Eine Rezension von Eberhard Fromm

Am Anfang war die Kritik

Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen
Über Erkenntnis, Geschichte und Politik.
R. Piper, München 1996, 336 S.

Diese letzte Arbeit eines der einflußreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts steckt voller Überraschungen. Sir Karl Raimund Popper (1902-1994), der in England geadelte gebürtige Österreicher, erläutert hier nicht nur in pointierter Fassung seine wichtigsten Erkenntnisse und Positionen; er bezieht klare Haltung zu zentralen Lebensfragen unserer Zeit, scheut keine unpopulären Aussagen und - beweist immer wieder einen hintergründigen Humor, den man beim Vordenker eines kritischen Rationalismus kaum erwartet. Obwohl es sich bei den 16 Beiträgen um Artikel, Reden u. ä. aus verschiedenen Zeiten und zu verschiedenen Anlässen handelt, ist überall das Bemühen spürbar, dem Leser ein leichtes Erfassen zu ermöglichen. Man gewinnt den Eindruck, hier plaudert ein tiefgründiger Denker in einer solchen Weise, daß man ihm ganz einfach zuhören muß - auch dann, wenn man seine Ansichten nicht immer teilt.

„Ich habe mich in meinem langen Leben niemals gelangweilt, außer bei Vorträgen“ (S. 265), sagt Popper und hat daraus die für uns so wertvolle Schlußfolgerung gezogen, daß er mit seinen Arbeiten niemanden langweilen möchte. Das ist ihm mit dieser Auswahl gelungen, mit der er eine Art Kurzfassung seines Gesamtwerks vorlegt. Im ersten Teil geht es ihm um die breite Palette der „Fragen der Naturerkenntnis“, im zweiten Teil um „Gedanken über Geschichte und Politik“. In beiden Teilen finden wir die bekannten Grundpositionen Poppers wieder, wie er sie in seinen großen Arbeiten „Logik der Forschung“, „Objektive Erkenntnis“, „Das Elend des Historizismus“, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ entwickelt hat. Seine Gedanken kreisen um einige Kernaussagen, die er dem Leser nahebringen möchte und die er sich daher nicht scheut, immer aufs neue zu wiederholen. Natürlich fehlen in diesen knappen Beiträgen die Belege, die Begründungen, all jene Argumente, die ein Wissenschaftler ins Feld führt, wenn er seine Hypothesen vorbringt und sie kritisch vorführt. Für eine Art Einführung in das Denken Poppers und seine Ideenwelt erscheint das aber geradezu als ein Vorteil, vor allem für den philosophisch weniger vorgebildeten und interessierten Leser. Hier kann er recht geradlinig die Grundpositionen der Wissenschaftslehre und der Erkenntnistheorie Poppers erfahren. Er erklärt sein vierstufiges Vorgehen, wonach aus älteren Problemen (1) versuchsweise neue Theorien (2) entstehen, die durch kritische Diskussion und experimentelle Prüfung wiederum eliminiert (3) werden, was zu neuen Problemen (4) führt, um dann knapp seine Hauptthese zu formulieren, „daß durch die Erfindung der kritischen Diskussion die Wissenschaft erzeugt wurde“. (S. 35) Er führt sein Konzept von den drei Welten vor, wonach Welt 1 die physische Welt, Welt 2 die Welt menschlicher Bewußtseinsvorgänge und Welt 3 die Welt der objektiven Schöpfungen des menschlichen Geistes bilden, und knüpft daran den Grundgedanken seiner Erkenntnistheorie, „daß Probleme und ihre Lösungsversuche durch Hypothesenbildung, durch Theorien oder durch Vermutungen, aller Beobachtung vorausgehen“. (S. 109) Und zum Abschluß der von ihm behandelten Fragen der Naturerkenntnis faßt er apodiktisch zusammen, was er als seine Einstellung gerne popularisieren möchte: „Wir wissen nichts - das ist das Erste. Deshalb sollen wir sehr bescheiden sein - das ist das Zweite. Daß wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nichts wissen - das ist das Dritte.“ (S. 144)

Sicher werden viele Leser den „Gedanken über Geschichte und Politik“ mehr Aufmerksamkeit schenken, findet man hier doch die letzten Äußerungen Poppers zu aktuellen Problemen - von den zehn Beiträgen stammen sechs aus den Jahren 1989 bis 1993 - und erwartet man hier wohl auch Antworten auf eigene Fragen zu unserer Zeit. Zuerst werden die Grundauffassungen über die Geschichte und ihre Betrachtung vorgetragen. Für Popper gibt es keine Universalgeschichte oder eine Geschichte der Menschheit, und auch keinen Sinn der Geschichte, sondern immer nur sich wandelnde Interpretationen der Vergangenheit durch jede neue Generation. Er polemisiert gegen den Historizismus, vor allem gegen die behaupteten Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses, die es möglich machen sollen, aus der Geschichte die Zukunft vorauszubestimmen. Er kritisiert die rassistische, die marxistische und die zynische Geschichtsinterpretation, wobei er sich vor allem mit der letzteren auseinandersetzt. Für Popper ist die Zukunft offen - und daraus leitet er seinen Optimismus ab: „Ich bin ein Optimist, der nichts über die Zukunft weiß und der daher keine Voraussagen macht.“ (S. 272) Er attackiert die Intellektuellen, die aus Feigheit oder Ehrgeiz die schlimmsten Dinge machten und sich als Propheten aufspielten. Er fordert dazu auf, aus der Vergangenheit zu lernen, was heute möglich ist.

Popper war stets ein theoretischer Gegner des Marxismus, wovon vor allem seine zweibändige Arbeit Die offene Gesellschaft und ihre Feinde zeugt. Aber er zeigt keine laute Genugtuung über den Zusammenbruch des Marxismus in Osteuropa. Für ihn ist die marxistische Macht an der Unfruchtbarkeit der marxistischen Theorie gestorben. Dagegen stellt er seine Behauptung, „daß wir im Westen gegenwärtig in der besten sozialen Welt leben, die es je gegeben hat“ (S. 273). Das bedeutet keinen Verzicht auf eine kritische Haltung, aber dies ist eine Grundposition, die er gegen alle pessimistischen Ansichten der Gegenwartsdeutung verteidigt.

Ausgehend vom Vorwort, das Popper wenige Wochen vor seinem Tod schrieb, bis in die einzelnen Beiträge, vor allem aus den letzten Jahren, ist das Bemühen des Autors spürbar, den großen moralischen Anspruch und die hohe intellektuelle Verantwortung begreifbarer zu machen, die heute vor allen Menschen, vor allem aber vor den Wissenschaftlern und Intellektuellen, stehen. Insofern kann man durchaus sagen, daß dieses Buch von der Altersweisheit des Denkers Karl R. Popper durchdrungen ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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