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Messe-Mosaik

Alltag auf der Ostparzelle

Zu Landolf Scherzers: „Mitleid ist umsonst,
Neid mußt du dir erarbeiten“

Vor der Lesung hat Landolf Scherzer nicht die richtige Ruhe für ein Gespräch. Nach der Lesung auch nicht. Presse, Fernsehen, Rundfunk - muß sein. Und abends wieder zurück nach Dietzhausen bei Suhl. Also reden wir irgendwann dazwischen.

Die Lesung ist gut gelaufen. Stoppenvoll, viel junge Leute, und während des Vortrags jene atmende Stille, die nur entsteht, wenn das Publikum zuhört: gespannt, aufmerksam, betroffen. Landolf Scherzer liest drei Geschichten aus dem eben bei Edition Ost erschienenen Reportageband Mitleid ist umsonst, Neid mußt du dir erarbeiten. Wie wahr.

Scherzer guckt sich die Welt an, genauer: die Ost-Parzelle, früher DDR. Er beschreibt die Wirklichkeit. Reicht das? Ja, sagt er. Er setze nicht auf Veränderung - er wisse, wie sinnlos das sei. Man könne darüber zum Terroristen werden. Es wäre ja schon was, gegen die Verfälschung der Wirklichkeit zu schreiben. Im Alltag zu bleiben, und da ganz genau sein.

Mit „Sag Sascha, nicht Alexander“ beginnt er die Lesung. Eine einfache Geschichte. Sie ist ihm passiert. So etwas läßt sich nur schwer erfinden. So etwas gibt es nur im richtigen Leben. Der Autor will seine in Lettland lebenden russischen Freunde nach Deutschland einladen. Ohne offizielle Einladung aber wird ihnen die Reise von ihren Behörden nicht genehmigt. Nichts leichter als das, meint der Schriftsteller. Ein Formular im Land der Formulare - kein Problem ... Und schildert minutiös die Mühlen der Bürokratie. Die Gemeinheit von Verordnungen. Die Herabwürdigung durch Vorschriften. Wie immer geht es um Geld, das einer hat - oder nicht. In diesem Falle um den amtlich beglaubigten Nachweis eines kontinuierlichen Verdienstes von rund 2 000 Deutschmark. Wer hat, der kann. „Und Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger?“ fragt der Autor. Die Antwort ist eindeutig: „Können natürlich, mal ausgenommen sie wären, falls es so etwas gibt, arbeitslose Manager, Landräte oder Landtagsabgeordnete, niemanden einladen.“ Der Begleittext dazu: Die Begegnung des Reporters mit Sascha und seiner Familie, ihre Lebenssituation, ihre Gastfreundschaft. Wenn die Freunde nun doch zu Besuch kommen, werden sie „zur Begrüßung den ersten Toast auf das große Volk der kulturvollen Deutschen“ ausbringen.

Scherzer kommentiert nicht. Macht keine interpretatorischen Vorgaben. Aufschreiben, was ist. Wie es ist. Das Warum findet der Leser - vielleicht. Das ist die Hoffnung des Schriftstellers. Immer.

Also doch eine Absicht? Blöde Frage, denkt Scherzer wahrscheinlich, und sagt, natürlich wolle er, daß die Leute denken - den Fakten und Fiktionen nach-denken. Schlüsse ziehen und ein bißchen verändern, was sie zerstört. Wenn er das nicht mehr wollte, dann würde er nicht mehr schreiben. Und schließlich sind da noch Reporterneugier, Chronistenpflicht und Autorenverantwortung (wovon er leise und unpathetisch spricht), die ihn umtreiben. So dokumentiert er in „Feenmärchen zu verkaufen“ den Selbstversuch, von der Treuhand ein Schloß - ehemals Betriebskulturhaus - zu erwerben. Erfährt nebenher vom Verfall einer Kinderferiensiedlung, für die die Belegschaft manchmal auch auf ihre Jahresendprämie verzichtet hat. Notiert die sozialökonomische Erkenntnis eines Arbeiters: „Und das ist doch nun die ganz große Scheiße: Wir haben mit unserer Arbeit in vierzig Jahren immer nur sogenanntes Volkseigentum vermehrt, nie Privateigentum. Und nun, wo dieses Volkseigentum verscherbelt wird, können wir, die es erarbeitet haben, nicht mitbieten, weil wir kein nennenswertes Privateigentum besitzen.“ Von Abzockern ist die Rede, von Spekulanten und von seriösen Anbietern, die nicht nur für sich was machen wollen.

