Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Die Insel der großen Dichter

Hans-Christian Oeser: Treffpunkt Irland
Ein literarischer Reiseführer.
Philipp Reclam jun., Stuttgart 1996, 395 S.

Reclams Kunst- und Literatur-Führer genießen seit vielen Jahren einen guten Ruf. Sie sind materialreich, gut lesbar, bringen Hintergründe und Zusammenhänge. Auch Hans-Christian Oeser reiht sich mit seinem vorzüglich recherchierten und geschriebenen Reiseführer zur Literatur Irlands in diese Phalanx ein. Der Verlag nennt ihn einen „besonderen Reiseführer“, und das hat seine Berechtigung. Denn es ist ein Buch, das auch den Nicht-Reisenden schon fesselt, bevor er eine Reise nach Irland angetreten hat. Auf der Reise selbst, ich kann es mir gut vorstellen, leistet dieses Buch gründlich und detailreich, eine der spannendsten europäischen Literaturlandschaften durchstreifend, anregend-belebende Dienste. Während der Reisende ja immer nur den einen „Blick“ auf Landschaft, Stadt und Örtlichkeit, die eine Beziehung zum jeweiligen Dichter haben, besitzt, versorgt dieser Reiseführer den Reisenden mit dem „Ganzen“. Zeit- und Gedankenreisen ermöglicht er, bietet Lektionen in Geschichte, Poesie und Politik, stets die Nähe zum literarischen Urgrund suchend, eine Entstehungs- und Werkgeschichte, die vor allem Einblicke in lebendige Biographien verschafft. Irlands Literatur kennt viele Höhepunkte. Einen Hauptgrund für die Fülle an Literatur auf dieser Fünfmillionenseeleninsel sieht der Autor dieses Buches in der wechselvollen Geschichte begründet. Denn: „Die geographische Nähe zur Nachbarinsel bei gleichzeitiger kultureller Distanz, die Koexistenz einer keltischen und einer germanisch-romanischen Sprache schufen eine einzigartige Situation vibrierender Intensität.“ Irlands Dichter kommen aus den entlegensten Orten der grünen Insel, in Dublin allerdings scheint es fast so, als gebe es dort mehr Dichter als Leser. Hier wurden Swift, Wilde, Shaw, Joyce und Beckett geboren, hier veranstalten beflissene Schauspieler und Reiseagenturen Führungen in literahistorisch wichtige Kneipen. Kaum ein Haus, das keinen Hinweis auf einen Poeten besitzt. Als gehörte schon seit Jahrhunderten die Literatur zum Leben auf diesem Eiland. Dieser Reiseführer fragt auch nach Zugehörigkeiten. Gehört nun Laurence Sterne zur irischen oder doch zur englischen Literatur? Genealogisch gesehen zu beiden, denn Sprößling einer Irin aus Clonnel und eines englischen Subalternoffiziers eint er „Inseln“, und doch bestehen die Iren darauf, daß einer der witzigsten und skurrilsten Erzähler aller Zeiten zu ihnen gehört. Sein Tristram Shand bietet je geradezu ein Musterbeispiel für einen Streit über Anfänge und Ursprünge. Denn ein Erzähler, der unendlich lange über Zeugung und Geburt seines Protagonisten fabuliert, parodiert wohl auch derlei Fragen nach dem Woher und Wozu.

Auch Oscar Wilde wanderte später aus nach England, eroberte in London die Bühnen, doch in Dublin wurde er groß, hier umgab ihn der stimulierende elterliche Salon, eine Gedenktafel vermerkt heute: „Zitadelle radikalen Chics im viktorianischen Dublin“.

Quer durch Dublin, quer durch die Grafschaften der Insel empfiehlt der Reiseführer literarische Ortsbesichtigungen, also Geburts- und Wohnhäuser, Gräber und Gedenktafeln, Monumente und Museen. Seit 1993 gibt es erstmals ein Museum, das einem einzigen Schriftsteller gewidmet ist: Georg Bernard Shaw. Er war in jungen Jahren oft und gern in der Nationalgallery zu Dublin, aus Dank für viele Eindrücke trat Shaw später ein Drittel seiner Tantiemen an die Galerie ab. Was man nicht augenfällig auf einer Reise durch Irland, einem Bummel durch Dublin entdeckt, steht im Reiseführer. Hier ist es der Hinweis auf ein keckes Pamphlet, das Shaw 1914 unter dem Titel Commonsense about the War veröffentlichte. Nicht ohne Ironie kommentiert Oeser die darin ausgesprochene Empfehlung an die Soldaten sämtlicher kriegführender Parteien, ihre Offiziere kurzerhand zu erschießen, mit dem Hinweis, dies käme „der Leninschen Losung von der Verwandlung des imperialistischen in den Bürgerkrieg durchaus nahe“.

