Eine Rezension von Rudolf Kirchner

Kein „einfaches“ biographisches Lexikon

Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE)
Herausgegeben von Walther Killy + und Rudolf Vierhaus
Band 5: Hesselbach - Kofler
K. G. Saur Verlag, München 1997, 680 S.

Bereits der Name verrät den Anspruch. Kein einfaches biographisches Lexikon wird hier erarbeitet, sondern eine umfassende Enzyklopädie, die letztlich 60 000 Personen des deutschsprachigen Raumes durch alle Zeiten und aus allen Bereichen enthalten soll. Die ersten vier Bände haben schon gezeigt, wie man diese gewaltige Aufgabenstellung einlösen will. Auch der vorliegende Band 5 geht von den im Vorwort des Ersten Bandes bestimmten Kriterien aus, nämlich 1. solche historischen Personen aufzunehmen, die von weitreichender Bedeutung - auch für die nachfolgende Zeit - sind, und 2. solche Personen aufzunehmen, die in ihrer eigenen Zeit großen Einfluß besaßen. In den Biographien soll das Faktische festgehalten, auf Bewertung und Zensuren verzichtet werden. Tatsächlich werden auch bei der hier dargestellten Buchstabengruppe alle Zeiten - vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart - und alle Lebensbereiche biographisch erfaßt.

Natürlich entstehen bei aller angestrebten Vollständigkeit gewisse Probleme, die sich einerseits aus dem selbstgesteckten Ziel - deutschsprachiger Raum - und andererseits aus der Materiallage ergeben. So sind z. B. unter dem Aspekt „deutschsprachiges Gebiet“ tschechische Personen aufgenommen worden, weil sie offensichtlich zum Einzugsbereich der k. u. k. Monarchie zählten. Problematisch erscheint die Aufnahme von Holbach allein wegen seiner deutschen Herkunft oder von Arthur Koestler, der seine Arbeiten zuerst ungarisch, dann einige Jahre deutsch und schließlich englisch schrieb. Die Konsequenz wäre, daß viele der Emigranten, die später in den USA, in Großbritannien oder in Israel wirkten, ebenfalls aufgenommen werden müßten. Auch die Frage nach Repräsentanten der Rußland-Deutschen oder der Banat-Deutschen würde sich damit stellen. Schließlich ist auch der dynastische Aspekt nicht ohne Tücken. Da man Katharina II., die russische Zarin, unter dem Aspekt ihrer deutschen Herkunft in die Enzyklopädie aufgenommen hat, müßte man eigentlich konsequenter Weise alle Fürstenhäuser nach ihren deutschsprachigen Verbindungen untersuchen - und dann die jeweiligen Personen aufnehmen. Allein die Habsburgerin Maria Theresia hinterließ durch ihre Heiratspolitik in den europäischen Fürstenhäusern 29 männliche und 44 weibliche Nachfahren!

Ein weiteres Problem erwächst aus der Materiallage. Es gibt viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die biographisch gut und umfassend aufgearbeitet vorliegen, sowohl in den großen Nachschlagewerken „Allgemeine Deutsche Biographie“ (ADB) und den bereits erschienenen Bänden der „Neue Deutschen Biographie“ (NDB), als auch in vielen speziellen Lexika zur Kunst und Literatur, zur Politik, zur Wissenschaft, zur Religion usw. Aber es existieren ebenso wichtige Bereiche, die biographisch nicht in gleicher Weise vorgearbeitet worden sind. Das betrifft z. B. die Wirtschaft, das Handwerk, das Bankwesen, das Kommunalwesen und - erstaunlicherweise - den Sport. Selbst ein Goldmedaillengwinner von Athen 1896 und aktiver Förderer der deutschen olympischen Bewegung wie Fritz Hofmann (1871-1927) hat wohl deshalb hier keine Aufnahme gefunden. Hinzu kommt, daß insgesamt dem Wirken der Frauen in den verschiedensten Lebensbereichen der Gesellschaft wenig biographisches Augenmerk gewidmet worden ist. Erst in der jüngsten Zeit nehmen Nachschlagewerke zu, die sich ausschließlich mit den Künstlerinnen, den Technikerinnen, den Politikerinnen usw. befassen.

Diese unterschiedliche Materiallage widerspiegelt sich natürlich auch im vorliegenden Band. Unter den ausführlicheren Biographien - zwischen einer und mehr als drei Spalten - befindet sich kein einziger Industrieller, kein Banker, kein Erfinder und mit Ricarda Huch nur eine einzige Frau. Während Karl Eugen zwei Spalten, Holbein weit über drei Spalten und Franz Kafka drei Spalten zur Verfügung stehen, bleiben für Hugo Junkers oder Alfred Hugenberg eine halbe Spalte, für Emil Kirdorf eine drittel Spalte. Unter den acht großen Beiträgen (drei und mehr Spalten) befinden sich mit Holbein, Hölderlin, Kafka und Kleist vier Künstler, zwei Denker (Kant, W.v.Humboldt) und zwei Politiker (Hitler, Kaiser Karl).

Überhaupt erscheint die quantitative Zuteilung nicht immer mit den Wirkungskriterien der einzelnen Persönlichkeiten übereinzustimmen. So ist nicht einzusehen, warum Uwe Johnson oder Joseph II. (je 2 Spalten) doppelt soviel Platz erhalten als Ulrich von Hutten oder Robert Koch, warum man für Himmler ebensoviel Platz bereithält wie für Klopstock, Hofmannsthal oder Hindenburg, warum Denker wie Jacobi, Jung oder Jaspers weniger Raum zur Verfügung haben als Personen wie Honecker, Kippenberg, C. Ihering. Sicher sagt diese quantitative Seite noch nichts über den Inhalt aus, aber wenn man in der Biographie Holbeins für die Jahre 1532/33 mehr Platz benötigt als für die ganze Biographie Kempinskis, wenn zur Darstellung der Ereignisse von 1919 in der Hitler-Biographie doppelt soviel Zeilen zur Verfügung sind als für das ganze Leben des Berliner Industriellen Wilhelm Kahlbaum, dann wird aus der quantitativen Seite natürlich auch eine der Qualität.

Insgesamt liefert der Band 5 jedoch eine interessante Erschließung einer Vielzahl von Persönlichkeiten, darunter auch weniger bekannter. Die Texte sind informativ, der Nachschlagcharakter steht im Vordergrund. Die genormte Darstellung - vom Namen über die Kurzcharakteristik und die Geburts- und Sterbedaten bis zum Text und zu einer weiterführenden Quelle - erleichtern das Lesen und Finden. Die Sprache entspricht in den meisten Fällen dem lexikalischen Anliegen, ohne jedoch zu sehr zu verknappen. Gut ist auch, daß auf die oft in Nachschlagewerken anzutreffende massive Anwendung von Abkürzungen weitestgehend verzichtet wurde. Die Fakten erscheinen recht sicher, was ja für den Nutzer von besonderer Bedeutung ist. So ist damit zu rechnen, daß in den biographischen Quellen sehr bald neben den schon eingebürgerten Abkürzungen ADB und NDB auch das Kürzel DBE einen herausragenden Platz einnehmen wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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