Eine Rezension von Bernhard Meyer

Leben mit Aids

Frank Schemmann: Ich bin HIV-positiv.
Wie schwule Männer ihre Infektion verarbeiten.
Herausgegeben von Karl-Oswald Bauer.
MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 1996, 168 S.

Der Autor lebt nicht mehr. Er starb 1992 an Aids, war schwul und seit 1985 HIV-positiv. An der Ruhr-Univeristät Bochum studierte er Sozialwissenschaften; mit der vorliegenden Arbeit schloß er im Todesjahr das Studium ab. Sein Intim-Freund und Begleiter in den Tod hat vier Jahre später die sozialwissenschaftliche Abschlußarbeit im Sinne des Autors überarbeitet und herausgegeben. So liegt nun eine sozialwissenschaftliche Studie über die Lebensbedingungen HIV-positiver schwuler Männer vor, welche die Tatsache stützt, daß der Virus wie die psychosoziale Situation „krankmachendes Potential“ für die Betroffenen besitzen. (S. 138) Mag die Thematik auf einen kleineren, aber besonders betroffenen Personenkreis eingegrenzt erscheinen, einige wesentliche Grundaussagen lassen sich generalisieren.

Der vorgelegte Text ist im Stile einer wissenschaftlichen Arbeit geschrieben, bisweilen sehr theoretisch, spröde auch, weil wissenschaftlicher Sprachstil und Fachtermini gepflegt werden, was die allgemeine Verständlichkeit erschwert. Doch von Anbeginn stellt sich ein Mitgefühl ein, denn der Autor weiß nicht nur um die wissenschaftlichen Details, er erlebt die Krankheit selbst. Wissend um die Desiderate, plädiert Schemmann „für eine sozialwissenschaftliche Aids-Forschung, die im Rahmen einer interdisziplinären Gesundheitswissenschaft das menschliche Leid bekämpft, welches durch die Aids-Krise entstanden ist“. (Vorwort)

Die Arbeit läßt sich in drei große Abschnitte gliedern. Da geht es zunächst um die medizinischen und biologischen Aspekte von Aids mit dem besonderen Blick auf die „gesellschaftliche Konstruktion einer Krankheit“. Für den Autor bedeutet dies, die gespannten Beziehungen zwischen den Schwulen (und Fixern) als der hauptsächlich Aids auslösenden amoralischen Minderheit am Gesellschaftsrand sowie der vermeintlich moralisch einwandfreien Mehrheit als Gesellschaftsträger eingehend zu untersuchen. Es folgt der wenig überzeugende Abschnitt über die Methodik der durchgeführten qualitativen Feldstudie. Die folgenden Deutungsmuster wiederum sind hochinteressant, denn sie greifen mitten in das bundesrepublikanische Alltagsleben nicht nur schwuler HIV-Positiver. Da wird eindringlich über die Reaktion der Betroffenen auf die ärztliche Mitteilung des Positivseins eingegangen, das für viele noch immer gleichbedeutend mit einem zumindest medizinischen Todesurteil ist. (S. 65) Aber es kommt noch schlimmer, denn nunmehr stellt sich mehr als ein „bedrückendes Geheimnis“ (S. 79), verbunden mit einer „sozialen Minderbewertung“, ein. (S. 88) Dieses medizinische „Ausgeliefertsein“, das Warten auf das, was da kommen kann, aber nicht kommen muß, die soziale Ächtung, Isolierung, Kategorisierung - all das stellt eine bis zur äußersten Grenze gehende psychologische Belastung für jeden HIV-Positiven dar, um einiges mehr für den, der aus einem bestimmten Milieu kommt. Bedenklich auch das teils hilflose, teils schroff abwehrende Verhalten von Ärzten gegenüber diesem Personenkreis. (S. 96) Über allem thront die erschreckende Unwissenheit großer Teile der Bevölkerung hinsichtlich einer ihnen als „moderne Lustseuche“ interpretierten Geschlechtskrankheit. Schemmann motiviert Betroffene, aktiviert sie, versucht ihnen die „HIV-positiv-Situation“ auch als Herausforderung nahezubringen, ehe er zu einer Zusammenfassung mit Ausblick anhebt.

Karl-Oswald Bauer fügt der Arbeit von Schemmann einen einfühlssamen Epilog an. Hier wird erst so recht spürbar, wie dem Autor die Trennung von wissenschaftlicher Untersuchung und eigener Betroffenheit gelang. Schemmann besaß seine eigenen Deutungsmuster, wie z. B. „Im Umgang mit Aids sei dein eigener Experte“.(S. 148) Wer wie er diese (oder irgendeine andere lebensbedrohnende) Krankheit anzunehmen in der Lage ist, sich wissentlich damit auseinandersetzt und seine ganz persönlichen Konsequenzen aufstellen und einhalten kann, der verhilft sich letztlich zu einem zwar verkürzten, aber erfüllten Leben.

Obwohl die medizinischen und sozialen Aspekte von Aids in der vorliegenden Schrift nur von schwulen Männern abgeleitet werden, liegt hierin zugleich viel allgemeines für andere HIV-Positive wie für unsere Gesellschaft und jeden einzelnen. Wie sagen doch Insider? Ein Virus ist an keine Moral und Weltsicht gebunden, es kennt nur das Gesetz der Wahrscheinlichkeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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