Eine Rezension von Bernhard Meyer

Lebensregeln für Kinder

Wayne Dosick: Kinder brauchen Werte.
10 Lebensregeln, die Kindern Halt und Orientierung geben.
Ein Ratgeber für den Erziehungsalltag.
Scherz Verlag, Bern, München, Wien 1996, 240 S.

Wie können Eltern auf ihre Kinder an der Schwelle zum 21. Jahrhundert am vorteilhaftesten einwirken? Die ungeheure Informationsflut und das riesig anwachsende Detailwissen führen eher zur Verunsicherung als zu festen Haltepunkten für die Älteren. In der vorliegenden Publikation wird dem Sinn für Moral und ethische Werte das Wort geredet, einer Denkweise, die im marktwirtschaftlichen Gehaste und Gedränge schon fast abhanden gekommen zu sein scheint. Eltern und Großeltern, Tanten und Onkeln, die ihre Nachfahren in dieser Hinsicht beeinflussen wollen, sei dieser Ideengeber dringend empfohlen.

Der englische Autor Wayne Dosick, ein Rabbi, nahm sich seine zwei Söhne als Leitbild für die Abfassung dieses kurzweilig aufgemachten und schnell erfaßbaren Buches. Ohne daß der Leser die zweifellos durchscheinenden religiösen Auffassungen des Autors, der sich allerdings mehr als offener, toleranter Weltbürger denn als Anhänger einer bestimmten Konfession betrachtet, teilen muß, vermittelt die Publikation alltägliches und doch zugleich in vielem originelles zum Thema „Kindererziehung“. Dieses Wort fällt wohl nicht auf den über 200 Seiten, denn es soll weniger schulmeisterlich erzogen werden als vielmehr den Heranwachsenden etwas vorgelebt, demonstriert, mit ihnen gemeinsam besprochen werden von Erwachsenen, die selbst unvollkommen sind. Es geht also um Ratschläge, wohlgemeint, mitten aus dem Leben gegriffen, für jedermann nachvollziehbar und bei ein wenig gutem Willen umsetzbar.

Der Autor verhehlt seine geistigen Quellen keineswegs, wenn er die „großen Weltreligionen“ als Bewahrer der „Grundregeln ethischen Verhaltens, die den Menschen ausmachen“, postuliert. Für ihn sind dort „altes Weisheitswissen“ und „tiefes und zeitüberschreitendes Wissen“ aufgehoben. (S. 14) Nunmehr hat er das ihm wichtig erscheinende und uns durchaus nützliche in 10 Grundregeln mit 50 Tips geordnet. Niemand sollte sich an der numerischen Ordnung stößen, sie dient lediglich der Systmatisierung und besseren Überschaubarkeit. Jeder seiner Grundregeln wurde ein Kapitel gewidmet, mit einigen Tips versehen, dazu jeweils eine Geschichte zum Vorlesen für die Kinder aufgenommen, Fragestellungen zur Herausforderung einer Entscheidung durch die Kinder, gestaffelt nach drei Altersgruppen, formuliert sowie ein Gebet angefügt. Das alles erweckt Aufmerksamkeit, wobei sich jeder die Regeln und Tips heraussuchen kann, die ihm sympathisch sind.

Über die 10 ausgewählten Grundregeln könnte man streiten, der Autor präsentiert Respekt, Wahrhaftigkeit, Fairneß, Verantwortungsbewußtsein, Mitgefühl, Dankbarkeit, Freundschaft, Friedfertigkeit, Streben nach persönlicher Reife und die Fähigkeit, an etwas zu glauben. Lassen wir den religiösen Hintergrund einmal beiseite, so treten uns allgemeine Lebensregeln in der individuellen Auswahl der Autors gegenüber. Dazu listet der Autor 50 Tips auf, von der Nr. 1 „Frühstücken Sie zusammen“ bis zur Nr. 50 „Schreiben Sie ein ethisches Testament“. Dazwischen Tips wie „Besuchen Sie auch alte Menschen“ zusammen mit Kindern, (S. 29) „Schaffen Sie neue Traditonen“ (S. 150) und „Halten Sie Familienkonferenzen ab“. (S. 164) Nicht alle Tips sind brandneu, nicht alle sind gleichermaßen wichtig oder müssen befolgt werden - Anregungen vermitteln sie allemal genügend. Und wenn es der Extratip ist: „Richten Sie ein Erinnerungskonto ein“. (S. 232)

Ja, und dann sind da noch die Fragen. Jedes der 10 Kapitel endet mit drei Fragen, untergliedert für die Vier- bis Achtjährigen, Neun- bis Zwölfjährigen und für die Teenager. Kostproben gefällig? Für die Kleinen: Im Kindergarten beschuldigt dich eines der Kinder, immer zu lange die Schaukel zu besetzen. Was antwortest du? Was tust du? Für die Mittleren: Du hast auf dem Bürgersteig vor der Schule fünfzig Mark gefunden. Was machst du mit dem Geld? Für die Größten wird es schon etwas diffiziler: Der Direktor deiner Schule bittet dich, an einer Jury teilzunehmen, die aus Jugendlichen besteht, die das richtige Strafmaß für Jugendliche finden soll, die auf dem Schulhof Schriften zur Verherrlichung der Nazidiktatur verteilten. Nimmst du an der Jury teil? Warum? Welche Strafe schlägst du vor? (S. 181/82) Wie gesagt, das alles sind nur Anregungen, die um zahlreiche eigene Varianten erweitert werden können.

Nach der Lektüre wird sich mancher Leser fragen, ob die Ratschläge tatsächlich ausreichen werden, um die Nachkommen optimal für das kommende Jahrhundert vorzubereiten, ob nicht auch Ratschläge für das Denken und Handeln der härter werdenden Leistungsgesellschaft angebracht wären. Zugegeben - mitunter kommt das eine oder andere im Buch von Dosick altväterlich daher, werden vorwiegend nur die ewigen menschlichen Werte angesprochen, die vor Jahrhunderten ebenfalls schon galten. Ein Lehrbuch für die elitäre Profilierung von Bossen und Managern will der Autor beileibe nicht geschrieben haben. Sein Anliegen besteht darin, Persönlichkeiten mit verinnerlichten vernünftigen und toleranten Werten im Gepäck in die Welt zu schicken.

Wem als Erwachsener Kinder nahe sind, wer ihnen Werte als verläßliche Haltepunkte im stürmischen Leben vermitteln möchte, der sollte sich anhand dieses Buchse Ratschläge einholen. Sie sind auch für den anscheinend schon Vollkommenen und Wissenden noch wichtig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite