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Messe-Mosaik

„Endlich öffne ich die Tür,
übertrete die Schwelle ...“

(Anatols Imermanis/Lettland)
Leipziger Länderschwerpunkt Baltische Staaten
Estland, Lettland, Litauen

Es ist noch gar nicht so lange her, da beschränkten sich Informationen über die baltischen Staaten oft nur auf das schon in der Schule praktizierte Hersagen der Sowjetrepubliken mit ihren Hauptstädten.

In Estland, Lettland und Litauen geschaffene Literatur war Sowjetliteratur, würde ohnehin bald einmünden in eine allumfassende, nationale Unterschiede nivellierende Sowjetkunst. Gerade in den baltischen Republiken, besonders heimgesucht durch Deportationen und Drangsalierungen, gab es Befürchtungen, die nationale Identität könne der mit Macht betriebenen Russifizierung zum Opfer fallen. Doch der Widerstand dagegen erlosch nie und erreichte in den achtziger Jahren einen Höhepunkt. So ist es nicht verwunderlich, daß mit dem Niedergang der Sowjetunion die baltischen Staaten ihre nationale Unabhängigkeit sehr bald wiedergewannen.

Die Buchmessestadt Leipzig, im Gegensatz zur Messe in Frankfurt erklärtermaßen „das Tor zum Osten“, tat gut daran, Schriftsteller und Verlage aus Estland, Lettland und Litauen einzuladen und einem interessierten Publikum vorzustellen. In über fünfzig Veranstaltungen, zehn Ausstellungen, in Konzerten und Filmvorführungen wurde ein umfassendes Bild über Literatur und Kunst der baltischen Staaten vermittelt, und über hundert Verlage präsentierten ihre Produktion.

Ein besonderer Anziehungspunkt war im altbewährten Messehof das Baltische Café mit seinem improvisatorischen Charme - immerhin gab's an einem Verkaufsstand Kaffee und andere Getränke, Kuchen und Brötchen. Die harten Stühle schreckten niemanden, und man mußte schon rechtzeitig kommen, um einen Platz zu finden. Als der Raum gefüllt war, wollten ordentliche Menschen die Tür schließen, aber einer der Veranstalter meinte, man sei für alle offen, und so drängten weitere hinzu. Dieses Offensein war Grundtenor der Veranstaltungen, man war neugierig aufeinander und hatte sich was zu sagen.

Wer nun Kampfeslyrik und Folkloretexte erwartete, wurde angenehm enttäuscht. Es gab die verschiedensten Handschriften, ein breites künstlerisches Spektrum, natürlich Bodenständiges, aber auch Moderne und Postmoderne, anregende literarische Versuche.

Die estnische Schriftstellerin und Lyrikerin Ene Mihkelson (Jahrgang 1944) gab in einführenden Worten zu bedenken, nach dem Mauerfall sollten wir uns nicht so sehr an Grenzen halten, das heiße aber nicht, die Vergangenheit zu vergessen. Sie sprach davon, wie Literatur und Kunst in den politischen Auseinandersetzungen für vieles herhalten mußten. Für sie sei die Kunst frei, die Sprache ein Spiel. Dann las sie aus ihren Dorfgeschichten, u. a. „Der inszenierte Tod“, ein Text um einen unabwendlichen Tod, aber vor allem um gelebtes Leben.

Beeindruckend die einfühlsamen und doch kraftvollen Gedichte von Sigitas Geda (1943 in Pateriai/Südlitauen geboren), der während der Revolution Politiker war.

Die lettische Schriftstellerin und Lyrikerin Vizma Belsevica (Jahrgang 1931) las die Geschichte von einer alten Marktfrau, die mit Blumen handelt und ihre Ware von den Gräbern des städtischen Friedhofs holt, wobei sie sich nicht unterkriegen läßt von anderen Dieben, vom Alkohol und von der Polizei.

Amanda Aizpuriete (1956 in Jurmala bei Riga geboren), Lyrikerin und bekannte Lyrikübersetzerin aus dem Deutschen, Englischen und Russischen, meist tief in sich gekehrt, aber dann mit einem hinreißenden Lächeln, trug ihre kurzen, experimentellen, oft pessimistischen Verse vor, zunächst in Lettisch, dann folgte die deutsche Nachdichtung. Man bekam einen Eindruck von der spröden Schönheit der fremden Sprache. Aizpuriete sprach auch von der neuen Zeit, deren Kommerzialisierung der Kunst sie ablehnt. Trotzdem bedauerte sie die vergeudete Zeit während der Abkapselung unter sowjetischer Herrschaft.