Er geht mit der Meisterin Ruth Falke durch die gespenstisch leeren Hallen des „VEB Buntgarnwerke Leipzig“ („Der sterbende Schwan in der Elsteraue“), hört ihre Erzählung von der Abwicklung - „Und als die Maschinen weggefahren wurden, habe ich schon nicht mehr zuschauen können“, sieht zu, wie sie eine rumliegende Batterie einsteckt - „das erste, was ich aus dem Betrieb mitnehme. Und das letzte“.

Landolf Scherzer eifert nicht. Er regt sich nicht mal auf. Es ist der Lakonismus, der einem manchmal den Hals zuschnürt, wie bei der zweiten und dritten Geschichte, die er auf der Lesung vorträgt. „Die Erben der Öfen“, 5 Seiten: Soviel Geschichten, soviel Geschichte - und wieder eine Erkenntnis, formuliert vom Geschäftsführer der Firma, über die Anfälligkeit der Menschen und ihrer Moral in Zeiten der Ungewißheit. Unter dem Druck von Überlebens-und Existenzängsten splittert die Schicht der Solidarität, verkehrt sich freundliches Miteinander in lauerndes, jagendes Gegeneinander. Ein Dschungelprinzip. Diese Verluste tauchen nicht in Bilanzen auf, sie stehen eher auf der Haben-Seite. Menschen bleiben auf der Strecke. Es sei denn, sie wehren sich, wie es in Bischofferode versucht und in der Reportage „Die Kalikarawane“ aufgeschrieben wurde.

Landolf Scherzers dritter Lesetext : „Ria S. (43): Ich sprang nicht ... Ich heulte nur.“ Zufallsbegegnung in Salzungen. Es hätte auch woanders sein können - Ost oder West, ist egal. Ria S. gibt es viele. Der Reporter nimmt sich zurück. Das ist selten genug in der heutigen Publizistik - dominiert doch die journalistische Selbstdarstellung. Zum Glück ist dies nicht Scherzers Stil. Und so ist ein unverfälschtes Dokument entstanden über Ohnmacht, über Schwinden von Würde, über Ausgeliefertsein. Dieses Leben... leicht war es nie, aber es gab schöne Zeiten, damals, als Ria S. Zugabfertigerin war, Telegraphen bedient hat, Schreibmaschine schrieb, Güterwagen zusammenstellte „und dann eben in Freital (anrief), daß sie den Wagen Nummer soundso rausnehmen müssen, die anderen weiter nach Dresden. Und die machten, was ich sagte. Es war eine schöne Zeit. Natürlich hatten wir keine Bananen, aber Arbeit, auch wenn man krank war. Ohne Angst lebte man, denn eine Arbeit fand sich immer“.

Einmal stand sie mit dem kleinen Sohn schon auf dem Außensims vom Balkon. Zum Geburtstag bekommt der 8jährige Sohn 2 Strumpfhosen und Schokolade. Keine Feier. „Vor kurzem hatte seine Klasse Wandertag, Fahrt in die Märchenhöhle nach Walldorf. Das kostete 30 Mark. Ich hatte das Geld nicht, und weil ich mich schämte, ging ich an diesem Tag mit ihm zum Arzt, damit ich eine Ausrede hatte, weil ich mich eben schämte. Ich schäme mich oft (...).“

Das Arbeitsamt bestätigt dem Reporter, daß Ria S. wegen ihrer Ausbildung und der Kinder wegen sehr schwer zu vermitteln wäre.

Nachdem diese Reportage in der (inzwischen eingestellten) „Wochenpost“ erschienen war, erhielt Ria S. Spendenpäckchen.

Bei der Lesung merke ich, wie Wut in mir hochkommt, kalte, mörderische Wut. Frage Scherzer danach, wie es ihm so geht? Zorn? Wut? Das wären nicht die richtigen Worte für seine Gefühle. Es verbinde sich mit Traurigkeit ... es sei eine Menge an lebenswichtigen Dingen verloren gegangen - und an deren Stelle ... nein, da finde er nichts Neues. Über manches, was nicht mehr ist, sei er froh. Das wäre? Engstirnigkeit nennt er da, die unbedingte ideologische Einbindung des Schriftstellers, Intoleranz, Ignoranz. Die Freiräume jetzt möchte er nutzen, aber er wisse, daß er nicht gebraucht werde. Im übrigen beobachte er, daß die oft eingeklagte Toleranz eine einseitige Sache sei, und meistens meint, daß die Ostseite kritiklos und zweifelsfrei und dankbar noch dazu hinzunehmen habe, was über sie kommt. Siegerpose eben. Wie solle da Veränderung entstehen? „Ich fühl mich nicht mehr zuständig.“

Trotzdem: Er bleibt bei der Beschreibung dieser Welt.

Burga Kalinowski


Landolf Scherzer: „Mitleid ist umsonst, Neid mußt du dir erarbeiten“
Edition Ost, Berlin 1997, 176 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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