Eine Rezension von Roberto Simanowski

Männer, die bereit sind zu töten

Simon Collier/Artemis Cooper/Maria Suasanna Azzi/
Richard Martin: „Tango! Mehr als ein Tanz“
Wilhelm Heyne Verlag, München 1995, 208 S.

Das Licht ist rot und lila, das Equipment futuristisch, ein Labyrinth aus Blech: kahle Räume, ein Laufsteg zu den oberen Gerüsten, Vorsprünge, um Deckung zu suchen, vereinzelt Schießscharten. Ein Ambiente wie in Schwarzenegger-Filmen. Der Zeitungsartikel an der Eingangstür verkündet, daß es sich um ein „adventura inimaginable en un espacio futurista“ handelt. Das Spiel heißt „Laser Shots“, wurde 1992 in Australien kreiert und wird nun auch auf der Rua Lavalle Nr. 845, im Boulevard-Herzen von Buenos Aires, angeboten. Es kostet 7 Dollar (bei Wiederholung 2 Dollar Rabatt), dauert 15 Minuten und besteht darin, innerhalb eines Teams von fünf bis zehn Leuten mit der Laserpistole auf die Vertreter der zwei anderen Teams zu schießen. Die in der entsprechenden Farbe des Teams leuchtenden Sensoren (auf der Brust, auf den Schultern, im Rücken und auf der Waffe) registrieren die Treffer und zählen die Punkte. Wird man selbst getroffen, setzt die Pistole für Sekunden aus, gibt es einen Punktverlust. Es ist wie als man Kind war und Räuber und Gendarm spielte, nur weiß man endlich mit Sicherheit, wann ein Schuß wirklich traf. Der Computerausdruck am Ende des Spiels bringt es ans Licht: Zweimal habe ich das 5jährige Mädchen, das mit seinen Eltern und den zwei Brüdern ein Team bildete, voll getroffen, einmal wurde ich von ihm niedergestreckt, dreimal wurde ich von den eigenen Leuten beschossen.

Tangostadt Buenos Aires. Die jungen Leute, die auf der Straße unweit des „McDonald“ für dieses Spiel Werbung machen, sprechen alle Englisch. Wo man in der Stadt Tango tanzen kann, wissen sie nicht. Allerdings könnten sie mir den Weg zur Techno-Disco zeigen. Ein älterer Taxifahrer, der FM Tango hört, weiß endlich Bescheid und fährt zu den entsprechenden Bars, außerhalb des Zentrums. Nichts, was daran erstaunlich wäre: Die junge Generation eines südamerikanischen Landes sucht den kulturellen Anschluß (den wirtschaflichen sowieso) an die nordamerikanische und europäische Welt. Was kümmern da Traditionen! Im übrigen wissen auch die jungen Leute in Deutschland nicht, wo man in ihrer Stadt Walzer tanzt. Aber, und das ist das Kuriose, immer mehr von ihnen wissen, wo sich der nächste Tango-Saal befindet. Wärend im Herzen von Buenos Aires futuristische war-games populär sind, blüht in deutschen Großstädten die Tango-Manie.

Tango ist, nicht zuletzt durch die international erfolgreichen Tango-Revuen Tango Argentino (Premiere 1983) und Tango X 2 (1988) eines der erfolgreichsten Label im Deutschland der 90er Jahre. Neben den vielen Tango-Schulen, die in Berlin einem immer größer werdenden Interessentenkreis ihre Dienste mit zunehmender Professionalität und Routine anbieten, und neben den entsprechenden Tango-Bällen für die Kings und Newcomer der Szene gibt es verschiedene „Mitfahrer“ wie die Veranstaltung Tango zu Texten von Kästner, Ulla Hahn und Heiner Müller im Januar 1997 in Berlin oder Hans van Maneas Tango-Choreographie zu Piazolla-Liedern mit dem Ballett der Deutschen Oper im Herbst 1996, um nur zwei zu nennen. Daß ein CD-Sampler mit Liedern für Chello und Piano das Bild eines Tango-Paares und die Head-Line „Le Grand Tango“ trägt, obgleich 13 der 14 Stücke gar keine Tangos, sondern Flamenco, Walzer und Mazurka sind, ist leicht nachvollziehbar. Natürlich kann man unter diesen Umständen auch einige Publikationen zum Thema erwarten. Wer Dieter Reichardts informatives Buch „Tango. Verweigerung und Trauer“ (1981), das neben rund 200 Seiten zur Geschichte und zu speziellen Aspekten (Sprache, Melancholie, Sozialkritik, Entwicklung der argentinischen Gesellschaft) auch über 200 Seiten Tangotexte (spanisch und deutsch) bietet, schon zweimal gelesen hat, kann sich inzwischen an einer Prachtausgabe des Heyne-Verlages erfreuen.

