Eine Rezension von Hannelore Sigbjoernsen

Mehr als eine Verwaltungsgeschichte

Petra Grubitzsch: Prenzlauer Berg
Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke, Band 21
Stapp Verlag, Berlin 1995, 202 S.

Ein Glück, daß die Verwaltungsreform noch nicht durchgesetzt ist. So ist zu hoffen, daß in der 1987 aus Anlaß des Stadtjubiläums von der Historischen Kommission begründeten Buchreihe Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke noch alle „Ostbezirke“ aufgearbeitet werden, bevor bei anstehenden Umzügen möglicherweise wertvolle Dokumente jüngster Zeitgeschichte verlorengehen. (Bisher sind Hohenschönhausen, Marzahn, Hellersdorf und Prenzlauer Berg erschienen.)

Wenn im Vorwort auch des vorliegenden Bandes geschrieben steht, daß viele Materialien erst nach 1989 überhaupt erschließbar waren, wird es nach der Verwaltungsreform nicht nur um so mühevoller sein, Dokumente wiederzufinden, sondern auch schwieriger werden, die Veränderungen vor und nach 1989 nachvollziehbar und lebendig wiederzugeben.

Im Anfangskapitel „Der Bezirk Prenzlauer Berg heute“, besonders in den Beiträgen „Parteien und gesellschaftliches Leben“ bzw. „Kultur und Freizeitangebote“, entsteht durch die Vielzahl der aufgeführten Entwicklungen, Ereignisse, Namen und Fakten der Zeit nach 1989 ein reales Bild von den Versuchen, die neuen Zeiten für Veränderungen zum Besseren im Bezirk zu nutzen, von vielen seinen Bürgern auch zur Selbstverwirklichung.

Es muß jedoch ein wenig davor gewarnt werden, sich danach aufzumachen, den Prenzlauer Berg von 1997 zu erkunden. In den zwei Jahren seit Erscheinen des Buches hat die bundesweite Geldnot nicht nur die Entwicklung des Gewerbegebietes in der Eldenaer Straße nicht befördert, manches Kulturangebot ist auf der Strecke geblieben, das „Museum für Arbeiterleben“ und das „Friseurmuseum“ - beide sind nicht mehr in der Husemannstraße zu finden.

Nicht das Beschriebene wird kritisiert, nur die Kapitelüberschrift: „Der Bezirk ... heute“. So ist er eben heute nicht mehr. Auch das „Wohnen in Prenzlauer Berg“ verändert sich täglich, die Wirtschaftsstruktur nicht weniger.

Bestens sind der Autorin auch die Abschnitte „In der Ära Honecker“ oder „Aufbruch im Herbst 1989“ gelungen. Darin führt sie u. a. nicht nur Beispiele des Verschwindens traditionsreicher Handwerks- und Wirtschaftsbetriebe im Bezirk durch administratives Vorgehen der Gesetzgeber an. Sie zeigt vor allem auf, wie dieser Prozeß von oben nach unten durchgesetzt, die Bildung von Genossenschaften erpreßt wurde.

„Die wachsende Zahl leerstehender Wohnungen ermöglichte einen relativ ungesteuerten Zuzug von jungen Leute, die nach einem anderen, unangepaßten Leben suchten“., ist ein Schlüsselsatz für die Tatsache, daß der Prenzlauer Berg in Berlin Ausgangspunkt für den Aufbruch im Herbst `89 war. Das wird mit „Name und Hausnummer“, wie der Berliner sagt, belegt.

Petra Grubitzsch hat während ihrer ABM-Zeit mehr als eine große Fleißarbeit geleistet. Da ist vor allem persönliches Interesse am Kiez herauszulesen. Bedauern, wenn sie feststellt, daß „auch in unserem Jahrhundert der Prenzlauer Berg nicht zu den Ausgrabungsstätten der Archäologen gehört“. Und Spaß am Beschreiben der Romantik, „die die Felder und klappernden Windmühlen ausstrahlten“ und die Berliner um 1835 „aus den Mauern der Stadt“ in das Würst`sche Lokal auf dem Mühlenberg „lockte“.

Über die Gründerjahre und „Der Prenzlauer Berg als Standort für Industrie und Gewerbe“ ist bereits viel publiziert worden. Die Autorin belegt alle ihre Aufzeichnungen und Dokumente mit einem umfangreichen Verzeichnis von Quellen- und Literaturhinweisen (Seiten 181 bis 192). Ausführlich wird auch hier die historische Entwicklung zwischen der vorindustriellen Zeit und der Achtundvierziger Revolution beschrieben.

Geradezu spannend zu lesen sind die Beiträge zu den Wahlen 1946, über den Aufstand vom 17. Juni 1953 und „Grenzbezirk Prenzlauer Berg“. Über vieles, was darin dokumentiert wird, ist nie öffentlich berichtet worden. Doch auch über die Entstehung der religiösen Gemeinschaften waren Veröffentlichungen nicht immer für jedermann zugänglich.

