Eine Rezension von Kathrin Chod

„Das erste Loch in der Mauer“

Timothy Garton Ash: Im Namen Europas
Deutschland und der geteilte Kontinent.
Aus dem Englischen von Yvonne Badal.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1996, 842 S.

Martin Gutzeit rang um Fassung. Die Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hatte im November 1993 geladen, und hochrangige Zeitzeugen waren gekommen. Die Fragen: Hat die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik vor 1989 das DDR-Regime verlängert, stabilisiert? War es nur eine Status-quo-Politik?

Doch was mußten sich die Kommissionsmitglieder anhören? Die Leipziger Montagsgebete seien lediglich ein Ableger der westdeutschen Friedensbewegung gewesen, verkündete Erhard Eppler. Egon Bahr vermeldete, die Dissidenten wären sehr spät gekommen. 1987 habe er schon mit SED-Leuten über die Einheit reden können, während die Bürgerrechtler noch von einem aufgeklärten Sozialismus träumten. Helmut Kohl hatte es schon immer gewußt, daß der Strom der Zeit die Einheit durchsetzen würde. Die Untersuchung verkam zum Wahlkampf, und jeder Politiker behauptete, daß die Einheit nur eine logische Konsequenz seiner eigenen Politik gewesen wäre.

Es blieb einem britischen Historiker vorbehalten, die selbstgefällige Aufarbeitung deutscher Gechichte zu stören. Timothy Garton Ash vertrat vor der Kommission seine Sicht auf die deutsche Ostpolitik von Brandt bis Kohl. Eine Sicht, die er im selben Jahr auch in einem monumentalen Buch ausgebreitet und begründet hatte. Das Werk fand wohlwollende bis begeisterte Aufnahme in der Presse. Politiker äußerten sich weniger enthusiastisch.

Der Fischer Verlag brachte nun Im Namen Europas als preiswertes Taschenbuch heraus und kann darauf vertrauen, daß bislang nichts Vergleichbares, nichts Tiefgründigeres zum Thema vorliegt.

Das Buch monumental zu nennen fällt nicht schwer. Allein der Umfang von mehr als 800 Seiten, davon ein Viertel Quellenverzeichnis, beeindruckt. Ash nutzte für seine Arbeit eine Unmenge von Materialien, angefangen von Akten aus den Archiven von SED und Staatssicherheit, bis zu persönlichen Aufzeichnungen von Politikern. Zudem ließ er Gespräche mit vielen Protagonisten der Ostpolitik einfließen.

Das Ergebnis ist ein faktenreiches und gut lesbares Buch. Ironie und Polemik sind, auch dank einer hervorragenden Übertragung aus dem Englischen (Yvonne Badal), ständige Begleiter seiner Argumentation.

Dennoch der Einwand: Was uns der Autor sagen will, wäre auch in kürzerer, strafferer Form möglich gewesen. Einige Einschätzungen tauchen immer wieder auf, und auch so manche Fakten erscheinen dem Autor so eindrucksvoll, daß er sie des öfteren wiederholt. Zudem verläßt ihn seine britische Abgeklärtheit und Zurückhaltung, wenn er auf die Beziehungen bzw. Nicht-Beziehungen zwischen westdeutschen Politikern und der Solidarnosc zu sprechen kommt. Heuchelei, Egoismus und Indifferenz gegenüber der Sache der Freiheit sind da die Vorwürfe gegenüber der SPD.

Die deutsche Politik im Namen Europas war in Wirklichkeit, so stellt Ash dar, nationaler und machtbewußter als zugegeben wurde. Der Autor berücksichtigt auch die Schwierigkeiten, denen sich jeder Bundeskanzler bei der Formulierung einer Außenpolitik u. a. gegenüber sah: Nur noch 1 % der BRD-Bevölkerung sah in der Wiedervereinigung ein vordringliches Ziel; westliche Nachbarn konnten mit zwei deutschen Staaten auch ganz gut leben; Westberlin erschien als eine Geiselstadt; die DDR unterlag wie kein zweites Land den Weisungen Moskaus; in der DDR standen mehr Sowjetsoldaten unter Waffen als irgend wo sonst außerhalb der UdSSR. Unter diesen Umständen kreierten Willy Brandt und Egon Bahr die neue Ostpolitik.

