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Messe-Mosaik

Literatur zum Anfassen

Die Leipziger Buchmesse am Scheideweg

Der Charme der Enge, sympathische Wespennest-Atmosphäre, mühsam, doch liebevoll geordnetes Chaos, Leuchtturm der Improvisation. Das die Argumente der einen. Und die der anderen lauten etwa so: Moderne technische Infrastruktur, Großzügigkeit für Aussteller und Besucher, Markt-Perspektiven, internationale Professionalität.

Leipzigs Buchmesse ist im Gespräch. Und nicht die Bücher und Autoren sorgten in den beiden Messehäusern am Markt für die kontroversen Debatten unter den mehr als 1600 Ausstellern aus 33 Ländern und den rund 100 000 Besuchern, die für die vier Märztage durch die engen Gänge drängten oder an den knapp 500 Lesungen, Podiumsdiskussionen oder Vorträgen teilnahmen. Den Zündstoff für das erwartet heftige Für und Wider lieferte der Entscheid: Die Buchmesse wird 1998 in das futuristische neue Ausstellungszentrum an den Stadtrand umziehen. Abschied von der Gemütlichkeit also, Abschied von einem unökonomischen, aber für viele reizvollen Provisorium. Hin zur neuen Sachlichkeit. Statt dicker Luft und Unübersichtlichkeit und Irrwegen nun Air-condition und der totale Durchblick, die gläserne Präsentation. Auf ins Vier-Sterne-Exil!

Auch Dr. Gerhard Kurtze, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, reihte sich in die Schar der Umzugs-Befürworter ein, als er in einem Interview in der Fachpublikation „Börsenblatt“ vom 7. März 1997 zu dem neuen Messegelände feststellte: „In Leipzig ist eine Messe-Architektur gelungen, die auch verwöhnte internationale Fachleute begeistert: großzügig und dennoch überschaubar, eine Messe mit menschlichem Maß, wie sie bisher in solcher Konsequenz und kleinräumiger Durchgestaltung in Europa nicht anzutreffen war. Das Messegelände zumindest und seine Architektur ermöglichen trotz modernster Technik unter gewandelten Bedingungen das, was bisher in den Messehäusern am Markt geboten wurde: Menschlichkeit, Überschaubarkeit und direkte Kommunikation.“ Die Skepsis der Umzugs-Gegner teilte Kurtze nicht. Deren Befürchtung - der neue Standort werde für so manchen kleinen Verlag und für viele Besucher aus verschiedenen Gründen (höhere Kosten, längere Anfahrtswege, fehlendes innerstädtisches Flair) nicht akzeptabel sein - konterte er mit der Vision: „Mit der Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Polen, vielleicht auch Ungarn und Tschechien, werden wir in Leipzig ein Forum haben, das nicht nur branchen-, sondern auch kulturpolitisch für die europäische Integration von großer Bedeutung sein kann.“ Kurtze sah in dem Gespräch „die Chance, daß in Deutschland, nämlich in Leipzig, eine wichtige Begegnungsstätte für die Welt des Buches und alle, die dazugehören, also Autoren, Verleger, Buchhändler und Leser, entstehen kann“.

Eine Begegnungsstätte der intimen Art war Leipzig allerdings auch in diesem Jahr. Zehntausende schoben sich durch die Etagen, verweilten an den Ständen, ließen sich in Gespräche verwickeln oder schauten einem Autor beim Signieren über die Schulter. Literatur zum Greifen und Begreifen. So und so. Und zum Erleben. Ob in der gewichtigen vom Bertelsmann Club unterstützen Reihe „Leipzig liest“, ob bei den Veranstaltungen im „Baltischen Café“, dem Treffpunkt für den Länderschwerpunkt der Messe, oder im „Berliner Zimmer“ - immer und überall war der vertrauliche und vertraute Dialog Autor-Leser gefragt. Wolf Biermann bekam's zu spüren und Stefan Heym, Ingrid Noll und Armin Mueller-Stahl, Peter Härtling und Eberhard Esche, Friedrich Schorlemmer und Wiglaf Droste, Hermann Kant und Gerhard Zwerenz, Valentin Falin und Ignatz Bubis. Ganz zu schweigen von populären Nicht-Literaten wie dem Radsport-Idol Gustav Adolf („Täve“) Schur, der Popgruppe „Die Prinzen“ oder der ostdeutschen Rock'n Roll Kultband „City“, zu deren Auftritten gleichfalls Hunderte kamen.

Der Verband der Verlage und Buchhandlungen Berlin-Brandenburg lud an den vier Tagen ins „Berliner Zimmer“ ein. Der mit Fotos aus dem Bildband Dunkle Welten (Ch. Links Verlag) geschmückte helle Raum im 3. Stock des Messehauses war zumeist ein Hort der Besinnung, an dessen Wänden sich die Wellen der Geschäftigkeit brachen und der Muße bot zu ein wenig Klatsch, ein wenig Tratsch bei einem Espresso oder einem Schluck Wein. Mucksmäuschenstill wurde es, wenn - viermal an jedem Tag - zumeist junge Autoren auf ein kleines Podium an der Stirnseite des „Zimmers“ stiegen und aus ihren Werken lasen. Zum Beispiel Frank-Wolf Matthies. Der Ostberliner, „geprägt vom Mythos der Beat-Generation und vom Prenzlauer Berg“ (so die Programmankündigung), las aus seinem Roman AENEIS (Druckhaus Galrev). Der wortgewaltige Text, umgangssprachlich stark durchsetzt, war nichts für zarte Gemüter. Matthies schleuderte die Satzungetüme wie Flüche in den Raum - der Aufstand eines jungen Literaten gegen eine in Agonie erstarrte Umwelt. Die jüngeren Zuhörer applaudierten überschäumend, die älteren unterkühlt. Der Nicolei Verlag präsentierte im „Berliner Zimmer“ sein Buch Mein Berliner Zimmer, in dem Künstler zu Wort kommen, die den Ort ihrer Inspiration beschreiben, und schickte drei Autoren auf die Bühne. Richard Wagners hintergründige Texte über Kino- und U-Bahn-Orte fanden ebenso die Zustimmung des Publikums wie Karin Reschkes Erinnerungen an ihre Kindheit in einer Sechs-Zimmer-Wohnung oder Hans-Ulrich Treichels lakonisch-sarkastische Ausflüge in besetzte Häuser und WG.

Zum dritten Mal fand im Rahmen der Leipziger Buchmesse auch die Antiquariatsmesse statt. Die Freunde des schönen, des seltenen, des kostbaren Buches trafen sich in der Untergrundmessehalle in scheuer Zurückhaltung und Bewunderung. Oben, in den Etagen von Messehaus und -hof, oft Fast food, Gedränge, Lärm, Geschäftigkeit. Das Buch als Wegwerfware. Hier unten, unter dem Trottoir des Marktes, die gedämpfte Atmosphäre eines Nobel-Restaurants mit gedämpfter Pianomusik und leisem Gläserklirren an der Sektbar. Das Buch als Bewahrenswertes. Manche Hand strich zärtlich über die vom Alter gebräunten Seiten als berühre sie den Geliebten.

Leipzig war also wie immer: ein Anlaufpunkt für all die, die mit dem Buch und von dem Buch leben, für Autoren und Leser, für Verleger und Buchhändler; eine Brücke zwischen den Ländern, zwischen Ost und West (im nächsten Jahr mit dem Schwerpunkt Rumänien). Literatur zum Anfassen. Es möge so bleiben. Auch am neuen Ort.

Klaus M. Fiedler


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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