Eine Rezension von Manfred Lemaire

Eine Wiener Melange

Johannes Mario Simmel: Träum den unmöglichen Traum
Droemer Knaur, München 1996, 640 S.

Es muß wohl das Geheimnis des Schriftstellers Simmel bleiben, warum er seinen Schriftsteller Faber schließlich umkommen läßt, plötzlich und fast nebenbei. Der Faden, der zu diesem bösen Ende führt, ist nicht eben stark gesponnen. Dennoch wird - Simmels Absicht - die Warnung vor alten und jungen Nazis deutlich, die sich in diesem und jenem Land tatkräftig bewegen, und wenn ein alter Brauner aus biologischen Gründen ausfällt, tritt an seine Stelle ein neuer, der den Faber erschießt. Simmel, gebürtiger Österreicher des Jahrgangs 1924, geht keineswegs zart mit Heimatstadt und Heimatland um. Wiederholt läßt er den Gefühlen seines Geschöpfes Faber freien Lauf, der die vielbesungene Stadt an der Donau aus überwiegend politischen Gründen so recht zum Kotzen findet. „Nein, dachte Faber, dieses Land hat niemals gebüßt und bereut.“ Und Faber, der das Denken nicht lassen kann: „Was geschehen ist, kann wieder geschehen, dachte er. Mitten in diesem Jahrhundert, mitten in Europa haben sich zwei zivilisierte Völker in einen Mörderstaat und eine Mördergesellschaft verwandelt.“

Hat Simmel auf seine etwas holzschnittartige, agitatorische Weise in dieses Buch mehr politisches Bekenntnis hineingeschrieben, als bei ihm üblich ist? Er neigt in diesem Punkt zwar nicht zur Abstinenz, diesmal aber macht sich ein ausgesprochen scharfer Ton bemerkbar, speziell was das heutige felix Austria betrifft, das er offenbar für wenig glücklich komponiert hält. Ist es die ehrenwerte Wut über einen Rechtsdrall, oder sieht Simmel besondere Gründe, sich zu distanzieren, gar zu rechtfertigen?

Aus dem Rahmen fällt auch, daß er das frühere Jugoslawien verklärt, die Verhältnisse unter Tito auf unerklärlich blauäugige Weise lobt. Alle glücklich in Sarajevo, solange Tito da ist und dieser Sozialismus: „Wenn es jemals wunderbaren Sozialismus gegeben hat, dann damals in Jugoslawien.“ Verständlich wird diese merkwürdig unrealistische Einschätzung eigentlich nur durch eine tiefe Trauer angesichts der Leiden und Opfer jenes Krieges, den zu beenden das ganze Europa so viele Jahre nicht in der Lage gewesen ist.

Der Schriftsteller Simmel ist nicht verpflichtet zu analysieren, wie dieser Balkankrieg zustande gekommen ist und warum er sich so lange halten konnte, sondern darf Mitleid mit den Betroffenen wecken. Er darf auch in der ihm eigenen schnulzigen Weise von der Vergangenheit träumen, wie er sie gesehen haben will: „Viele Vögel sangen in den alten Bäumen, und friedlich unterhielten sich Juden, Christen und Moslems, Bosnier, Serben und Kroaten miteinander in dem großen Garten.“ Wenn es denn so gewesen sein soll. Simmels Anliegen jedenfalls bleibt ehrenwert (diverse Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge lassen grüßen).

Für einen großen Leserkreis artikuliert dieses Buch menschliche Sehnsüchte, und es bietet eine Reihe humanistischer Bekenntnisse, denen Achtung zu zollen ist, unabhängig davon, ob man Simmels Schreibe goutiert.

Der Roman hat autobiographische Züge. Sie sind deutlich erkennbar und gehen so weit, daß Faber ausgiebig aus seinen Büchern zitiert, die Simmels Bücher sind. Zu bemerken sind auch Zeichen einer Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst. Dafür bringt er Fabers wiederentdeckte Geliebte aus schönen jugoslawischen Tagen ins Spiel, eine Frau mit dem Vornamen Mira, deutliche Anspielung auf das deutsche Wort Frieden. Ihre Tochter hat Faber einstmals einen Enkel geboren, von dem er bisher nichts ahnte, und dieser Goran liegt nun todkrank im Wiener Kinderspital. Mira also ermahnt ihren wiedergefundenen Faber, er möge über all seinem Zorn wegen der Neonazis nicht jene vergessen, die sich gegen dieses Pack stellen: „Und wenn du diese jungen Menschen, welche die Erwachsenen von morgen sein werden, im Stich läßt und einfach alle, alle haßt in dieser Stadt, in diesem Land, dann bestrafst du die Unschuldigen, die es wirklich besser machen wollen.“ Solche Sentenzen darf man wohl zu den eigentlichen Anliegen des Buches rechnen.