In der Grafschaft Sligo definieren die Hinweisschilder einer 150 Kilometer langen Litera-Tour eine „Yeats Country“. Hier bezeichnen die Ortsnamen geographische Fixpunkte der lyrischen und dramatischen Arbeiten des Dichters William Butler Yeats. Ein Mann, der wie kein anderer seines Landes für eine Rückbesinnung auf heroisch-keltische Traditionen des vorchristlichen Irlands bei gleichzeitigem Eintreten für das literarisch Moderne steht.

Hans-Christian Oeser kann nicht alle Autoren gebührend hervorheben. Mit Blick auf den vielleicht bedeutendsten Iren unseres Jahrhunderts, James Joyce aus Dublin, meint er: „Je bedeutender der Preisträger, desto zurückhaltender sollte die Laudatio ausfallen.“ Dennoch skizziert er viele Lebenssituationen dieses Dichters, auch eine geradezu unvermeidliche Exkursion auf den Spuren von Mr. Bloom und seiner Frau Molly durch das anregend-verfitzte Dickicht der irischen Hauptstadt. So wird Dublin als eine geistige Lebensform sichtbar, eine Verführung, der der Leser kaum widerstehen kann. Die Erklärung, warum es in der Stadt so ungewöhnlich viele Quartiere gibt, in denen Joyce gelebt hat, erklärt sich ganz einfach: die ursprünglich wohlhabenden Eltern mußten, veranlaßt durch Kinderreichtum und schlechte Haushaltsführung, in rascher Folge die Wohnung wechseln, stets auf der Flucht vor den geldeintreibenden Hauswirten.

Irland hat vielen Dichtern das Leben nicht immer leicht gemacht. Wer nicht ins Exil ging, unterlag der Zensur, die es bis auf den heutigen Tag gibt. Spott und Ironie leben oft dort, wo die Gegensätze knirschen. Und es wundert kaum, auch das verrät dieses Buch, daß Dracula eine Erfindung des Dubliner Bram Stoker ist.

Als unirischster aller irischer Autoren gilt Samuel Beckett. Er mied den überschäumenden Wortschwall, seine Sprache ist dem Verstummen des Menschen nahe. In Paris schrieb er statt auf englisch oder irisch auf französisch.

Für die Wiederentdeckung Irlands und seiner Literatur hat in den fünfziger Jahren Heinrich Böll einen wichtigen Beitrag geleistet. Hans-Christian Oeser geht in seiner Beurteilung überraschend weit. Beim Durchstreifen der Grafschaft Connacht bemerkt er: „Das moralische Gewissen der Bundesrepublik Deutschland schlug lange Jahre in Irland.“ Denn Achill Island, die kleine Irland vorgelagerte Insel, war viele Sommermonate hindurch die „Wahlheimat des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll“.

Wir erinnern uns, es war die Zeit, in der gelegentlich ein politisches Oberhaupt die Schriftsteller „Pinscher“ nannte. Ob Bölls Intentionen aber hinreichend erklärt sind, wenn Oeser bei dieser Gelegenheit schreibt: „Hier fand er Natur statt Gesellschaft, Gemeinsinn statt Eigensucht, überwältigende Frömmigkeit statt abgeklärten Zynismus“, muß anhaltend bezweifelt werden. Komisch genug, daß es heute und schon seit langem einen regelrechten Böll-Tourismus zur Insel gibt. Auch hier gilt der Satz, daß Reisen, wenn es um Literatur geht, das Lesen der Dichter nicht ersetzt. Die Verschränkungen von Ort und Wort, Buch und Leben ergeben viele Abenteuer, zu denen dieses Buch nachhaltig einlädt. Es scheint aber dennoch so, daß das Lesen eher einer andauernden Reise ähnelt, als daß das Reisen allein schon ausreichen würde, um in die Nähe der Dichter zu gelangen.

Treffpunkt Irland ist ein anregend-erregendes Buch, es besticht durch eine vielseitige Handhabbarkeit. Ausgestattet mit zahlreichen Abbildungen und Karten, versehen mit bio-bibliographischen Hinweisen und präzisen Angaben über irische Literaturfestivals und Sommeruniversitäten, Orts- und Personenregister, verlockt es jederzeit zur inneren Reise in die irische Literatur, die sogleich auch in die Reise nach Irland übergehen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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