War diese von der CDU weitergeführte Politik erfolgreich? Letztendlich schon. Doch, so meint der Autor, nicht direkt und schon gar nicht im Sinne ihrer Verfechter. Wandel durch Annäherung hätte eher den Westen als den Osten verwandelt. Die Politik wäre zu sehr auf die kommunistischen Machthaber orientiert und zu wenig auf die einzelnen Menschen. „Die Idee einer Liberalisierung durch Stabilisierung, mit ihrem verhaltenspsychologischen Kern: Entspannung durch Besänftigung, war immer fehlgeleitet. Der Westen konnte nie so viel Besänftigung anbieten, daß die kommunistischen Machthaber sich entspannten, denn die inneren Spannungen dieser Staaten waren durch das Wesen ihrer Systeme und nicht nur durch die äußeren Spannungen des Kalten Krieges bestimmt.“

So gab es in der DDR keine Reformen von oben. Allerdings führte die außenpolitische Aufwertung der DDR und vor allem Erich Honeckers dazu, daß dieser sich in Wertschäztung sonnte, innenpolitische Probleme gröblichst vernachlässigte und so ein tödlicher Reformstau entstand. Ob das immer die Absicht der westdeutschen Gesprächspartner war, kann man anzweifeln. Vielmehr konstatiert Ash einen förmlichen Wettlauf um die Gunst, Erich Honecker die Hand schütteln zu dürfen. Und alle Besuche wären von einer „Höflichkeit, die manchmal schon in Schmeichelei ausartete“, gewesen. Mit Sicherheit hätten diese Politiker nicht in erster Linie „den Menschen“, sondern ihrem eigenen „Profil“ geholfen.

Zur Ehre der politischen Elite muß man aber zugeben, daß der Autor sie in einigen Belangen etwas unterschätzt. So kann man Politikern schon das Wissen eines normalen Bankkaufmannes zubilligen, wonach immer neue Kredite dem Osten nur kurzfristige Erleichterung, aber langfristig Abhängigkeit schaffen. Die Abhängigkeit der DDR von der BRD, die hierdurch entstand, ließ bereits in Moskau die Alarmglocken schrillen. Das belegen die Erinnerungen mehrerer sowjetischer Politiker. Als extremen Fall von Abhängigkeit führt der Autor selber Ungarn an. Er belegt das auch mit Fakten und folgert: „Solche Zahlen sind wichtig für das Verständnis der außenpolitischen Entscheidungen von Ungarns noch immer vorgeblich ‚sozialistischer‘ Führung im Jahr 1989.“ Ganz genau, einen besseren Beweis für finanzielle Abhängigkeit und daraus folgende politische Handlungen (Öffnung der Grenze) gibt es kaum.

Letztlich gesteht Ash der Ostpolitik zu, daß sie das erste Loch in die Mauer schlug (Solidarnosc das zweite).

Interessant ist der Blick von außen auf das westdeutsche DDR-Bild vor und nach der Wende. 1991 wären Kommentare von Politikern und Medien über die DDR übereinstimmend negativ gewesen. „Das ganze Vokabular zur Beschreibung einer Diktatur - angefangen bei dem Wort ‚Diktatur‘ -, das aus der höflichen Gesellschaft der deutschen Politik mehr oder weniger verschwunden war, tauchte mit dem Ende der Diktatur über Nacht wieder auf“. Ash verlangt hier auch eine Selbstprüfung auf westdeutscher Seite, und er stellt Fragen, die weiter einer Antwort harren: „Hatte die Bundesrepublik wirklich alles in ihrer Macht Stehende getan, um die täglichen Übel in der DDR zu bekämpfen, zu begrenzen oder zumindest zu lindern? ... Hatten all diese Verhandlungen, Devisen, all die Anerkennung und die Selbstzensur wirklich die erwünschten Resultate erzielt? Und selbst wenn es so war, dann zu welchem Preis? Für wieviel Demoralisierung im Osten und wieviel Relativierung im Westen?“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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