Selbstverständlich fährt der bewährte Autor wieder eine Reihe Geschütze auf, die Granaten mit aktuellem Zeitzünder verschießen. Er polemisiert gegen Medienrummel und gegen Quotenhurerei im Fernsehen. Er fordert dazu auf, Schluß zu machen mit der Lüge, nur die SS sei böse gewesen, die Wehrmacht dagegen nur gut, was ja die gängige Lesart aller rechtsgläubigen Deutschen und Österreicher sein sollte. Und dieser Faber ist noch dazu ein Deserteur, abgehauen aus des Führers stolzer Wehrmacht, was dieser Simmel gar nicht ehrenrührig findet. Er wendet sich gegen den nach wie vor grassierenden Rüstungswahnsinn. Und er streut selbstkritische Töne eines Schriftstellers ein, der es - ebenso wie andere seiner Zunft - mit der Wahrheit nicht immer so genommen hat: „Wir Fälscher! dachte Faber. Wir Fälscher.“ Er bedauert, daß sein Kaviar, der nicht immer sein muß, den meisten Lesern am besten geschmeckt hat.

Besonders brisant wird es bei der Organtransplantation, eine segensreiche medizinische Praxis mit großer Zukunft, aber auch schon ein ganz mieses Geschäft. Hier, ebenso wie beim Problemkreis Naturheilkunde, brennt der Bestseller-Autor Simmel sein Feuerwerk ab. Hier ist sein aktuelles, zeitkritisches, faszinierendes Thema, das er noch immer mit sicherem Sinn für Wirkung gefunden hat: Fabers eben entdeckter Enkel Goran, dessen Eltern im Krieg, in Sarajevo, umgekommen sind, braucht dringend noch einmal eine neue Niere, weil sein erstes Transplantat zu versagen droht.

Simmels Hauptthema in diesem Buch unterscheidet sich also in Zuspitzung und Treffsicherheit kaum von anderen Problemen, die er zuvor behandelt hat. Auch eine Machart, von der er offenbar nicht lassen kann, ist dem Leser vertraut: Alles muß vom Feinsten sein - die Nobelhotels, der beflissene altvertraute Portier, der Chauffeur, der Herrn Dr. Faber „in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder abgeholt und zum Flugplatz gebracht“ hat, natürlich in „einem großen Cadillac“, ein kleiner darf es nicht sein. „Die Klimaanlage flüsterte.“ Faber sitzt „im Fonds des lautlos dahingleitenden Cadillacs“.

Warum nur kann der Herr Simmel auf dieses kitschige Schlagobers nie verzichten!

Aber es ist eben doch nicht ganz die übliche Mischung. Gewiß, die gewohnten Versatzstücke sind da, man riecht die Chefärzte und die weißen Korridore, die salzige Brandung des Atlantiks am Strand von Biarritz und das unvergleichliche Parfum der Herzensdame. Es gibt wie immer - und das ist auf der Welt ja tatsächlich so - viel fremdes Elend. Es gibt genügend eigenen Schmerz und viel, viel Herz. Es gibt, wie üblich, eine Simmelsche Botschaft. Diesmal gilt es, den unmöglichen Traum zu träumen, nämlich „den unschlagbaren Feind zu schlagen, die untragbaren Sorgen zu tragen und tapferer als die Tapfersten vorwärts zu streben ... Tun wir unser möglichstes ...“ Dennoch bleibt es noch auf eine andere Weise, jenseits der aktuellen Politik, nicht ganz bei der bekannten Mischung. Da klingt ein deutliches memento mori in den Ohren, des homo Faber, des über siebzig Jahren alten herzkranken Mannes, der physische Ausfälle erleidet und psychische Ängste überwinden muß. Da sind leisere Töne als sonst bei Simmel, etwa die Erkenntnis seines Faber, wie sehr Leben und Mitleid haben zusammengehört. Da liest sich manche Beschreibung eines Ortes, eines Hauses, eines Menschen wie Abschiednehmen. Ein Simmel, der sich härter zu seiner Heimat, ungeduldiger zu den Gebrechen dieser Welt und seinem Verhalten zu sich selbst äußert. Ihr Publikum findet diese Wiener Melange gewiß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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