Eine Rezension von Reinhard Johann

„Gebrauchte Menschen sind wir alle“

Die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ im Deutschen Bundestag.
Herausgegeben vom Deutschen Bundestag.
Neun Bände in 18 Teilbänden.
Nomos Verlag Baden-Baden, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995.

Ein 18bändiges Protokoll, wovon jeder Teilband zwischen rund 700 und 1 000 Seiten stark ist, kann man nicht referieren und ebensowenig auf einen Zug durchlesen. Doch nimmt man nur einen x-beliebigen Band dieses Protokolls zur Hand und beginnt, sich in seinen Inhalt zu vertiefen, wird einem sofort klar: Eine Riesenarbeit steckt darin! Und über einen Punkt sind sich die Verfechter dieses Unternehmens ebenso wie die Kritiker einig: Künftige Betrachtungen zur Geschichte der DDR werden an diesem Protokoll nicht vorbeigehen können! Eine Unmenge an Materialien, aber auch an Einsichten und Ansichten versammeln sich hier; und wortwörtlich ist jede Frage, jede Zwischenbemerkung, jede Beifallsregung vermerkt. Alles konnte gesagt werden, wenn man die Chance hatte, zu den Befragten, Zeitzeugen oder Referenten bzw. Gutachtern zu zählen. Und Adolf Kossakowski, einer der maßgebenden Pädagogen und Psychologen der DDR, konnte seinen Standpunkt, wonach die DDR-Pädagogik seriöse Forschung betrieben hat, genauso vortragen wie Siegmar Faust, ein unterdrückter Schriftsteller, seine Auffassung, wonach von den „offiziellen Schriftstellern“ der DDR (er nimmt nur „Neumann, Hilbig und ein paar jüngere“ aus) „nur ein Misthaufen“ übrigbleiben würde (III. 1, S. 476). Damit ist auch im groben das Spektrum umrissen, in dem sich die Urteile über die DDR bewegen. Wenn man genauer auf die Autorenliste schaut, dann wird allerdings deutlich, daß die Kossakowskis eine verschwindende Minderheit bilden und die Fäuste allenthalben dominieren. Daß die Opfer das Feld beherrschen, überrascht nicht, ging doch von ihnen die Initiative zur Gründung einer derartigen Kommission aus. Doch nicht nur die Achtung vor der historischen Gerechtigkeit gebietet es, ihre Intentionen zu würdigen, sondern auch der ernüchternde Blick auf die den Büchermarkt bislang dominierende, in einzelnen Bereichen durchaus auch selbstkritische, aber letztlich doch wohlgefällige Selbstbespiegelung durch eine respektable Zahl von ehemaligen Spitzenvertretern der SED. Es mag sein, daß daraus so manche Kopflastigkeit in der Themenauswahl resultiert - ein Grund jedoch, die nunmehr der Öffentlichkeit vorgelegten Resultate der ersten Arbeitsperiode dieser Enquete-Kommission deswegen abzulehnen, ist daraus nicht abzuleiten. Denn auch die ausgewählten Themen verlangen allemal die uneingeschränkte Aufmerksamkeit jeder rückblickenden Analyse.

Wer die ganze Bandbreite der Meinungen zum Vorhaben der Kommission kennenlernen will, kann sich im ersten Bande über die verschiedenen inhaltlichen Argumentationen der Parteien und Gruppen des Deutschen Bundestages informieren. Das separate Votum der PDS zum Abschlußbericht allerdings ist - da nicht zur Protokollpflicht der Kommissionsarbeit zählend - nicht in diesen Bänden enthalten. Wer sich darüber kundig machen will, der bestelle beim Referat Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestages die Drucksache 12/7820 vom 31. Mai 1994, die den Abschlußbericht der Kommission und das Sondervotum des Mitglieds der Gruppe PDS/LL, Dietmar Keller, enthält.