Ein halbes Hundert Veranstaltungen, mit Höhepunkten, mit anregenden Diskussionen, immer wieder der Hinweis auf die „unvorstellbare, fast verwirrende Freiheit“, aber auch auf materielle Sorgen. In Sowjetzeiten waren die Schriftsteller, sofern keine Dissidenten, eine geachtete Kaste, nun beherrscht wirtschaftliches Kalkül den Kunstbetrieb. Bedauern darüber, daß verschlüsselte Mitteilungen an den Leser nicht mehr notwendig sind, daß Literatur ihre Funktion als einigendes Band eines Volkes nach und nach aufgibt. Die baltischen Staaten sind, auch was die Kunst betrifft, in der Marktwirtschaft angekommen.

Dann diese Marktwirtschaft in bunter Entfaltung: An Gemeinschaftsständen der drei baltischen Staaten über hundert Aussteller mit einem reichhaltigen Angebot. Der Blick fällt auf ein Regal mit Übersetzungen ins Estnische, übrigens keine baltische, sondern eine finno-ugrische Sprache. Da stehen u. a. Bände von Stefan Zweig, Remarque, Hans-Christian Andersen, Joseph Roth, Margaret Atwood, Franz Werfel, Jane Austen, Oscar Wilde, Knut Hamsun, Patrick Süskind, Eyvind Johnson - und die Medea von Christa Wolf. Es gibt die „wahre Geschichte“ von Mata Hari, Biografien über Katharine Hepburn, Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe, und im Deutschlehrbuch kommt eine Schulklasse aus Plettenberg im Sauerland zu Besuch. Außerdem die Ankündigung einer Nationalbibliographie, ein Prospekt über „Estonian Thought Historie“ und viele Zeitschriften.

Am litauischen Stand konnte man das Bändchen Die Kühlschrankkiste und andere litauische Erzählungen erwerben, veröffentlicht vom Institut für litauische Literatur und Folklore Vilnius, herausgegeben von Liane Klein. Studenten der Universitäten Münster und Greifswald haben die literarisch vielseitigen, durch eigenwillige Gestaltung und Sprache überzeugenden Geschichten übersetzt. Und am Stand des Goethe-Instituts Riga gab es das Buch Sonnengeflecht. Literatur aus Lettland, herausgegeben von Heide Lydia Schmidt zusammen mit Ingùna Bekere und Jãnis Zãlìtis, erschienen bei Nordik/Riga und gefördert von mehreren Sponsoren. Das ist ein bemerkenswerter Band mit Gedichten und Texten, mit Fotos und Statements der Autoren, mit biobibliographischen Hinweisen, Übersichten über die lettische Lyrik und Prosa in den 80er und 90er Jahren. Die bekannte lettische Schriftstellerin Zenta Maurina, die 1997 hundert Jahre alt geworden wäre, ist mit zwei Texten vertreten. Im Faksimile eines „lettischen Briefes“ (1934/35) von Zenta Maurina wird die Literatur dieses Landes vorgestellt. Janis Zalitis schreibt über Janis Rainis, der vor hundert Jahren Goethes Faust übersetzte. Und in dem Artikel „Wie alles begann ...“ spricht er über „Die Brücke zwischen deutscher und lettischer Literatur“. Wer weiß schon, daß lettische Bauern, Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Leibeigenschaft entlassen und nun eines Familiennamens bedürftig, sich nach Gestalten aus Schillers Die Räuber benannten. Eine lustige Episode, aber vielleicht doch nicht so lustig, eher entwürdigend? Zwiespältig wie das deutsch-baltische Verhältnis seit den Zeiten der Hanse. Doch das wäre ein Kapitel für sich.

Maris Caklais, 1940 in Saldus/Lettland geboren, las die Verse:
„Hinter der Wand sangen die Bayern, doch / plötzlich hörten sie auf, denn die Russen /
kochten die Luft ...
Hinter der Wand jodelten keine Bay- / ern mehr, hinter der Wand heulten Mongolen ...
Und dann kamen die Waldleute, und wieder / mußte man sich an die Wand pressen und
zu Boden / werfen, und am folgenden Tag starrten andere Waf- / fen dem Vater auf die Stirn ...“

Die baltischen Staaten als Spielball fremder Mächte - das ist nun vorbei. Mit nationalem Selbstbewußtsein reichen sie den europäischen Staaten die Hand. Ob die Literaturen sich dabei als Brücke bewähren, wird sich erweisen müssen. Noch finden sich in Deutschland nicht sehr viele Verlage, die baltische Literatur veröffentlichen. In einer Veranstaltung verteilte ein ruhiger älterer Herr Werbematerial für seinen Verlag: „Der Spezialist für Baltische Bücher seit 1950“. Es gibt noch einige andere mehr. Und die Leipziger Buchmesse ist allemal ein Mittler bei dieser Aufgabe.

Helmut Fickelscherer


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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