Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Jürgen Harder

Tertium non datur

„Literaturstreit“ in Deutschland: Menetekel einer Kulturwende

Deutscher Literaturstreit - für mich hat er ganz entschieden auch etwas zu tun mit „Geschichte und Geschichten“. Für meinen Gegenstand heißt das: Wie mit Geschichten Geschichte gemacht werden soll. Nicht minder pointiert gesprochen: Wie sich Geschichten in beunruhigender Häufigkeit nur noch als Skandalgeschichten gerieren - als spektakuläre Bemühungen um das „Auslöschen von Geschichte“. Auf vier solch exorbitanter Anstrengungen will ich hier einen kritischen Blick werfen. Die eine liegt inzwischen mehr als sechs Jahre zurück und ist als politisch-moralische Rufmordkampagne gegen Christa Wolf in die Annalen deutscher Literaturkritik eingegangen. Wahrlich kein Ruhmesblatt für das Gros der Kritikerkaste, insonderheit nicht für die Arrivierten der Zunft. Nur Wochen später schlug das deutsche Feuilleton ein zweites Mal mit „vernichtender“ Intention zu - diesmal, um der engagierten Literatur der alten Bundesrepublik den Garaus zu machen. Pünktlich zum Vollzug der deutschen Einheit sublimierten die „Großkritiker“ ihre Destruktiv-Kraft zum ästhetischen Total-Verdikt wider die Moral, die Gesinnung und das Engagement in der (west-)deutschen Literatur: In der tolldreisten Überzeugung, so den „Tod“ dieser Literatur herbeischreiben zu können. Die dritte höchst verbissene Anstrengung ist noch in unser aller frischer Erinnerung: Der Fall Fonty oder das medienmächtige Autodafé anno 95 als nie gekannte Verketzerung des Schriftstellers Günter Grass und seines Romans Ein weites Feld. Die vierte Bemühung reicht mit ihren publizistischen „Nachbeben“ bis ins Heute. Als böswillige Demontage der Lebensleistung Stephan Hermlins auf den Medien-Markt geworfen, entfaltete diese Bemühung ihr Diffamierungspotential - gut getimt - sukzessive in Etappen. Ihr Urheber Karl Corino brachte den Stein am 4. Oktober 1996 im „Zeit“-Dossier ins Rollen und lieferte der Frankfurter Buchmesse ersten Zündstoff. Auch wenn - oder gerade weil - sein detektivischer „Enthüllungs“-Krimi über Hermlins respektheischende Vita noch gar nicht in Gänze vorlag, bediente sich Corino - überaus PR-clever - der Buchmesse als eines vorzüglichen propagandistischen Verstärkers und öffentlichen Multiplikators. Aufgemerkt: Weit mehr Kritiker verweigerten sich diesmal einer Anti-Autoren-Kampagne. Ja, ein Großteil hielt entschieden dagegen. Hermlin hat inzwischen im „Freibeuter“, der „Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik“ des Wagenbach-Verlags, sein „Schlußwort“ in der Sache gesprochen.

Immer häufiger wird uns also in aller Medienöffentlichkeit ein Schauspiel der besonderen Art geboten! Mit viel unfreiwilliger Komik. Vor allem aber mit Szenen von trostloser Traurigkeit und possenreißerischer Austreibung des Geistes in einem. - Und mit einem Plot wie diesem: Die noch relativ junge, aber bedrohlich anwachsende literarische Spezies „Großkritiker“ duldet keine wirklich Großen neben sich - vor allem keine großen Dichter. Prompt schießt mir hier Thomas Manns hinreißend geist- und liebevoller Hohn über Nietzsches poetische Ambition und literarische Selbstüberschätzung durch den Kopf: „Ein Dichter mag weniger sein als solch ein Kritiker! Aber zu diesem weniger reichte es bei Nietzsche nicht.“ Pardon: Die Kritiker von heute sollten sich darob mitnichten auf dem kritischen Niveau eines Nietzsche wähnen. Denn allen vier Fällen gemeinsam ist die eher kopflose Abkehr von den zivilisatorischen Maßstäben abendländischer Streitkultur und die ungenierte Ankunft bei ihrem puren Gegenteil: bei inquisitorischer Verstocktheit, sektenhaftem Dogmatismus, fundamentalistischem Pharisäertum. Inspiriert von groteskem Verfolgungseifer und geradezu übermotiviert in lustvoller „Beißwut“, stürzten sich die „Großkritiker“ auf ihre Beute: auf die drei prominenten Autoren im besonderen und auf die engagierte deutsche Literatur im allgemeinen. Heiner Müller - um Dinge auf den Punkt zu bringen nie um das passende Bonmot verlegen - sprach daher im ersten Fall auch vom „Stalinismus des Westens“.


