Eine Rezension von Walter Unze

Reflexionen über ein geschichtsträchtiges Jahr

Christine Krauss/Daniel Küchenmeister (Hrsg.): Das Jahr 1945
Brüche und Kontinuitäten.
Dietz Verlag, Berlin 1995, 284 S.

Ein so geschichtsträchtiges Jahr wie 1945 ist es immer wieder wert, unter den verschiedenen Aspekten analysiert, betrachtet und bewertet zu werden. Fünfzig Jahre danach ist eine gute Zeit, sich zu erinnern, noch dazu, wenn sich die Sicht durch die einschneidenden Umbrüche in der Welt, in Europa und in Deutschland seit 1989 verändert hat. Die 17 Beiträge, die die Herausgeber hier zusammengestellt haben, bilden eine interessante Mischung, sowohl was die Herkunft der einzelnen Autoren, als auch ihren Lebensweg und ihr Alter betrifft. Daß die Deutschen so stark vorherrschen, erweist sich als nicht besonders gut, wenn man die doch ganz andere Sicht- und Erzählweise der drei ausländischen Verfasser gelesen hat. Neben dem Franzosen, dem Russen und dem Flamen hätte man sich gern einen Amerikaner - Günter Reimann ist eben doch ein deutscher Emigrant -, einen Engländer, einen Polen oder Tschechen gewünscht. Die Männer und Frauen, die hier zu Wort kommen, repräsentieren die Jahrgänge zwischen 1904 und 1959; allein sieben Autoren sind in den zwanziger Jahren geboren und standen so 1945 am Beginn ihres Erwachsenenlebens. Beim Lesen wird ein doch sehr deutlicher Bruch zwischen den von realen Erinnerungen getragenen Beiträgen und den aus der Literatur oder aus theoretischen Untersuchungen gewonnenen entwickelten Positionen spürbar. Von der Konzeption des Bandes wäre es sicher günstiger gewesen, sich für eine der Möglichkeiten zu entscheiden. So wirken die Beiträge ab Seite 191 angehängt. Wenn Insa Eschenbach Rehabilitationsgesuche von NSDAP-Mitgliedern analysiert, Jens Ebert über die Aufgaben sowjetischer Kulturoffiziere berichtet, Rainer Zunder über den Geist der deutschen Schule nachdenkt, Rolf Reißig in einem Interview zu theoretischen Ansichten über das Jahr 1945 befragt wird und Hans-Dieter Schütt eine kleine psychologische Erzählung vorträgt, dann sind das im einzelnen durchaus nicht uninteressante Aussagen. Aber sie erwachsen aus anderen Quellen als jene Überlegungen, Berichte und Erzählungen, die von Zeitgenossen des Jahres 1945 vorgetragen werden.

Bie aller Unterschiedlichkeit dieser zwölf Beiträge wird hier die Unmittelbarkeit des Jahres 1945 spürbar. Ob Roy Medwedew über das Verhältnis von Russen und Deutschen bis in die Gegenwart hinein nachdenkt oder Gilbert Badia die Hoffnungen eines jungen französischen Kommunisten im Jahr 1945 schildert, ob Wolfgang Leonhard und Hans Mahle in unterschiedlicher Weise ihre gleichen Erfahrungen von den ersten Wochen im befreiten Berlin mitteilen oder Otto Häuser von den Erlebnissen eines deutschen Kriegsgefangenen erzählt, stets spürt der Leser, daß der Autor Zeitzeuge und auch Tatzeuge war. Mit besonderem Interesse wird jeder Leser wohl die Geschichte zur Kenntnis nehmen, die Wolfgang Kießling über die „freie Republik Schwarzenberg“ erzählt: die letzten Tage des Dritten Reiches und die ersten Wochen nach der Befreiung in einem deutschen Ort, der einige Zeit ein Niemandsland zwischen den besetzten Gebieten war. Wer ein wenig von der Atmosphäre des Jahres 1945 erfassen will, der sollte sich diesen Beiträgen zuwenden. Die wissenschaftliche Bearbeitung und Bewertung sollte anderen, gründlicheren Arbeiten vorbehalten bleiben. Wenn Ernest Mandel feststellt, daß für ihn 1945 „an allererster Stelle ein Jahr der Befreiung“ war, dann ist dies biographisch nachvollziehbar und keine theoretische Behauptung eines die Geschichte „an sich“ bewertenden Historikers. Alle Beiträge des Buches, die so das eigene Erleben und Erinnern in den Mittelpunkt stellen, zählen zu den starken Seiten des vorliegenden Buches.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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