Bleiben wir noch beim Resümieren der Spannweite des thematischen Auftrages der Kommission. Geschichte und Folgen der SED-Diktatur werden ins Visier genommen, also nicht vordergründig die Geschichte der DDR; und auch nicht bzw. nur unzulänglich die Folgen ihrer Existenz. Sondern die Rolle der SED und die von dieser Partei zu verantwortenden Geschehnisse stehen im Mittelpunkt, wobei natürlich der gesamte Apparat der politischen und ideologischen Herrschaft den Schwerpunkt bildet. Man kann das für eine unzulässige Eingrenzung halten, weil viele entscheidende Lebensbereiche einer ganzen komplexen Gesellschaft auf diese Weise ausgeklammert werden. Allein das Programm dieser Enquete-Kommission war kein wissenschaftliches, ihr Anliegen lief nicht auf die Erforschung der DDR hinaus. Sondern diese Enquete-Kommission war eine politische Einrichtung. Das ist keineswegs als Abwertung gemeint, wird aber nicht selten so verstanden. Aber daraus resultiert so manches Herangehen an die Themen, ein nahezu durchgängiges Primat der Wertung gegenüber der Analyse, nicht zuletzt die Auswahl der Themen. Den Folgen der SED-Diktatur, die sich ja im wesentlichen auf das Weiterwirken nahezu sämtlicher Aspekte der DDR-Wirklichkeit beziehen, aber auch auf die politischen Maßnahmen der neuen Regierungsmächte gegenüber dieser Wirklichkeit, wird vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt, vor allem in analytischer Hinsicht blieb dieses Feld weitgehend brach. Ein Hoffnungsschimmer, der zugleich die Erklärung für diese Fehlstelle gibt, leuchtet mit dem Verweis auf die zweite Periode dieser Enquete-Kommission in der laufenden Wahlperiode auf, denn nunmehr - und daraus werden gewiß nicht weniger Protokollseiten resultieren - ist die Transformationsperiode ins Visier genommen worden, genauer gesagt die „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Womit sich neue Verantwortungsträger in den Vordergrund schieben - aber das wäre das Thema der Rezension der nächsten 18 Bände.