Nach Reichardts Suhrkamp-Taschenbuchausgabe ist dieses nicht ganz billige Buch etwas für bibliophile Tangonarren. In vier Kapiteln umkreisen die Autoren das Thema: „Die Geburt des Tango: 1880-1920“, „Tangomanie in Europa und Nordamerika: 1913-1914“, „Die Goldene Ära und danach - von den Zwanziger Jahren bis heute“, „Unvergänglicher Tango“. Auf rund 200 Seiten wird man somit über Geschichte und Wesen des Tango unterrichtet; eine Vielzahl zeitgenössischer Fotografien, Karikaturen und Plakate sowie 80 Farbfotos, unter anderem von Ken Haas, machen das Buch überdies zum Augenschmaus; der abschließende Informationsteil (Tango-CD's, Tango-Zentren) sichert den praktischen Nutzen für Leser, die erst mit diesem Buch „Blut geleckt“ haben. Ein Buch zum Festlesen oder zum Blättern, ein schöner Band, der auf keinem Tango-Altar fehlen sollte.

Was also ist Tango? Ein Ortsname in Mali und Angola, der in manchen afrikanischen Sprachen „abgesperrter Raum“ oder „vorbehaltenes Gelände“ bedeutet. Andere meinen, es ist die Konjugation des portugiesischen „tangere“ (berühren) in der 1. Person Singular. Die dritte Theorie besagt, daß es sich um reine Lautmalerei handle, die das Geräusch eines Trommelschlags (tan-go) nachahme. Am beliebtesten aber sind die poetischen Erklärungen des Tango: ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann, schrieb Enrique Sabtos Discépolo; zwei traurige Herzen und vier lustige Beine, verkünden andere. Was der Begriff nun wirklich bedeutet, kann auch das vorliegende Buch nicht klären. Aber es zeichnet Linien, die manchem neu sein könnten. Daß der Tango im Rotlichtviertel der Metropole Buenos Aires entstand (die Anfang des Jahrhunderts einen Männerüberschuß von 100 000 aufwies), weiß man im allgemeinen, weniger jedoch, daß seine Wurzeln in Afrika liegen. Afro-Argentinier waren es, die in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, zurückgreifend auf den candombe, einen wilden, rhythmischen, oft improvisierten Tanz, den Tango entwickelten. Die compadritos, junge, meist in Argentinien geborene Männer aus ärmlichen Verhältnissen mit Schlapphut, lose geknüpftem Halstuch und locker im Gürtel steckerndem Messer parodierten Elemente dieses Tanzes und übernahmen sie in ihren damaligen Lieblingstanz, die Milonga. Diese, wiederum von der Polka und der kubanischen habanera beeinflußt, gilt als die zweite Wurzel des Tango. Der eigentliche Gründungsakt des Tangos bestand darin, die wilden Elemente des afrikanischen Tanzes, der ja nahezu ohne Körperkontakt getanzt wurde, in die auf Tuchfühlung getanzte Milonga zu integrieren. Die Laszivität des Tango ergibt sich aus der Addition von Körperkontakt und rhythmischem Exzeß.

Allmählich wurde der Tango populär auch außerhalb der Stadtrandviertel, wurde getanzt in den von italienischen Einwanderern besuchten „ordentlichen“ Tanzsälen. Die Italiener zähmten die wilden und agressiven quebradas (Brüche, Schnörkel) und cortes (plötzlicher Schrittabbruch, der die Frau der Fliehkraft wegen auf das Knie des Mannes treibt) und entwickelten den tango liso (eleganter Tango), den Vorläufer des tango de salon. Diese Domestizierung brachte dem Tango neue Instrumente (zu Harfe, Flöte und Violine kamen nun Akkordeon und Mandoline), aber noch nicht die Akzeptanz durch die Oberschicht, die zu gut um dessen anrüchige Herkunft wußte. Da half auch nichts, daß der Tango in Buenos Aires inzwischen bei jedem Leierkastenmann und aus den Grammophonen der Friseur- und Schuhputzläden zu hören war. Zudem markierte der Tango als Lied weiterhin seine Vulgarität durch die Verwendung des lunfardo, eines spezifischen Slangs, in dem viele „schmutzige Wörter“ vorkommen. Erst als die für die argentinische Oberschicht so verbindliche Pariser und Londoner High Society den Tango um 1913/14 begeistert aufnahm, wurde er salonfähig auch in Buenos Aires.

