Eine Rezension von Olaf Briese

Zur Geschichte eines Tabus

Karl Braun: Die Krankheit Onania
Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 1995, (Historische Studien Bd. 16), 320 S.

Es gibt offenbar auch in der Wissenschaft gewisse Staueffekte. Denn gelegentlich werden bestimmte Fragestellungen erst dann behandelt, nachdem ein bestimmter Problemdruck stark genug geworden ist. Dann bersten buchstäblich alle Wälle, und die neuen Fragestellungen und Antwortvorschläge brechen ungehemmt hervor.

Auf diese Weise nahm die modere Debatte zur sexuellen Selbstbefriedigung ihren Lauf. Denn erst nach der sogenannten sexuellen Revolution Ende der sechziger Jahre kam Bewegung endlich auch in dieses Thema. Die populäre pädagogische und medizinische Aufklärungsliteratur ging nunmehr sichtlich weniger restriktiv damit um. Parallel beförderten geschichtliche Untersuchungen eine Öffnung. Einerseits brachten sie diesen vermeintlich peinlichen Sachverhalt überhaupt erstmals in die Öffentlichkeit. Andererseits zeigten sie, unter welchen historischen Umständen die zäh nachwirkenden Verdikte gegen diese selbstgeschlechtliche Lust einst entstanden waren.

Dabei ging es anfangs nicht ohne harsche Abrechnungen mit der Aufklärungskultur ab. Denn in dieser wurden die Quellen der autoritären Beschränkung der sexuellen Lust am eigenen Körper gesehen. Mitunter allzu schnell wurde das Bild einer bürgerlichen „schwarzen“ Aufklärung gezeichnet. Natürlich war eine solche überschäumende Polemik nach all den Zeiten behinderter Ekstase verdienstvoll. Nur brachten die polemischen Attacken gegen die vermeintlich diktatorischen sexuellen Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft für die Wissenschaft allmählich nicht allzuviel Gewinn. Erst einige Arbeiten der letzten Jahre wandten sich detaillierter und mit spezifischen Fragestellungen diesem Thema zu. Daran knüpft Karl Braun mit seinem Buch über die Selbstbefriedigung an, und er hebt die Forschung auf ein neues Niveau.

In mindestens zweifacher Hinsicht kann er zeigen, wie die frühaufklärerischen und aufklärerischen Bilder von den schrecklichen Folgen der „Onania“ - also Krankheit, allmähliche Verblödung und schließlicher qualvoller Tod - ihre eigene Art Rationalität aufwiesen. Sie entsprangen eben nicht nur einer repressiven sozialen Disziplinierung. Einerseits legt er in bisher nicht gesehener Weise dar, wie die Warnungen vor der Selbstbefriedigung den damaligen medizinischen Lehren entsprangen. Diese gingen von einem körperlichen Säftehaushalt aus, der keinesfalls beeinträchtigt werden durfte. Viel Feuchtigkeit und viele Säfte bedeuteten Gesundheit. Starkes Schwitzen, übermäßige Aussscheidungen und Flüssigkeitsverlust würden hingegen desaströse Folgen haben. Andererseits und ergänzend zu diesen medizinhistorischen Erläuterungen legt der Autor dar, daß diese frühaufklärerischen Drohungen sich viel stärker, als bis heute bekannt ist, bereits aus der Zeit der Reformation herschreiben. Somit schlägt er also den Bogen hinter die Aufklärung zurück und eröffnet interessante wissenschafts- und religionsgeschichtliche Einblicke.

Kurz zu den Ergebnissen im einzelnen: Der erste medizingeschichtliche Teil geht, wie erwähnt, von der Frage aus, ob nicht eine bestimmte Art medizinischer Rationalität dazu geführt habe, daß Selbstbefriedigung derart ins schiefe Licht geriet und weitaus schlimmer galt, als die Lust bei der zweigeschlechtlichen Vereinigung. Mit Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Prägungen wie „Paradigma“ oder „Denkstil“ zeigt der Autor, daß gerade die inzwischen eingetretene Kombination von antiker Säftelehre mit den neuen Lehren von Nervenfiebern und Lebensgeistern dazu geführt hat. Die durch Selbstbefriedigung recht unkompliziert mögliche geschlechtliche Erregung bringe nicht nur die Körpersäfte durcheinander, sondern darüber hinaus auch die Organisation des Nervensystems. Hatte Descartes den Menschen ohne Kompromisse in Körper und Geist zweigeteilt, so bestand nun also die Gefahr, daß nicht nur der Körper zerrüttet werde, sondern auch der teils materielle, teils nichtmaterielle Geist. Das führe von Rückenmark- und Gehirnkrankheiten bis zu geistiger Verwirrung und schließlich zum Tod. All diese Folgen seien beim sexuellen Griff nach sich selbst viel wahrscheinlicher als nach dem üblichen geschlechtlichen Beischlaf. Das komme einerseits daher, weil ein Beischlaf ja immer zwei Beteiligte erforderlich macht und schon von daher nicht tagtäglich oder gar mehrmals am Tag möglich sein kann. Andererseits treten schädliche Erregungen bei der ungestörten Beschäftigung mit sich selbst viel stärker hervor als bei der Konzentration auf die immerhin notwendige Fortpflanzung.