Werfen wir zunächst den Blick auf die Kommission selbst und die wichtigsten Wege, sich dem komplexen Thema zu nähern. In die Kommission wurden von den Fraktionen des Deutschen Bundestages 14 Mitglieder des Bundestages und 9 Sachverständige je nach Fraktionsstärke entsandt (CDU/CSU 7 Abgeordnete und 5 Sachverständige; SPD 5/3, FDP 2/1); hinzu kamen von den beiden Gruppen (PDS/Linke Liste, Bündnis 90/Die Grünen) je ein Parlamentarier und Sachverständiger mit allerdings nur beratender Stimme. Über die Divergenzen in den Ansichten der jeweiligen politischen Gruppierungen, welche Schwerpunkte zu setzen sind und in welchem Umfang die Geschichte der beiden Deutschlands und das weltpolitische Geschehen berücksichtigt werden müssen, gibt die Debatte des Deutschen Bundestages vom 12. März 1992 hinlänglich Auskunft; man sollte beim auswählenden Studieren an dieser Vorgeschichte nicht vorbeilesen! Nach Willy Brandts sachlicher Rede und eindringlicher Mahnung, daß Erinnerung nicht selektieren dürfe, sondern alles umfassen müsse, brachen die Dämme auf und schienen das ganze Unternehmen von Anfang an zu gefährden - Freimut Duve (SPD) fand die Rede Schäubles (CDU) als eine „schwere Belastung für die Arbeit der Kommission“, obwohl gerade dieser an den nachdenkenswerten Ausspruch Lothar de Maizières anknüpfte, wonach wir alle, in Ost und West, im Sinne unserer Vergangenheit „gebrauchte Menschen“ sind. Rainer Eppelmann, mit dessen Name fortan die Kommission im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein identifiziert wurde, blieb es vorbehalten, den schwierigen Spagat prophetisch auszumessen, der sich für die Arbeit der Kommission auch prompt einstellte. Liest man heute das damals von ihm vorgestellte Credo, wonach es darauf ankomme, „bewußt, differenziert, sensibel, gerecht und verständnisvoll den Blick zurückzuwenden“, damit die Zukunft gewonnen werden könne (I, S. 27), könnte man meinen, er spräche jedem aus dem Herzen. Doch bereits in dieser Rede steht gleich daneben die Behauptung, wonach die „Schwierigkeiten von heute“ die „Folgen der Untaten von gestern“ seien. Das ist weder differenziert noch gerecht geurteilt, möchte man einwenden. Und darin besteht der bereits erwähnte Spagat: Die Bewertung des zu untersuchenden Gegenstandes war längst erfolgt, aber wie stand es mit der Lebenswirklichkeit von rund 16 Millionen Menschen? Was wäre denn aus deren Sicht gegen diese Bewertung noch einzuholen gewesen? Und wie wäre eine solche Neubewertung politisch denkbar? Die Frage stellen heißt, sie beantworten zu müssen. Politische Bewertungen sind keine wissenschaftlichen Thesen, die sich freiwillig dem prüfenden Ansturm der Forschung stellen, sondern sie sind Prämissen, nach denen sich ein nachfolgender Einsichtsvollzug gestaltet. Doch die entscheidende Feststellung, der sich niemand wirklich entziehen kann, folgt diesem eher rhetorischen Abwägen auf dem Fuße: Wer hat denn die Struktur dieser Bewertung vorgegeben? War es nicht eine historische Bewährungsprobe, die nicht gemeistert wurde? Waren es nicht Tausende von Gebrechen, kleinen und großen Ungerechtigkeiten, gar Verbrechen, die den Weg der DDR kennzeichneten? Hat sich die SED-PDS auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 beim Volk der DDR für das, was die SED diesem Volke angetan hat, etwa zu Unrecht entschuldigt? Davon kann natürlich keine Rede sein. Alles, was die Herrschaft der zu selbstgefälligen Götzen hochgeprägten Parteispitzen und den sie umgebenden Apparat betrifft, stand und steht nicht zur Disposition einer Neubewertung. Und das war das Wesentliche des Ganzen. Der Rest ist Detail - aber gerade dieses Detail ist das millionenfache Einzelschicksal! Und hier setzt eine zweite Gruppe von Bewertungen an, Bewertungen wie die, wonach die Elbe auch die deutsche Wesensart zweigeteilt habe - hie die Guten, da die Schlechten, hie der fleißige Bundesbürger, da der „faule, dumme, ungeschickte und feige DDR-Bürger“, um noch einmal Eppelmann zu zitieren, der sich gegen solcherart Wichtungen energisch verwahrt. Die Gefahr, mit einen rundweg negativen DDR-Bild auch die Lebensgeschichte dieser 16 Milionen in die Mülltonne zu befördern, war objektiv gegeben. Daß das jedoch keine politische Aufarbeitungsstrategie sein kann, versteht sich von selbst. Doch wenn es sinnerfülltes Leben gab in dieser DDR, dann sind die Einzelschicksale auch Teil des Ganzen. Dann hat dieses Ganze sich eben auch strukturierend auf diese Lebenswirklichkeiten ausgewirkt, vom gesicherten Arbeitsplatz über bezahlbares Wohnen zur Gewährleistung der beruflichen Bildung. Was vom Ganzen aber war das Wesentliche, das Bestimmende? War der Sozialismus in Teilen gerecht und annehmbar, weil er in seiner politischen Struktur so ideologiegeprägt und machthierarchisch war, oder waren es nur politische Entgleisungen, der Altersstarrsinn seiner Vorderleute, die Zwänge des Kalten Krieges, die sein Antlitz so verdüstert haben? Und diese Fragen zu stellen, heißt, sie nicht beantworten zu können, weil sie nicht mit Vermutungen und Ansichten zu beantworten sind, sondern nur auf dem Wege seriöser theoretischer Arbeit. Das aber war von Anfang an nicht das Anliegen der Enquete-Kommission. Alle Vorwürfe, die ihr in dieser Hinsicht gemacht werden - sie hätte sich ein gerechtes Bild der sozialistischen Gesellschaft erarbeiten müssen etc. -, greifen ins Leere. Politische Aufarbeitung hieß die Parole, nicht aber wissenschaftlich begründete Geschichtsschreibung. Es kommt nicht auf wissenschaftliches Ergründen an - so konnte man aus dem Umkreis der staatstragenden Parteien hören -, sondern auf die Permanenz der Erinnerung an den Unrechtsstaat! Die Pestilenz der historischen Verklärung, die in einigen Ostbereichen schon zur nostalgischen Mode geworden war, mußte zurückgedrängt, aus den Köpfen ausgetrieben werden. Und das war eine komplizierte politische Aufgabe. Um sie zu lösen, bot sich ein durchorganisiertes politisch-programmatisch geleitetes Verfahren in Form einer Enquete-Kommission nachdrücklich an - ein Aufarbeitungsverfahren, mit deutscher Gründlichkeit vorbereitet, mit pastoraler Pedanterie geleitet und mit ungebrochen durchgehaltener Ernsthaftigkeit realisiert.