Die weitere Geschichte des Tango, seine traditionelle, evolutionäre („Sexteto Mayor“) und avantgardistische (Astor Piazolla) Entwicklungslinie, seine Unterteilung in den stark rhythmischen oder beruhigten Instrumentaltango (de corte milonga bzw. de corte romanza) kann man im Buch nachlesen. Man stößt dabei auf symbolkräftige Anekdoten, wie die vom besten Tangotänzer aller Zeiten El Cachafaz, der als 63jähriger im Tanzsaal starb, als er gerade einen Tango beendet hatte und einen neuen beginnen wollte. Man erfährt dabei unter anderem, daß der Tango erst mit Pascal Contursi seine Wendung zu Pessimismus und Melancholie nahm und mit „Mi noche triste“ (Meine traurige Nacht) von 1917 das Thema des verlassenen Liebhabers, der seinen Trost im Alkohol sucht, erstmals angeschlagen wurde. Der Machotanz als Klage des verlassenen Mannes - das widerspricht sich.

Richard Martin, der nach dem Mehr des Tango fragt, nimmt diese Widerlegung der männlichen Autorität und Dominanz in den Tangotexten zum Anlaß, auch dem Tango als Tanz den Mythos des Machismus zu nehmen. Er verweist darauf, daß im Tango jeder federnde Vorstoß des Mannes durch die entsprechende Geste der Frau pariert werde. Dies sowie die Tatsache, daß der Tango oft von gleichgeschlechtlichen Partnern getanzt und von Homosexuellen somit der Machismo parodiert wurde, bezeugt aber noch nicht, daß er „so entschieden und nachdrücklich wie kein anderer Tanz Sturm gegen das althergebrachte Rollenverständnis“ läuft (S. 172). Dagegen steht, daß gerade beim Tango alles auf die Führung durch den Mann ankommt und der Frau allein keine schwungvollen Gebärden oder Kapricen zugestanden werden. Ein Bonbon der Tangokunst besteht noch immer darin, daß die Frau die Augen schließt als Zeichen des Vertrauens in die sichere Führung des Mannes.

Wenn Martins Essay hinsichtlich der Umdeutung des Rollenverhaltens eher den guten Willen zeigt als zu überzeugen weiß, so lädt es indessen zu interessanten Überlegungen zur Sexualität des Tango ein. „Tango ist wie Liebe am Nachmittag“, zitiert Martin Angela Rippon, „ungehörig, doch reizvoll ... das, was dem vertikalen Ausdruck eines horizontalen Verlangens am nächsten kommt.“ (S. 171) Die Laszivität des Tango ist ein Thema seit seiner Entstehung. Allerdings, könnte man einwenden, muß er sie mit anderen Tänzen wie Salsa oder Lambada teilen, die da überdies weit deutlicher werden. Um so bemerkenswerter ist die Perspektive von Waldo Frank, der 1917 zu bedenken gab, daß der Tango auf den Blickkontakt verzichtet und von den Partnern fordert, die Bewegungen des anderen mit dem Körper intuitiv zu erfassen. Diese Situation verweist auf ihre eigene Zukunft: Der Tango ist ein „Tanz der Blinden“ (S. 175), der die Paarung in der Dunkelheit symbolisch vor den Augen aller vollzieht. Der geheime Sinn, so möchte man behaupten, besteht darin, später dann nicht das wirklich durchzuführen, was in der Andeutung viel raffinierter seine Spannung entfaltet. Denn alle Realisierung ist auch Verlust, wirklich schön ist nur der Konjunktiv.

