Eine Rezension von Christian Böttger

Jugendgruppengewalt aus ethnographischer Sicht

Hermann Tertilt: Turkish Power Boys
Ethnographie einer Jugendbande.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, Tb., 262 S.

Bereits 1990 gründeten türkische, meist in Deutschland geborene Jugendliche, in Frankfurt am Main die Jugendbande „Turkish Power Boys“, die bald schon etwa 50 Jungen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren umfassen sollte. Von ihrem Traditionsverständnis, ihren Erfahrungen, moralischen Grundsätzen und Wertvorstellungen, aber vor allem von ihren antigesellschaftlichen Aktivitäten handelt diese auf teilnehmender Beobachtung basierende Feldstudie. Dabei wird die Bandenbildung als Lösungsversuch gemeinsamer Problemlagen innerhalb der zweiten Einwanderergeneration interpretiert.

Im ersten Teil befaßt sich der Autor mit der Geschichte der Bande bis zu ihrer Auflösung 1992. Im zweite Teil werden drei Bandenmitglieder und ihre jeweilige Familiensituation porträtiert. Die Wertorientierungen und Verhaltensmuster, festgemacht an den Begriffen Freundschaft, Männlichkeit, und Gruppendelinquenz, stehen im Mittelpunkt des dritten Teils der Untersuchung. Das Phänomen der Gewalt, ihre gesellschaftlichen Ursachen und ihre soziale Funktion durchziehen das gesamte Buch wie ein roter Faden. Kernstück dieser Gewaltdelikte, die teilweise mit unbeschreiblicher Brutalität ausgeführt wurden, war das sogenannte „Jacken-Tokat“, eine Form des Straßenraubs, die 1989 erstmalig bei Berliner Cliquen festgestellt wurde und sich ab 1990 auch in Frankfurter Jugendbanden verbreitete. Objekte dieser Raubüberfälle waren vor allem modische Fliegerjacken, Lederjacken und Chevignons, die als Markenprodukte Prestigecharakter angenommen hatten. Zentrales Moment bei einem solchen Überfall war nicht der Diebstahl als solcher, sondern die auf den ersten Blick nicht nachvollziehbare Demütigung des Opfers. Nachdem die stets zahlenmäßig überlegenen Jugendlichen ihr Opfer schon beraubt hatten, wurde der bestohlene Junge (immer eine Einzelperson) noch geschlagen, meistens auch brutal zusammengeschlagen (S. 235 ff.). Diese Art der irrationalen Gewaltanwendung nach vollzogenem Raub hatte eine Funktion sowohl nach außen als auch nach innen. Zum einen versuchten die Jugendlichen sich als Bande in ihrem Stadtteil Respekt zu verschaffen, sich einen Namen zu machen. Zum anderen wollten die einzelnen Täter den Gruppenmitgliedern auch beweisen, daß sie im Ernstfall zur physischen Gewaltanwendung fähig und somit „würdig“ sind, zur Bande zu gehören. Opfer dieser spezifischen Form von Jugendgruppengewalt waren stets nur deutsche Jugendliche, die wie Haßobjekte behandelt wurden. Als Motiv für diese rassistische Selektion ihrer Opfer gaben die Täter die gewachsenen ausländerfeindlichen Aktivitäten nach der Wiedervereinigung an. Geschichten über „Nazis“ kursierten regelmäßig in der Gruppe und dienten der Legitimation des Zusammenschlusses; über direkte Erfahrungen mit Gewalt gegen Ausländer oder von Ausgrenzung und Herabwürdigung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit konnte aber kein Jugendlicher Auskunft geben (S. 21 und S. 100). Rassistische Übergriffe waren ihnen lediglich aus Erzählungen bekannt.

