Eine Rezension von Arno Steinwald

Glanz und Elend einer sozialen Bewegung

Ingrid Gilcher-Holtey: „Die Phantasie an die Macht“
Mai 68 in Frankreich.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995, 494 S.

„Die Phantasie an die Macht“. Die Devise des Pariser Mai 68 könnte widersprüchlicher nicht sein. ‚Widersprüchlich‘ ist sicher nicht das richtige Wort, vielmehr ist es die Praxis des politischen Alltags in unseren westlichen Gesellschaften, die genannte Devise ist geradezu exzellent. Wir haben gelernt, jeder zu seiner Zeit und in seinem System, daß Macht fast immer dröge und träge ist, sich meist mit einem Mantel aus Bürokratie umgibt und Phantasie bestenfalls bei Kleinkindern für nötig und niedlich gehalten wird. „Unterstrich Jean-Paul Sartre“, so schreibt die Autorin, „das innovative, schöpferische Potential der Bewegung, die neuen Ideen, den Bruch mit der Vergangenheit im Denken und Handeln, mithin die ‚Zäsur‘, die 68 für ihn repräsentierte, so definierte Raymond Aron, Professor an der Sorbonne, die Bewegung als „studentischen Karneval“, in dem die Akteure, ausgestattet mit den Wortmasken vergangener Revolutionen, eine ‚Quasi-Revolution‘ spielten.“ Ohne das etwa 500 Seiten starke Buch von Ingrid Gilcher-Holtey gleich als „opus magnum“ der Bielefelder Professorin für Allgemeine Geschichte bezeichnen zu wollen, scheint es mir doch wichtig festzustellen, daß mit diesem Buch eine sehr gut lesbare und überaus informative Geschichte des Mai 68 in Frankreich vorliegt. Daß mehr als zweieinhalb Jahrzehnte Abstand zwischen „Ereignis“ und Aufarbeitung bzw. Erscheinen des Buches liegen, dürfte eher auf der Habenseite zu verbuchen sein. Auch Zeithistoriker brauchen etwas Abstand, soll es nicht auf einen pseudo-wissenschaftlichen oder journalistischen „Schnellschuß“ hinauslaufen.

Häufig greifen wir auch im Alltag zu Worten wie Narr, Kasper, Spinner, um Mitmenschen, deren Phantasie oder Unangepaßtheit uns stört oder stören könnte, die Rationalität abzusprechen. Argumente wie „das war immer so“, „das haben wir immer so gemacht“, sind dann noch harmlos. Früher als es noch zwei deutsche „Staatengebilde“ gab, hörten wir häufig den Satz „Geh' doch nach drüben!“, wenn man Kritik an der alt-bundesrepublikanischen Gesellschaft vorbrachte.

Um die Schärfe der Auseinandersetzung zu charakterisieren, zitiert Gilcher-Holtey Sartre und Aron. Hören wir zuerst Sartre, der Verständnis für den studentischen Frust hat: „Der Universitätsprofessor ist fast immer - so war es auch zu meiner Zeit - ein Herr, der einmal eine Habilitationsschrift verfertigt hat und sie dann Zeit seines Lebens herunterbetet ... Wenn der alternde Aron seinen Studenten die Ideen seiner vor dem zweiten Weltkrieg verfaßten Habilitationsschrift endlos wiederholt, ohne daß diese auch nur die geringste kritische Kontrolle gegen ihn ausüben können, dann übt er seinerseits eine reale Macht aus, die jedoch bestimmt nicht auf einem Wissen beruht, das dieses Namens würdig ist ...“ Raymond Aron hält so dagegen: „Will man versuchen, ihn (Jean-Paul Sartre) zu verstehen, so hilft ein Wort von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre weiter, das Arthur Koestler zitiert hat: Lieber die Kommunisten als der General, sagten sie beide. Für diesen Fall muß man die am wenigsten befriedigende Erklärung heranziehen: nämlich die Unwissenheit, die zur Dummheit schlechthin führt. Niemals ist es diesem Philosophen der Freiheit gelungen oder, besser: niemals hat er sich bereit gefunden, den Kommunismus zu sehen, wie er wirklich ist. Er hat den sowjetischen Totalitarismus, dieses Krebsgeschwür des Jahrhunderts, niemals untersucht; er hat ihn niemals als solchen verurteilt.“

