbeitendem Hause. Funkstille Berührungen wäre vielleicht mal als Bildungsroman dahergekommen. Nun aber nach Kolle und Masters und Johnson wurd's ein freiflutendes Epos, das vom Lieben in all seinen wichtigen Abstufungen handelt. Denn, bei aller Aufklärung, sagte man sich sicher auch im Buchgewerbe: ist bis heute nicht relativ unbekannt, was in unserem eigenen Land tatsächlich sexuell passiert? Was konnte also Singielli besseres tun, als über Sex in seinen Varianten zu erzählen? Und doch, vielleicht traute er der Macht liebevoller Berührungen noch nicht ganz, denn ab und zu kocht und köchelt der Vater mit dem Sohne, wohl nicht nur des Essens wegen.

Als er durch Küchenarbeit in den eigenen Wänden die Frauen zu befriedigen sucht, vergleicht er sein männliches Wirken: „Die Küche der Frauen“, sagt der Protagonist des Buches ganz und gar unpornographisch, „ist jenseits von Prestigesucht und Egomanie angesiedelt. Die der Männer ist mit Macht und Unterwerfung gewürzt. Herz und Augen eines erlegten Bären ist mehr Beweis für Manneskraft als für Schlemmergenuß“, hört man den väterlichen Koch und Liebhaber sonstiger Befriedigungen auch dann noch sagen, wenn er sich wie eine standhaft koordinierende Chefsekretärin vorkommt, die zu berufsfremden Aufgaben abkommandiert ist.

Vom Eigenleben des Kindes, mit dem argumentiert wird, erfährt man wenig. Aber der Leser selber ahnt sicher, daß er nicht zum Erziehungsreader oder Kinderbuch greift, sondern zu einer Art epischem Report über späte Pubertät von Leib und Seele.

Nur ist der Autor im Roman gar kein ständiger Hörer, wie er vorgibt? Sondern vielleicht mehr ein manischer Erzähler, ein Mitleser poetischer Schlüpfrigkeiten, der seine Gelegenheit sucht?

In dieser Textfactory wird nicht das erste Mal eine Radiofigur, wahrscheinlich nachträglich eingefügt, literarisiert. Vor Jahren war es am Main derart, daß während der editorischen Wehen aus dem einfachen Frankfurter Vater ein Radiosprecher wurde im aufgepeppt exotischeren Bazarleben von Tunis - dazu noch zum „Sandmann“ frei nach E. T. A. Hoffmann, so die Legende! Ob Kalkül, ob nachträglicher Zufall? fragten sich damals nicht nur einige Leser.

Und hier: Singielli, ein Erzähler voll orientalischer Sinnlichkeit, mal im englisch humorigen Erzählstrom Sternes, mal den Randbezirken Jean Genets näher, hat es im Suhrkamp-Produkt auch aufs Aphoristische abgesehen. Darin liegt gewiß der Reiz, aber auch die Schwäche seines erotischen Realismus.

Scheinbar sicher in den Händen, gerät er dem Leser oft durch allzu maximale Reflexionen zur Blässe - oder zur bewußten, gar unfreiwilligen Komik, orientiert sich Singiellis Alter ego an „herabhängenden Bützchen an den Brüsten, den Düttelwarzen eines freundlichen Märchentiers, die dem jungmädchenhaften Klingelknopf-Alter entwachsenen langen steifen Zitzenenden gleichen ... O ihr Titten, euch stumme Kindertanten liebe ich! ... Euch sollt ich gleich im ersten Rausch der Frühlingsparfüme verschlingen“, ängstigt man sich noch als Autor und Leser, „um nicht während des Alterns vielleicht wie eine Blattlaus von Blättern, von alten Lederlappen überrascht und verdeckt zu werden? Du Hauseigentümerin, bist du mir das schwesterlich magere Gretel - oder mehr die märchenhafte, diesmal fette Hexe, die mich hier am nassen Kai vor Liebeslust fressen würde?“

Tempo nehmen auf einige schöne pointierte Stories im Langtext: Ein Zebra galoppiert beim mondänen Pferderennen; Rotlichtmilieusprache verbreitet sich am Hafenbecken; eine ergreifende, stille, doch herzzerreißende Familienstory des Erbes läuft ab (in dem womöglich lebende Personen verschlüsselt dargestellt sind).

Geschichten aus einer Literaturwerkstatt; alternierend mit unterhaltsamen literaturgeschichtlichen Einschüben, stehen neben Märchen, anakoluthisch (lyrisch) gebrochener Prosa, Telefonsex-Protokollen - und einigen Briefen, statt nur einem, laut Titel - auch hier kann sich der verfassende Mann kaum beherrschen.

Gerade die verschiedenen Stilmittel kennzeichnen Singiellis Textur. Zwar hätte der Rezensent dem Autor bei seiner erotischen Herz- und Schmerztour auf der Suche nach sich selbst mehr Verknappung seiner Seelenprosa empfohlen: hin zu seiner wahren Stärke, den von ihm nicht selten herrlich gelungenen aphoristischen Verklausulierungen von Lust. Aber was bliebe dann von der vom Verlag genannten Gattung Roman übrig?

Noch ist die ganze Wollust Singiellis ihm beim Schreiben anzumerken - wenn Textbilder obszön hart anecken oder zärtlich verschmust in frivoler bis trivialer Rede ausufern. Dichte Erzählpassagen zwischen den Personen, an den Knöpfen des Computers, in der taktilen Lust mit den Nippels, wechseln hin zu Szenen in Küche, Schreibwerkstatt und Büro. Alltagssprachliches vermeidet nicht immer Allgemeinplätze. Jedoch, wo Sprachspielerisches den Reigen des Autors etwa mit der geliebten Stimme, mit dem Schreiblehrer, mit allen Moralitäten und Bildern aufhebt, entsteht Authentizität, wird der Text identisch. Nimmt die Lust zu, ihn zu lesen. Wie in Musik schwingt er so im Wechsel zwischen romantischer Redundanz und expressionistischer Grelle, auch oder gerade während der Funkstille.

Eins hat Singielli erreicht: den ersten langen Roman zu schreiben, der ohne das Wörtchen „man“ auskommt. Bei soviel Rigorismus ist wirklich die Frage erlaubt: Ist der Singielli gar eine belle et triste Franka, eine Inkarnation der Frauenbewegung im Schmusekätzchenblock, nachdem in den 90ern die alten Feindbilder muffig, überholt, antiquiert sind?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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