Eine Rezension von Angela Nolte

Realpolitik gegen „Weltrevolution“?

Walter Post: Unternehmen Barbarossa
Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41
E.S. Mittler & Sohn, Hamburg 1995, 450 S.

In den letzten Jahren wenden sich Historiker wieder zunehmend der These zu, daß Deutschland mit dem Überfall auf die Sowjetunion einem Angriff der Roten Armee zuvorkam. So Joachim Hoffmann mit seinen Beiträgen in Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg und Werner Maser mit dem Buch Der Wortbruch. Hier reiht sich nun Walter Post ein. Er möchte beweisen, daß abgeleitet von Lenins Kriegstheorie, die Rote Armee als „Instrument der Weltrevolution“ einen „revolutionären Angriffskrieg“ gegen Deutschland plante und vorbereitete und das Deutsche Reich aus „realpolitischen Gründen“ diesem Angriff nur vorgriff. Er baut hierbei Aussagen und Dokumente aus der sowjetischen Literatur über den „Großen Vaterländischen Krieg“ und aus neueren russischen Veröffentlichungen in seine Argumentation ein. Post folgert aus ihnen: „Mit diesen Dokumenten ist zweifelsfrei nachgewiesen, daß die sowjetische Führung den erwarteten Krieg mit Deutschland offensiv führen wollte.“ Das ist natürlich nicht sonderlich neu. In der seit Jahren in deutscher Sprache vorliegenden Memoirenliteratur wurde die einseitige Bevorzugung „tiefer Angriffsoperationen“ in den sowjetischen Streitkräften mit allen sich daraus ergebenden Folgen dargestellt. So erläutert etwa Marschall Shukow die irrige Annahme der sowjetischen Führung, daß nach einer deutschen Kriegserklärung einige Tage verstreichen würden, in denen nur kleine Grenzgefechte stattfinden. Die Rote Armee hätte dann noch genügend Zeit, sich zu formieren und zum Angriff überzugehen. Wie bekannt, nahm der Kriegsbeginn durch den blitzartigen Aufmarsch der deutschen Streitkräfte einen anderen Verlauf.

Walter Post dient die offensive Ausrichtung der Roten Armee als Beleg für die sowjetische Vorbereitung auf einen „revolutionären Angriffskrieg“. Ebenso erscheinen ihm zwangsläufig die Säuberungen in der Sowjetunion, bei denen ein Großteil der alten militärischen Eliten ins Lager oder in den Tod geschickt wurden, in einem anderen Licht. Diese hätten zu keiner Schwächung der sowjetischen Armee geführt, und als Kronzeuge fungiert hier kein Geringerer als der Generalissimus höchstpersönlich. In dem Zitat der Stalinrede auf dem XVIII. Parteitag werden dafür u. a. Wahlergebnisse von 98,6 % angeführt. Wenn das kein Beweis ist.

Während für die sowjetische Politik gilt: Aussage gleich Plan gleich Aktion, geht Post völlig anders an die nationalsozialistische Politik heran. Hier darf man offensichtlich weder Äußerungen führender Politiker ernst nehmen, geschweige denn irgendwelche Pläne.

Das Kapitel „Ostorientierung und Ostpolitik“ aus dem zweiten Buch von Mein Kampf, in dem sich Hitler mit dem zu erobernden Lebensraum im Osten beschäftigt, könne nur aus der konkreten Situation des Jahres 1926 verstanden werden. Aufgrund der Einschätzung der Stalinschen Säuberungen als antijüdisch und national habe sich Hitlers Haltung gegenüber Rußland gewandelt. Hitler machte allerdings die Eroberung von Lebensraum im Osten durchaus nicht nur von einer „jüdisch-bolschewistischen Herrschaft“ dort abhängig. Das gilt für das Lebensraumkonzept ebenso wie für die Forderung in Hitlers „politischem Testament“: „Duldet niemals das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa! Seht in jeglichem Versuch, an den deutschen Grenzen eine zweite Militärmacht zu organisieren, ... einen Angriff gegen Deutschland.“

Walter Post versucht, Entscheidungen und Taten der deutschen Führung im Zweiten Weltkrieg bis zum „Zusammenstoß“ mit der Sowjetunion als Konsequenz vor allem kriegswirtschaftlicher Zwänge aufzuzeigen. Die Wehrmacht mußte nach Norwegen, weil es dort Molybdän gibt. Sonst hätten die Engländer sich dort breit gemacht und damit eine tödliche Bedrohung für das Deutsche Reich dargestellt. Diese tödliche Bedrohung stellten die Briten allerdings auch dar, wenn sie nur auf ihrer Insel blieben. Nach Rumänien hatte das Deutsche Reich militärische Unterstützung zu senden, weil es auf die rumänischen Erdölfelder angewiesen war. Ganze fünf Monate hätte man ohne dieses Erdöl noch Krieg führen können. Und Finnland? Da hatte Hitler Nickel entdeckt, welches ebenfalls unentbehrlich zum Kriegführen war. Außerdem hätte über Finnland wieder Norwegen gefährdet werden können, und von Norwegen wäre, wie wir wissen, Deutschland einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen und so weiter.

Zwangsläufig dehnte sich das deutsche Interessen- und Machtgebiet immer weiter und weiter aus. „Wieder spielten luftstrategische und wehrwirtschaftliche Überlegungen eine entscheidende Rolle im Denken Hitlers.“ Derartige Überlegungen und Interessen sieht Post als Zweck und Wert an sich und nicht im Dienst einer bestimmten Politik.

Von einem Vernichtungskrieg im Osten will der Autor demzufolge nichts wissen. Äußerungen, wonach Hitler in den besetzten Ostgebieten den Bau von Städten nur für Deutsche und die anderen Siedler aus Skandinavien, den Westländern und Amerika befürwortete und die „Eingeborenen“ nach rassischen Gesichtspunkten gesiebt werden sollten, nachzulesen u. a. in Rainer Zitelmanns Hitlerbuch, passen offensichtlich nicht in das Bild, welches Walter Post von der nationalsozialistischen Politik zeichnet.

Zu dieser Politik gehörte auch die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Opferzahlen wären letztendlich viel zu hoch veranschlagt und seien objektiven Ursachen geschuldet, meint Walter Post. Überhaupt sei im nachhinein alles zu einseitig dargestellt worden. Alfred Rosenberg, der wohl kaum als Opfer kommunistischer Propaganda angesehen werden kann, beklagte am 27. März 1942 gegenüber dem OKW, daß von 3,6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen nur noch einige Hunderttausend voll arbeitsfähig seien. Die Lagerkommandanten, so Rosenberg, hätten der Zivilbevölkerung untersagt, an Kriegsgefangene Lebensmittel zu geben, und sie lieber dem Hungertod ausgeliefert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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