Mit diesen Zitaten sollte auch die inhaltliche Seite der Auseinandersetzung, nicht nur ihre Schärfe, in Erinnerung gerufen werden. Natürlich ist beiden Seiten damit auch Unrecht geschehen. Pauschalisieren und extremes Zuspitzen bringt dies automatisch mit sich. Gilcher-Holtey spricht von „bannfluchartigen Abgrenzungen, welche sich während und nach den Ereignissen des Mai 68 unter Intellektuellen und Fachkollegen vollzogen ...“ Man denke hierbei auch an die Situation in den „neuen“ Bundesländern! Es sind jetzt bald dreißig Jahre vergangen, das „Krebsgeschwür des sowjetischen Totalitarismus“ hat sich in mafiose Metastasen zerlegt und gezeigt, daß Methoden des Frühkapitalismus keineswegs der Vorsorge des sowjetischen Systems für seine Bürger überlegen sind. Eine pensionierte Studienrätin in Moskau, die ihr Leben lang mehr als gewissenhaft gearbeitet hat und nun ihr „materielles“ Leben fast nicht mehr gestalten kann, unter den neuen Verhältnissen, scheint mir dafür Beleg genug, von den seit Monaten ohne Lohn und Gehalt bleibenden Grubenarbeitern und Wissenschaftlern ganz zu schweigen. Jelzins „Anweisung“ an seinen Premier Tschernomyrdin verdeutlicht nur das grausame Affentheater der neuen „Freiheiten“. Aber zurück zum Pariser Mai. Auch in Westeuropa hat sich durch den Wegfall des „Eisernen Vorhangs“ und aufgrund des zunehmenden Unwillens seitens des Kapitals zur Umverteilung das soziale Klima zugespitzt. Allerdings ist bei der fast sprichwörtlichen Obrigkeitstreue der Deutschen ein Aufbegehren vorerst nicht zu erwarten.

Fernsehen, Alkohol, Trägheit der Individuen, Vereinzelung der Massen von Arbeitslosen sorgen noch für ausreichende Manipulierbarkeit in der doch bedenklichen Situation.

Das sehr gut geschriebene Buch von Ingrid Gilcher-Holtey, durchaus keine Selbstverständlichkeit bei wissenschaftlicher Literatur, ist auch deshalb interessant, weil es uns vorführt, wie der bürgerlich-konservative, gaullistische Staatsapparat die Krise in den Griff bekommen hat, welche Versäumnisse der studentische Protest zu verantworten hatte, wie die Rollenverteilung in den linken Parteien war ...

Forschungsgegenstand des vorliegenden Buches sind die „Sozialen Bewegungen“, die die Autorin deutlich vom Agieren der etablierten Parteien trennt. Die „Gegenmacht und Gegenöffentlichkeit“ dieser Bewegungen werden untersucht und werden von der Autorin trotz sicher notwendiger soziologischer Termini verständlich und lesbar dargestellt. Für deutsche und speziell ‚ost-deutsche‘ Leser müssen insbesondere die Antworten auf folgende Frage interessant sein, im Zusammenhang mit der jüngst erfolgten ‚Revolution‘ und der ihr nachfolgenden ‚äußere‘ deutschen Einheit: Die Frage lautet: „Wie strukturiert sich der Prozeß (der Protestbewegung), und welche äußeren Faktoren setzen ihn in Gang?“ Etwas später bietet uns Gilcher-Holtey zwar keine Antwort auf die vorhergehende Frage, aber doch so wichtige und diskutierbare Sätze wie diesen: „Bei aller Verschiedenartigkeit der Ziele und Mittel gleichen sich die alternativen Gesellschaftsentwürfe, so Habermas, darin, daß sie ihre utopischen Erwartungen auf die Produktionsphäre richteten, auf eine Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung. Es sind ‚arbeitsgesellschaftliche Utopien‘, die, nach Habermas, noch die 68er Bewegungen prägen und in den 70er Jahren an Überzeugungskraft verlieren.“

Die Zusammenhänge mit den übrigen Teilbereichen der Gesellschaft, Kulturkritik, darin Kritik der herrschenden Sexualmoral, all diese Dinge werden gebührend dargestellt. „Establishmen“, „Neue Linke“, „kritischer Moment“, „Renaissance des Sozialismus“ sind nur einige Begriffe, über die heute, 1997, in vielen westeuropäischen und bundesrepublikanischen Parteien gelächelt wird. Das Beispiel CSU und Bayern zeigt allerdings, daß technologische Modernisierung und populistische Politik zusammengehen können. Frau Gilcher-Holteys Analyse des Mai 68 verfährt in vier Ansätzen: „Die ... Studie unternimmt den Versuch, den Mai 68 in Frankreich aus einer ideen-, ereignis-, struktur- und sozialgeschichtlichen Perspektive zu betrachten.“

Über den Gang der Dinge, von den anfänglichen Unruhen in Paris-Nanterre über die „Dynamik der Mobilisierung“, dann allerdings schon im Zentrum der französischen Hauptstadt, im„Quartier Latin“, bis hin zum „kritischen Ereignis“ (Nacht der Barrikaden) und zum Generalstreik in Franreich, weiter zur eigentlichen Regimekrise und bis hin zur letztlich wiederhergestellten bürgerlichen Ordnung informiert uns dieses Buch auf äußerst eindrucksvolle Weise.