Damit sind wir bei der Melancholie, dem anderen Klischee des Tango. Und die Melancholie hat mit dem Alter zu tun. Der Tango ist kein Tanz, der der Jugend vorbehalten bleibt. Anders als Salsa, Charleston oder Swing braucht er geradezu das Alter, denn Alter bedeutet Erinnerung - ohne Alter keine Erfahrung in Glück und Leid; Melancholie ohne Alter ist unglaubwürdig. Deswegen verliert der Tango, wenn er perfekt wird. Die Tango-Tanzshow Anfang Juli 1996 im Berliner Prater führte das vor Augen, als zwei blutjunge Paare einen Tango tanzten, der an Artistik nicht mehr zu überbieten war. Die vier ernteten viel Beifall für ihre sportliche Leistung, das Publikum aber vermißte die Eleganz und den Hauch an existentieller Intensität, der dem Tango etwas Dämonisches über seine Tänzer verleiht, das, was man die Seele des Tango nennt. Die „Seele“ jener Tänzer hatte in einem ununterbrochenen Lächeln gelegen, wie man es von amerikanischen SupermarktverkäuferInnen kennt. Sie schienen auf eine empörende Art und Weise frei von jeglichem Schmerz. Man könnte von einer zweiten „Domestikation“ des Tango sprechen: seine Überführung in den Sport, ins Banale.

Die Zerstörung des Tango in seiner artistischen Vollendung ist von den vielen Tangojüngern in Deutschlands Großstädten gewiß schon aus Talentgründen nicht zu erwarten. Was aber steckt hinter dieser Tangomanie! Das Buch wagt diesbezüglich keine Spekulation. Es tut gut daran, denn es könnte seine Käufer verschrecken, wenn es die tangoeifrigen Pärchen aus Charlottenburg und Prenzelberg, die vierzigjährigen dinks und die Studentenpaare mit Vermutungen konfrontierte. Was suchen diese Leute? Die Melancholie am Feierabend? Das passende Design für einen anspruchsvollen Hedonismus? Oder geht es um den Machismus wenigstens als Spiel im Tanz?

Man denke für einen Moment an Jorge Luis Borges, der im Tango die Überzeugung ausgedrückt sah, daß Kämpfen ein Fest ist. Er erinnerte an den gemeinsamen etymologischen Ursprung der Wörter Mann (vir) und Mut (virtus) und verwies auf jene, die sich als Mann erst fühlen, wenn sie „ihren Mann“ getötet haben. Der Mord ist gewiß keine Bedingung, aber das lose Messer gehörte immerhin zu den Verständigungsmitteln der ersten Tangotänzer. Ein Mann, der Hiebe erträgt und keine Bedenken hat, selbst welche auszuteilen, ein solcher Mann tanzt den Tango anders als einer, der mit Worten oder Geld argumentiert. Freilich, die Frauen lieben keine Messerwerfer mehr, aber manchmal, wie jüngst in Helmut Dietls Film „Rossini“, wollen sie, daß Wondratscheks Verse ihnen gehören: Sie liebte Männer, die bereit sind, zu töten. Es gibt diese Männer noch, nur sind sie meist schlechte Tänzer. Einen Mörder, der keinen Tango kann, hatte Wondratschek gewiß nicht gemeint. Schon eher einen Tangotänzer, der nicht mordet, aber so tut, als könnte er. Ganz aus dem Spiel sind jedenfalls die wackeren Kämpfer von „Laser Shots“ in der Rua Lavalle Nr. 845, im Herzen von Buenos Aires.

Die andere Variante ist die Melancholie. Versonnenheit statt Aggression. Sind die heutigen Tangotänzer auf der Suche nach jenem Hauch an existentieller Tiefe? Nach dem Adel der Melancholie in einem bürgerlichen Leben? Daran wäre nichts auszusetzen; ein glücklos zufriedenes Leben braucht den Bruch wenigstens als Symbol. Bedenklich sind nur jene, die das Gegenteil in die Tanzschule treibt: der Wille, auch diese Herausforderung zu meistern, der Ehrgeiz, auch diesen schwersten aller Tänze perfekt zu beherrschen. Das wäre, wie gesagt, sein Tod. Das wäre wie „McDonald“: Plastik ohne Alkohol und Tabak. Nein, es hat schon seinen Sinn, daß man den Tango suchen muß in Buenos Aires. Er paßt nicht in die Beleuchtung der Boulevards; er braucht seine Ruhe in den abgelegeneren Straßen, in den einstigen Stadtrandvierteln, wo er aufwuchs. Dort kommt er, da so viele in Berlin und Paris ihn für sich entdeckt haben, inzwischen - „Laser Shots“ hin, Techno her - wieder in Mode.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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