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Messe-Mosaik

Die baltischen Völker
und die Deutschen

Die Baltischen Staaten, die nun auch schon über ein halbes Jahrzehnt auf ihre wiedergewonnene Freiheit und Unabhängigkeit zurückblicken können, bildeten auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse den Länderschwerpunkt. Bedenkt man, welche Erwartungen und Hoffnungen sich gegenwärtig bei den Baltischen Völkern an eine Ausgestaltung der vielfältigsten Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland knüpfen, ist es naheliegend, daß sich eine Darstellung der Beziehungen zwischen diesen Völkern und den Deutschen - auch aus historischer Sicht - auf einer der 400 Veranstaltungen der Buchmesse widerspiegeln mußte.

Dieser Aufgabe stellte sich die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, mit einer Buchpräsentation. Unter dem Thema: „Tausend Jahre Nachbarschaft - die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen“ präsentierte Professor Wilfried Schlau am Freitag, dem 21. März 1997, um 10.00 Uhr im Baltischen Café (Messehof) das von ihm herausgegebene Buch gleichen Titels. Der Herausgeber, Jahrgang 1917, in Mitau im Kurland aufgewachsen, studierte im Baltikum, in Wien und in Stuttgart und war zuletzt als Professor für Soziologie und Sozialgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz tätig.

Als Vorstandsmitglied des Ostdeutschen Kulturrates gehört er zu den Initiatoren der Reihe Tausend Jahre Nachbarschaft, die sich mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachbarvölkern befaßt und deren vierter, auf der Buchmesse präsentierter Band seit 1995 vorliegt. Begonnen wurde die Reihe mit dem längst vergriffenen Band Deutsche und Polen. Ihm folgte der Band Die Deutschen und Südosteuropa. Als letzter Band vor dem von Wilfried Schlau herausgegebenen Werk erschien der Band Rußland und die Deutschen, der jetzt bereits in zweiter Auflage vorliegt. Ein weiterer Band, Deutsche und Tschechen ist konzipiert.

Das vorgestellte Buch ist das Ergebnis einer vor etwa 10 Jahren angelaufenen Zusammenarbeit zwischen den Völkern des baltischen Raumes und den Deutschen. Sein Konzept wurde im Jahr 1990 vorgelegt, was auch mit der Gewinnung der Autoren verbunden war. Rund 40% der 35 Beiträge stammen von lettischen, litauischen, estnischen und finnischen Mitarbeitern. Die Gewinnung von immerhin 35 verschiedenen Autoren für einen Band dieser Art kann wohl als ein Novum gewertet werden.

Das präsentierte Werk will nicht nur eine historische Darstellung sein, sondern es will vor dem als bekannt vorausgesetzten historischen Hintergrund die vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen, politischen und kulturellen Beziehungen aufzeigen, die die Völker des baltischen Raumes mit den Deutschen in den letzten 800 Jahren verbanden.

Ein Schwerpunkt der sehr gut besuchten Veranstaltung lag auf der sich an die Präsentation anschließenden Diskussion, zu der die Veranstaltungsleiterin, eine Mitarbeiterin des Instituts für Länderkunde in Leipzig, deren Forschungsgebiet u. a. auch das Baltikum ist, die Besucher dieser Veranstaltung aufforderte. Den Schwerpunkt bildeten hierbei allerdings Probleme der Gegenwart, die mit dem schwierigen Prozeß der nationalen Wiedergeburt der baltischen Völker nach der Beendigung der sowjetischen Unterdrückung im Zusammenhang stehen.