Wie schon angedeutet, ist diese Studie zum Mai 68 in Frankreich weitaus mehr. Veranschaulicht werden Entstehung, Blüte und das „Ausgebremstwerden“ sozialer Bewegung. Jeder Leser des Buches von Ingrid Gilcher-Holtey, der die Jahre 1989 bis heute, 1997, in Deutschland aufmerksam verfolgt hat, kann parallel zur Lektüre gut nachvollziehen, daß dieses Ausbremsen speziell im Kapitalismus vorzüglich beherrscht wird. Gilcher-Holteys letzte Kapitelüberschrift lautet: „Das Dilemma der Neuen Linken“: „Am Ende wurde die Neue Linke von der alten Linke besiegt. Die Gründe für ihr Scheitern lagen nicht in den Wertvorstellungen der Neuen Linken, sondern in ihrem Verzicht, diesen eine dauerhafte Handlungsstruktur und institutionelle Verankerung zu verleihen. So blieb ‚Phantasie an die Macht‘ ein vitalistisches Programm, das Individuen faszinierte und mobilisierte, das jedoch Macht, die auf anderen Organisations- und Entscheidungsvoraussetzungen beruht als die Bewegung der Phantasie, nicht errang. Die Neue Linke - das machte ihre innere Spannung und die Grenzen ihrer Durchsetzungsfähigkeit aus - konnte die Macht nicht übernehmen, ohne sich selbst zu zerstören.“ Ich bin relativ sicher, daß die Bewegung des Pariser Mai 68 auch anders, positiver, gedeutet werden kann. Bedenklich stimmt dieses hervorragende Buch allemal.

In diesem Zusammenhang noch einmal ein Hineinschwenken in die Aktualität bzw. jüngsten Vergangenheiten: die „berühmte“ Wende vom Nov. 1989 sollte nicht vergessen machen, daß es vor ihr schon eine „Wende“ gab, nämlich die von Helmut Kohl und seinen Parteien ausgerufene „geistig-moralische“, bei seinem Regierungsantritt, auch ausdrücklich gegen all das gerichtet, was die 68er Bewegungen an Entkrustungen mitgebracht hatten.

Man sollte auf der linken Seite des Parteienspektrums nicht vergessen, daß diese Wendung zurück zu einem spießbürgerlich-konservativen Weltbild leider zu einem Teil auch vollzogen wurde, daß die neu-amerikanisch frömmlerische Moralität und das „Totrüsten“ der Sowjetunion auf demselben Acker gewachsen sind.

„Cui bono“, wem nützt all dies, fragt der Lateiner, und die Antwort ist langweilig, weil allzu wahr und traurig, all dies nützt den ganz Reichen auf dieser Welt, den Waffenherstellern und den Bürokraten und Volksverdummern sprich TV-Unterhaltungs-„Künstlern“. Lassen wir unsere Autorin noch einmal zu Wort kommen: „Ganz unabhängig davon, ob man die 68er Bewegung als ‚romantischen Rückfall‘, als ‚Innovationsschub‘ in blockierten Gesellschaften, als ‚Manifestation einer postmaterialistischen Kultur‘ oder als ‚letzte Vitalisierung des Marxismus‘ beurteilen mag, das historisch bedeutende Phänomen der spontanen Mobilisierung einer Protestbewegung innerhalb hoch organisierter und institutionell geordneter, demokratisch verfaßter Wohlstandsgesellschaften ist in sich selbst erklärungsbedürftig. Der Mai-Bewegung in Frankreich kann paradigmatische Bedeutung zugesprochen werden für Aufstieg, Einfluß und Zerfall der Protestbewegungen in den westlichen Industriegesellschaften, in deren Nachkriegsentwicklung 1968 einen wesentlichen Einschnitt markiert.“

Von diesem Einschnitt zur Kohlschen Wende vor vielen Jahren hin zur Wende der DDR-Gesellschaft - wer sollte sich nicht für einen Text interessieren, der den geduldigen Leser - was den Umfang angeht - reichhaltig ausstattet mit Analysen und Argumenten zum Selber-Weiterdenken. Wenigstens den abtrünnigen Bürgerrechtlern wünscht der Rezensent diese Lektüre. Aber vielleicht sind das dann doch Perlen ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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