Obwohl der Ausländeranteil in dem Stadtteil Frankfurts, wo die Jugendlichen aufgewachsen waren, nicht größer ist als im Durchschnitt der Stadt, gab es keinerlei Kontakte zu deutschen Jugendlichen, und sie wurden auch nicht gesucht. Die Jugendlichen erklären das durchweg mit Mentalitäts- und Kulturunterschieden: „Mit Deutschen Freundschaft bilden, ist nicht das Richtige. Weil: man kann mit denen nicht klar auskommen. Die haben andere Gedanken wie wir.“ (S. 28) „Ich kann mit Deutschen nicht so reden wie mit Türken. Wenn ich mit Yildirim und Faruk zusammensaß, dann haben wir gesungen, türkische Musik, türkische Lieder über die Liebe, über das Leben hier, und so. Da gibt es viele Lieder. Und diese Freundschaft war auch anders. Wir waren ja wie Brüder. Das ist mit Deutschen nicht so. Ich kann mir nicht vorstellen, zu einem Deutschen zu sagen, du bist mein Bruder. Weil: ein Bruder, der teilt alles. Und das gibt's (unter Deutschen) nicht. Man sitzt mit seinem Bruder, man trinkt, man grüßt sich, man küßt sich beim Grüßen auf die Backen. Auch wenn man getrunken hat und ein bißchen betrunken ist, weißt du, diese Musik, das Tanzen, das Reden über die Türkei, das Reden über alles mögliche. Ich wüßte nicht, was ich mit einem Deutschen reden sollte, wenn ich trinke. Über was soll ich denn reden? Über Mädchen? Der denkt anders über die Mädchen. Wie willst du darüber reden? Da ist diese Distanz, weißt du, die haben immer Distanz ...“ (S. 103)

„Ich kann zwar auch mit einem Deutschen weggehen, in eine Disco oder so. Aber da ist jeder auf was anderes aus, da ist nicht diese Brüderlichkeit.“ (S. 100)

Die Ursachen für diese in den Aussagen sichtbar werdenden Selbstethnisierungstendenzen der zweiten Einwanderergeneration sieht der Autor allerdings nicht allein in den im Buch zahlreich beschriebenen Mentalitätsunterschieden, und so folgt er damit auch nicht blind seinem eigenen empirischen Befund. Besonders in dem Kapitel, das sich mit Wertorientierungen und Verhaltensmustern beschäftigt, tritt dieser kulturelle Unterschied deutlich zutage. Das Verständnis von Männlichkeit beispielsweise sei - so der Autor - bei türkischen Jugendlichen keineswegs an deutschen Maßstäben zu messen. Das zeigt sich besonders an einem völlig anderen (orientalischen) Verständnis der Jugendlichen von Homosexualität. Mit einem „schwulen“ Verhalten assoziierten die Jugendlichen nicht in erster Linie einen intimen Kontakt zwischen Männern, „sondern ein Auftreten, dem Unerschrockenheit und Souveränität fehlten“ (S. 194). Der ungezwungene und liebevolle, oft auch nach unserem Verständnis erotisch anmutende Körperkontakt zwischen den Jungen hingegen galt für sie als ein Ausdruck von „Freundschaft“. Auch in einer konkreten homosexuellen Handlung galt nur derjenige als „schwul“, der die passive Rolle dabei übernahm. Den distanzierten Umgang deutscher Männer zu Angehörigen ihres eigenen Geschlechts werteten sie offensichtlich als einen Ausdruck von Gefühlskälte der Deutschen.

Diese sich von der deutschen Sicht unterscheidende Auffassungsweise verdeutlicht nur beispielhaft den Gegensatz der kulturellen Lebenspraxis von Deutschen und Türken. Dennoch will der Autor die sogenannte „Kulturkonflikttheorie“ als Erklärungsmuster für die Bildung von Jugendbanden allein nicht gelten lassen. Sie besagt, daß die „Einwanderer“ in ihrem Verhalten von den Werten und Normen ihrer Herkunftskultur geprägt sind und daß diese mit den Wert- und Normvorstellungen des neuen Lebensraumes in einem unvereinbaren Gegensatz stehen, woraus sich psychische Spannungen ergeben. Statt dessen versucht er, die Argumente der „Theorie der sozialstrukturellen Benachteiligung“ mit in seine Betrachtungen einzubeziehen. Diese rückt vor allem die soziale, ökonomische und rechtliche Diskriminierung in das Zentrum ihrer Betrachtungsweise.

Das eigentliche Problem im Zusammenhang mit der Bildung von ethnisch orientierten delinquenten Jugendbanden sieht der Autor in der fehlenden Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, die Kultur der Migranten als gleichwertig anzuerkennen und als einen Wert zu achten.