Vertreter aus dem Publikum äußerten ihre Verwunderung über das in den Baltischen Staaten vorherrschende, ausgesprochen aufgeschlossene Klima gegenüber den Deutschen, war doch das Verhältnis zwischen Deutschen und Balten nicht nur durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs getrübt. Nicht unwesentlich beeinträchtigte und überschattete dieses Verhältnis zwischen den Baltischen Völkern und den dort lebenden Deutschen auch der über Jahrhunderte hinweg bestehende Gegensatz zwischen dem deutschstämmigen baltischen Adel und den estnischen und lettischen Bauern. Der sich als kompetent und kenntnisreich erweisende Referent verwies in diesem Zusammenhang auf die zahlenmäßig untergeordnete Bedeutung dieser Adelsschicht (etwa nur 6%) am Bevölkerungsanteil der Deutschbalten insgesamt. Der Großteil der Deutschbalten konzentrierte sich auf bestimmte große Städte des Baltikums, wie beispielsweise die alten Hansestädte Riga und Reval (Tallinn). Außerdem ständen diese historischen Erfahrungen heute nicht mehr primär im Vordergrund und seien vom baltisch-russischen Gegensatz, der sich seit der Zeit der sowjetischen Okkupation im Jahre 1940 aufgebaut habe, überlagert. Zehntausende Esten, Letten und Litauer seien im sogenannten „Schrecklichen Jahr“ zwischen dem 17. Juni 1940 und dem 21. Juni 1941, während des Prozesses der Angleichung der baltischen Staaten an das Sowjetsystem, nach Sibirien deportiert oder erschossen worden. Bei diesen Menschen handelte es sich hauptsächlich um die Angehörigen der baltischen Intelligenz und andere Angehörige der lettischen, estnischen und litauischen Oberschicht, die systematisch eliminiert wurde. Von den Offizieren der früheren estnischen Armee hätten beispielsweise nur 50 Personen diese Vernichtungsaktion überlebt. In diesem Vorgang habe auch der von einer Diskussionsteilnehmerin angesprochene Antisemitismus, der zumindest in Estland und Lettland eine relativ junge Erscheinung sei, seine historischen Wurzeln.

Ein Diskussionsredner ging auch auf die schwierige Problematik des russischen Bevölkerungsanteils in den baltischen Ländern ein. Er habe den Eindruck, daß gegenwärtig Front gegen den nichtbaltischen Bevölkerungsanteil aus den anderen Unionsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion gemacht würde, und verlangte von den baltischen Völkern die gesellschaftliche Integration und Gleichberechtigung dieser Bevölkerungsgruppe. Demgegenüber verwies Professor Schlau auf die Dimension dieses Bevölkerungsanteils und die damit verbundenen Probleme; 30% der Bevölkerung Estlands und 50% Lettlands stammen aus anderen Unionsrepubliken. In der lettischen Hauptstadt Riga beträgt dieser Bevölkerungsanteil sogar 70%. Dennoch seien nicht alle Russen generell von der estnischen und lettischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Wer vor dem Einmarsch der Roten Armee am 17. Juni 1940 die lettische oder estnische Staatsangehörigkeit besaß, erhielt sie zurück, unabhängig von der Nationalität.

Lediglich in Litauen hätten sich die Verhältnisse aufgrund einer anderen historischen Ausgangssituation etwas anders gestaltet. Nur 9% Russen und 8% Polen lebten in Litauen. Unter den Litauern, die ihrer Konfession nach katholisch sind, sei die Geburtenhäufigkeit sehr groß und Verdrängungsängste bestünden hier nicht.

Die baltischen Staaten sind heute auf dem Weg nach Europa, von dem sie sich auch Schutz vor einer eventuellen russischen Bedrohung erhoffen. Die Gefahr für den Frieden in dieser Region, die aus den potentiell vorhandenen Konflikten zwischen der baltischen Bevölkerung und den Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion erwachsen könnte, ist den Angehörigen aller baltischen Nationen permanent present. In den Deutschen wird heute von den führenden Politikern der baltischen Völker die kulturelle und politische Brücke gesehen, die diesen Weg nach Europa erleichtern soll, wobei den Deutschbalten, die heute in der Bundesrepublik leben, eine besondere historische Mission zugedacht ist. Sie sollen Interessenvertreter der baltischen Völker sein und Einfluß auf die offizielle deutsche Politik ausüben, um den Wiederaufbau der baltischen Nationen voranzubringen. Diesem Anliegen fühlte sich offensichtlich auch diese vom Ostdeutschen Kulturrat auf der Leipziger Buchmesse organisierte Veranstaltung verpflichtet.

Christian Böttger


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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