Man kann sich also - vor allem auch in Ansehung der aufgetürmten Materialien - das Urteil nicht so leicht machen und mit der politischen Bewertung das ganze Unternehmen als fragwürdig einstufen. Daß sich nicht wenige vormalige DDR-Bürger in diesen Materialien nicht wiedererkennen, muß nicht gegen dieses Material sprechen, zumal nicht wenige darin sehr wohl Strukturen ihrer Lebenswirklichkeit auszumachen vermögen. Die Zustimmung der Bürger - „ja, so war es!“ - steht der Distanz gegenüber - „nie habe ich das so erlebt!“. Das also kann nicht das Kriterium für die Bewertung der vorliegenden Materialien sein. Was dann? Die Antwort mag verwirren, weil sie eine quantitative Beliebigkeit vorzuziehen scheint, jedoch im Grunde genommen den Anteil an wissenschaftlicher Fundierung zu stärken gedenkt: das Vertiefen in die Strukturen des Gegenstandes! Also doch wieder das Hineinloten in Machtstrukturen und Repressionsmechanismen, in das tägliche Erleben von Diktatur? Nicht nur, aber auch! Ich glaube schon, daß die schmerzhafte Kur, die sich mit diesem Vorgehen verbindet, einfach durchgestanden und geistig durchlebt werden muß. Aber nicht nach dem Prinzip vergessen und vergeben, sondern als Signal gegen einen durchaus nicht nur in den sogenannten totalitäten Staaten verbreiteten Fluch - den Fluch der mitlaufenden Anpassung, des Abschottens, der Suche nach dem individuellen Reservat. Und das gilt nicht nur für den sich dem scheinbar Unvermeidlichen fügenden DDR-Bürger, sondern für jeden, der früher und heute Politik erlebte und erfährt. Es ist ein Aufruf zur Politik, der sich in diesen 18 Bänden und in jedem einzelnen von ihnen ausdrückt! Mitgestalten, Chancen wahrnehmen und keine neue Vertrauensseligkeit einreißen lassen! Nicht „das Volk“ ist das politische Subjekt, sondern jeder einzelne Bürger. Man mag über viele Expertisen, die die Kommission für viel Geld anfertigen ließ, geteilter Meinung sein - diese Lehre aber ist das Lesezeichen des ganzen Protokolls.

Wirft man den Blick auf die Beiträge, dann fallen drei sehr differenzierte Formen des Herangehens auf. Das wären zum einen die Erlebnisberichte der Zeitzeugen, die in der Regel zwar nicht unbeeinflußt sind von Wertungen und Wichtungen sowohl über die eigene Rolle im Ganzen als auch über dieses Ganze selbst, aber durchweg vom Faktischen des Erlebten, Durchlebten handeln. Zum zweiten sind es theoretisch fundierte Standortbestimmungen, die aber ganz überwiegend von einer einzigen politiktheoretischen These ausgehen, die wie ein die Geister disziplinierender Adler über so gut wie allen Veranstaltungen und Schreibtischen der Expertisenautoren zu schweben schien: die Totalitarismustheorie, die von der Gleichförmigkeit totalitärer Strukturen faschistischer und kommunistischer Provenienz ausgeht. Und drittens sind die politischen Statements zu nennen, die sich weder um theoretische Standards kümmern noch von irgendeiner direkten Erlebniswirklichkeit geprägt sind. Es liegt eigentlich auf der Hand, welche Beitragsgruppe die meiste Skepsis hervorruft - es ist die letztgenannte. Aber auch die Expertisen sind oft genug zu Meinungsäußerungen geworden. Aufregend und beeindruckend sind nahezu sämtliche Zeitzeugenberichte. Doch auch hier hat, wohl durch die Umstände des ganzen Verfahrens mitgeprägt, selten genug ein Blick auf die idealen Motivationen des eigenen Tuns für diesen nun ganz auf die Schattenseite der Geschichte geratenen Staat „DDR“ stattgefunden. Wenn auf solche Ideale die Rede kam, wurden sie eigentlich nur mit einem mitleidigen Lächeln quittiert; sie einem näheren Vergleich zu unterziehen, schien obsolet zu sein. Aber hätte sich nicht hier die Frage weiterverfolgen lassen, warum so viele Menschen so lange mit diesem „Gebilde“ eben ganz anders umgegangen sind, als es dieselben nach nur einigen Jahren der Erfahrung der neuen Bundesrepublik mit diesem ihren neuen Staate tun? Es ist aber eine ältere Erkenntnis, daß manche Theorien manche Fragen gar nicht erst zulassen. Sie passen nicht in den Fragerahmen der geltenden Interpretationsmuster.

Mit den eigenen Fragen im Kopfe greife man zu diesen Bänden, deren klare thematische Ordnung es erlaubt, das auszuwählen, was einen besonders bewegt - und bewegt hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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