Ein zweiter Teil des Buches behandelt die Frage, warum gerade im protestantischen und nicht im katholischen Milieu solche Theorien einen so günstigen Nährboden fanden. Er kommt mit Berufung auf Max Weber zu dem Schluß, daß diesbezüglich das Ideal protestantischer Bedürfnislosigkeit und Askese als äußerst folgenreich angesehen werden muß. Bei diesem protestantischen Hintergrund bleibt der Verfasser aber nicht stehen, und in recht ausführlicher Weise wird die Geschichte der christlichen Vorstellungen von Körperlichkeit und Sinnlichkeit überhaupt nachgezeichnet. Dabei kann an Hand subtiler begriffsgeschichtlicher Untersuchungen gezeigt werden, welche anderen Wortfelder einst den Sachverhalt der Selbstbefriedigung bezeichneten (Mollitia/Pollutio/Immunditia).

Ein dritter kurzer Teil des Buches unternimmt zusammenfassend eine Periodisierung und skizziert die Etappen auf dem Weg zum aktuellen Verständnis von Sexualität. Schlüssig, aber leider eher am Rande, wird darauf hingewiesen, wie die Kampagnen gegen die Selbstbefriedigung selbst schon als Ausdruck einer untergründig spürbar werdenden „sexuellen Mentalität“ anzusehen sind. Denn mit trefflichem tiefenhermeneutischen Blick wird vom Autor diagnostiziert, daß all diese absonderlichen Attacken gegen die Onania selbst schon Zeugnisse eines sexuellen Soges sind - der aber vorerst in einer „Negativ-Gestalt“ zum Ausdruck kam. Dieser Ansatz, der leider keine weitere Berücksichtigung findet, hätte ausgebaut werden können. Psychoanalytische Methodiken etwa könnten dieses soziale Phänomen sicherlich erhellen und erklären, warum merkwürdigerweise überhaupt so viele soziale Energien in diese Onanie-Debatte flossen. Hier sei nur auf eine betreffende Überlegung Freuds verwiesen: „Ein verdrängter Vorstellungs- und Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt“.

Liegt also insgesamt ein lehrreiches und lesenswertes Buch vor, welches gekonnt Wissenschafts-, Sozial- und Religionsgeschichte miteinander verknüpft, so hinterläßt es zumindest in einer Hinsicht eine empfindliche Lücke: Denn auch in diesem Buch wird die Frage, welche Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in diesen Onanie-Debatten etabliert wurden, nicht weiter thematisiert. Denn gerade weil Frauen von diesen Verdikten in der Regel ausgenommen waren, könnte man ja mit einiger Übertreibung von einer umgekehrten Hexenjagd sprechen. Der Autor weist zwar darauf hin, daß Frauen in diesen Onanie-Büchern, selbst als Subjekt der Sünde, äußerst selten vorkommen. Er geht aber nicht weiter auf diesen Umstand ein.

Hier fällt er überraschend hinter den Forschungsstand zurück. Denn etwa die Arbeiten von Esther Fischer-Homberger, Barbara Duden und anderen haben gezeigt, auf welche Weise auch Frauen zum - freilich eher obskuren - Objekt der medizinischen Begierde wurden. Unter anderem wurde in ihren Arbeiten auch der Zusammenhang aufgezeigt, der zwischen der Verteufelung der Menstruation und den Warnungen vor Masturbation bestand. Zwar stützen sich diese Autorinnen größtenteils auf andere Literatur und andere Diskurse. Aber dennoch scheint hier der Autor seinen Quellen, die ja tatsächlich mehr das Augenmerk auf männliche Sünder richten, zu leicht gefolgt zu sein. Hätte nicht an diesem Komplex die These, daß der offenbar so lustvolle Kampf gegen Selbstbefriedigung selbst von versteckten sexuellen Energien getragen ist, sogar erhärtet werden können? Und wäre damit nicht die Frage, warum - wenn nicht auch aus eigenen Wunschträumen und Versuchungen heraus! - all diese Männer der Medizin und Pädagogik wie selbstverständlich davon ausgehen, daß der lustvolle Griff nach sich selbst eben Männersache sei, näher zu beantworten?

Hier ist also Raum für weitere Forschungen. Die wichtigen Ergebnisse von Karl Brauns Buch werden dabei unbedingt berücksichtigt werden müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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