Vor und um 1900 fanden erste Gottesdienste in Tanzsälen statt, weil der Bau von Gotteshäusern nicht in dem Maße wuchs, wie die Einwohnerzahl in Prenzlauer Berg stieg. Die seelsorgerische Betreuung der Gemeindeglieder war nur die eine Seite der Kirchenarbeit. Einen nicht weniger großen Stellenwert nahm die soziale Betreuung der Armen, Kranken und Schwachen ein. Im Winter 1997 meldete die Presse, daß wieder Kirchen in Prenzlauer Berg Obdachlosen eine Bleibe boten. Die Kontinuität bestimmter sozialer Verhältnisse unter ähnlichen Bedingungen ist auffällig.

Die akribische Aufführung der Daten und Fakten, ihre Wiederholung in verschiedenen Sachzusammenhängen und die Zuordnung von Persönlichkeiten zu unterschiedlichen Ereignissen erhöhen wesentlich den Wert der chronologischen Ausführungen. Die Namen Hobrecht, Griebenow, Bötzow, Prillwitz, Büttner und Bachmann beispielsweise tauchen immer wieder auf. Es wird anschaulich, daß ihr Handel und Wandel die Geschicke und Geschichte des 1920/21 Berlin zugeschlagenen Bezirkes wesentlich bestimmt hat. Natürlich auch, daß sie den Gesetzen ihrer Zeit und Zünfte folgten. Man wird neugierig auf ihre Biographien. Wer war Griebenow, von dem seine Vision zitiert wird, „Berlin zu erweitern und es dem großen Paris ähnlich zu machen“, wie auch aus seinem Lebensbericht, daß er es war, „der die Schönhauser Vorstadt Berlins aus dem Erdboden hervorrief“? Wie verlief die Entwicklung des 1784 in Prenzlau (!) Geborenen, der in eine reiche Berliner Ackerbürgerfamilie einheiratete? Er wurde millionenreicher Bodenspekulant, verschenkte Grundflächen für den Bau der Gethsemane- und der Immanuel-Kirche, aber ebenfalls für die Anlage des Friedhofes der Freireligiösen Gemeinde in der Pappelallee. Deren Leitspruch: „Schafft hier das Leben gut und schön. Kein Jenseits ist, kein Auferstehn.“ Als Bierbrauer und Brauereibesitzer ist Bötzow in die Geschichte eingegangen. Das Buch arbeitet auf, daß seine Vorfahren zu den ersten Siedlern auf dem Hufenland gehörten. Die Geschichte der Familie Prillwitz wäre wert, sie bis in die heutige Zeit nachzuvollziehen. Viele Einwohner von Prenzlauer Berg wissen, daß zu der inzwischen in Konkurs gegangenen Firma „Möbel-Max“ der Name Prillwitz gehört.

Wer historischen Spuren im Bezirk folgen möchte, kann sich mit Hilfe des Buches einen Wanderplan erstellen und davon profitieren, daß die Sparpolitik der DDR-Regierung die Rekonstruktion von hundert und noch mehr Jahre alten Gebäuden nicht zuließ und das Warten der BRD-Regierung auf Investoren, die abreißen und neu aufbauen, noch andauert. Die Lagebeschreibungen der Objekte und Straßenzüge sind detailliert genug, um sie auf Stadtplänen wiederzufinden. Trotzdem wäre es hilfreich, läge dem Buch eine Bezirkskarte bei. Wie es überhaupt einfacher wäre, das Fortschreiten der Besiedelung und der Bebauung auf dem Prenzlauer Berg nachzuvollziehen, gäbe es mehr Kartenskizzen aus verschiedenen Zeiten. Das Ortsregister gibt weniger her, als im Buch beschrieben ist. Den „Prater“ z. B. sucht man vergebens. Seine Geschichte wird natürlich erzählt. Fast eine Kuriosität: Das Foto des Denkmals mit Alois Senefelder ist seitenverkehrt. Dabei hätte Bildhauer R. Pohl den Lithographen und dessen Erfindung nicht bildhafter darstellen können, als seinen Namen 1892 spiegelverkehrt in den Denkmalsockel einzumeißeln. Endlich steht immer geschrieben: „in Prenzlauer Berg“ und nicht „im“. Journalisten sollten das Buch lesen und Reiseführer. Noch zu häufig werden Gäste in großen Bussen durch den Bezirk kutschiert, wird vor allem auf die bröckelnden Fassaden hingewiesen. Man hält vielleicht am Kollwitz-Platz, vorwiegend jedoch an der Gethsemanekirche. Doch dort hat die Bezirksgeschichte nicht begonnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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