Eine Rezension von Klaus Ziermann

Ein Rasputin aus Fleisch und Blut

Elisabeth Heresch: Rasputin - Das Geheimnis seiner Macht
Mit unveröffentlichten Dokumenten.
Langen Müller, München 1995, 440 S.

Ihr selbstgestelltes Ziel, Rasputins Person zu entmystifizieren“, hat Elisabeth Heresch vorbildlich erfüllt. „Ein Mythos war Rasputin bereits zu Lebzeiten“, charakterisiert sie die geistige Ausgangsposition für die Konzeption ihres Buches. „Seine ambivalente Persönlichkeit, sein hemmungsloser Lebensstil einerseits, sein unerklärliches Heilen und Einwirken auf andere Menschen andererseits und schließlich das Phänomen seiner Macht liefern seit jeher unerschöpflichen Stoff, der sich im Laufe der Zeit ... zum Boulevardthema reduziert hat.“ (S. 9)

Elisabeth Heresch - Slawistin und Romanistin von Ausbildung, als Verfasserin einer Biographie von Zar Nikolai II. und seiner Zarin Alexandra Fjodorowna als Rußland-Expertin bekannt geworden, als erfolgreiche Publizistin für ORF Wien und RIAS Berlin, nicht zuletzt als UNO- und UNESCO-Konsulentin für die ehemalige Sowjetunion für das Durchschauen politischer Verhältnisse prädistiniert - hat sich in die Kindheits- und Jugendorte Rasputins im fernen Sibirien begeben, hat viele bisher unveröffentlichte russische Dokumente über den geheimnisvollen Priester und seine Petersburger Umgebung erschlossen. Der Neuwert, der dadurch gewonnen wurde, ist groß; das Bild, das daraus von Rasputin gezeichnet wird, originell und beeindruckend.

Zwar wird die im Untertitel gestellte Frage, worin das „Geheimnis seiner Macht“ lag, auch in Elisabeth Hereschs Buch nicht bis zu Ende beantwortet; es bleibt auch bei ihr am Schluß - sicher nicht ganz ungewollt - ein Rest Geheimnisvolles. Doch der Leser erfährt zumindest eines unumstößlich: Wer - wie Rasputin - die Zarin als Rückendeckung und Verbündete hatte, wer mit dem mächtigen russischen Klerus auf Gedeih und Verderb verflochten war, wer bei hohen Militärs und Staatsbeamten - selbstverständlich abseits der offiziellen Feierlichkeiten - ein- und ausging wie seinesgleichen, wer mit ihnen saufen und Orgien veranstalten konnte, sie - wenn nötig - mit den begehrtesten Nutten versorgte und - nicht zu vergessen - eine extrem ausgeprägte Persönlichkeit mit wundersamen Zügen, scheinbar übernatürlichen Eigenschaften, Eskapaden oder bloß berechneten Tricks herauszustellen verstand, der war schon ein Machtfaktor in Rußland vor dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Das belegt Elisabeth Heresch in den 3 Teilen ihres Buches - „I. Bauer und Gottsucher“, „II. ,Zu Höherem bestimmt`“ und „III. Vergöttert und verflucht“ - überzeugend.

Noch besser als die Charakteristik des widersprüchlichen, gerissenen Sonderlings Rasputin ist ihr die Darstellung der russischen Zarendynastie am Vorabend des Untergangs gelungen: mit dem in jeder Beziehung schwächlichen und durchschnittlichen Zaren Nikolai II. an der Spitze, dem das Land vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges und erst recht im Kriege immer mehr entglitt; mit dessen eigentümlicher Zarin Alexandra Fjodorowna an der Seite, die gern ein Stück Macht mehr in ihren Händen gehabt hätte, um noch besser kommandieren zu können; mit dem kränkelnden Thronfolger Alexej, der - blaß und labil - eigentlich keine rechte Perspektive besaß. War in ihm schon der Untergang vorgezeichnet(?) ist die Frage, die Elisabeth Hereschs Buch suggeriert.

Für das gelungene zeitgeschichtliche Dokument, das Elisabeth Heresch verfaßt hat, sprechen zahlreiche interessante Äußerungen russischer Zeitgenossen Rasputins - Originalzitate, die dem Buch viel nationales Kolorit, aber auch manche andere Sichtweise auf Entwicklungen in Rußland vermitteln. Und zugunsten der Verfasserin spricht auch der gute Stil: Die Abschnitte über das Mordkomplott gegen Rasputin und den Mord an ihm im letzten Kapitel erreichen das Niveau von erfolgreicher Belletristik. Es ist schon so: Wer sich souverän im Stoff auskennt, kann zumeist auch mit Stil brillieren.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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