Doch ist eine solche, alle Lebensbereiche umfassende Forderung so einfach in die Praxis umzusetzen? Vom ersten Schultag an werden die türkischen Kinder mit den Werten und Spezifika einer christlich-abendländischen Kulturtradition vertraut gemacht, die sie von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr als die ihre erkennen. Das betrifft nicht nur den Geschichts- und Literaturunterricht, sondern fängt schon in den ersten Schuljahren mit Liedern, Sagen und Märchen usw. an. Der als Alternative dazu gedachte, in weiten Bereichen bereits vollzogene Versuch einer „multikulturellen“ Gestaltung des Schulunterrichts - eine spezifisch westdeutsche pädagogische Schulpraxis - hat dazu geführt, daß den meisten jüngeren Deutschen ihr eigenes Kulturerbe weitgehend unbekannt ist. Wie soll aber jemand, der seine eigene Kultur nicht mehr als Wert achtet, weil sie ihm nicht vermittelt wurde, die Kultur der Migranten achten und anerkennen?

Die „Selbstethnisierung“, das Sichzurückziehen türkischer Jugendlicher auf die Kulturäußerungen der Herkunftskultur, ist also nicht nur eine Reaktion auf die Ignoranz und Geringschätzung dieser Herkunftskultur durch die deutsche Gesellschaft. Wer ein solches Denken zur Voraussetzung hat, verrät sich selbst als ein solcher Ignorant, denn er geht davon aus, daß die ethnisch-kulturelle Assimilation der zweiten Einwanderergeneration der Normalfall wäre. Hier wird ganz explizit die Problematik des „ethnischen Selbstbewußtseins“ berührt, die in der Ethnographie eine zentrale Rolle spielt. Es waren in den vergangenen Jahrzehnten vor allem ehemalige sowjetische Ethnographen - Kozlov, Ceboksarov, Agaev, Bromlej und Gumilev seien hier als Beispiele genannt -, die sich in zahlreichen Publikationen mit dieser Frage anhand der Verhältnisse in der ehemaligen UdSSR, die ebenfalls durch eine multiethnische Wirklichkeit gekennzeichnet war, auseinandergesetzt haben. Die dabei erzielten Forschungsergebnisse zeigen übereinstimmend, daß ein ethnisches Selbstbewußtsein im Kindesalter generell noch nicht vorhanden ist, sondern erst in späteren Jahren, etwa mit der Pubertät, entsteht.

Gerade in diesem Entwicklungsabschnitt setzt auch bei vielen in Deutschland geborenen türkischen Jugendlichen ein unregelmäßiger Schulbesuch ein, der sehr häufig zu einem vorzeitigen Verlassen der Schule führt. Ursache hierfür ist z. T. eben auch eine stärkere Wahrnehmung der kulturellen Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden in der Pubertät. Ein Teufelskreis beginnt: Ohne Schulabschluß kein sozialer Aufstieg, ohne Zukunftschancen keine Aktzeptanz der gesellschaftlichen Normen, und das Abgleiten in Drogenkonsum und Kriminalität folgt fast zwangsläufig.

Hermann Tertilt ist also grundsätzlich zuzustimmen, wenn er die Ursachen für das von ihm beschriebene Phänomen nicht allein auf die kulturelle Verschiedenheit (Kulturkonflikttheorie) zurückführt. Sie nehmen aber hier ihren Ausgangspunkt.

Der Autor beklagt vor allem auch die rechtliche Benachteiligung der türkischen Jugendlichen in Deutschland. Sie verfügten über keine politische Vertretung in der Aufnahmegesellschaft und könnten deshalb nur unter erschwerten Bedingungen ein Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft entwickeln. Aber handelt es sich denn rechtlich um „Einwanderer“ im klassischen Sinne? Einwanderer - und hier sollten die Begriffe sauber getrennt werden - beabsichtigen eben vom ersten Tag ihrer Ankunft in der neuen Heimat an, die Staatsbürgerschaft ihrer Aufnahmegesellschaft anzunehmen und sich als neue Staatsbürger nur dem Aufnahmestaat gegenüber loyal zu verhalten. Genau das wird aber von der großen Mehrheit der heute in Deutschland lebenden Türken aufgrund eines stark ausgeprägten Nationalgefühls abgelehnt.

Hermann Tertilt hat als Autor dieses Buches empirische Forschungsergebnisse vorgelegt, die in ihrer Einmaligkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Sie beschreiben detailliert eine von den Medien weitgehend ausgeblendete, verborgene Wirklichkeit, die in der Regel nur von bestimmten Altersgruppen und den Betroffenen selbst wahrgenommen wird. Werner Schiffauer, ein anderer auf ethnologischem Gebiet arbeitender Autor, bezeichnet diese Feldstudie als „die wichtigste Arbeit zur Ethnologie der Arbeitsmigration, die in den letzen Jahren erschienen ist“. Dieser Meinung kann sich der Rezensent nur anschließen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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