Wider das schnelle Vergessen!

Fünf Jahre nach der ersten Hatz - unter dem Titel Es geht nicht um Christa Wolf/Der Literaturstreit im vereinten Deutschland - übergab der Fischer Taschenbuch Verlag der Öffentlichkeit eine erweiterte Neuausgabe der kommentierten Dokumentation mit allen wichtigen Beiträgen, die seinerzeit die Zeitungsspalten beherrschten und die Gemüter bis zum Siedepunkt erhitzten. Auch über die schrille Medieninszenierung des Bannfluchs gegen Günter Grass liegt inzwischen eine umfangreiche Dokumentation vor. Sie erschien unter dem Titel Der Fall Fonty unlängst im Steidl-Verlag. Für dieses breite Spiegelbild der „Kritik“ wurden mehr als 10 000 Rezensionen, Zeitungsartikel, Berichte, Agenturmeldungen und Interviews ausgewertet.

Jedoch: Welchen Wert hat heute - mit Blick auf das Jahr 1990 - die erneute Publikation einer Kontroverse, die ihre außergewöhnliche Schärfe lediglich einem außergewöhnlichen politischen Tageskampf verdankte? Außerdem wissen wir - nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Und wenn dieses Verfallsdatum gilt, müßte die publizistische Wegwerfware von damals inzwischen einen solchen Fäulnisgrad erreicht haben, daß sich - schon aus hygienischen Gründen - eine erneute Berührung derselben verbietet. Dennoch: Ich sehe drei gute Gründe für diese nochmalige Veröffentlichung der Texte von damals und für ihre kritische Würdigung aus heutiger Sicht. Erstens war nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte auch der tagespolitische Kulturjournalismus so stark involviert in atemberaubende politische Veränderungen und nicht gekannte gesellschaftliche Umbrüche mit geradezu weltgeschichtlichen Dimensionen. Wie die augenblicklich entfesselten Kräfte und die jäh aus einem langen Geschichtsschlaf gerissenen Mächte und ihre streitenden Parteien in dieser „historischen Sternstunde“ des Jahres 1990 Flagge zeigten, bleibt allemal erinnernswert. Zweitens, die Texte selbst: Diese eifernden Pamphlete auf der Angreifer-Seite mit ihren blasierten Invektiven, die freilich ihre kränkelnde argumentative Blässe nicht zu kompensieren vermochten; die engagierten Entgegnungen mit ihren, in der Regel, begründet zornigen Zurückweisungen auf der anderen Seite und die wenigen, um Ausgleich oder Vermittlung bemühten Ja-Aber-Stimmen dazwischen - sie erscheinen heute bereits in einem neuen Licht.

Schließlich: Überaus bemerkenswerte Veränderungen bewirkt allein das Medium Buch. Die geschlossene und sinnvoll geordnete Sammlung der seinerzeit mit äußerst unterschiedlicher Reichweite gestreuten Beiträge nunmehr zwischen zwei Buchdeckeln stellt im nachhinein eine ebenso wundersame wie wohltuende späte Gerechtigkeit her. So steht beispielsweise der hochintelligente Text von Martin Ahrends aus dem extrem auflagenschwachen Ostberliner „Sonntag“ - eine wichtige Stimme, die 1990 nicht wirklich „durchdringen“ konnte - jetzt gleichberechtigt und gleichgewichtig neben den Essays der wirkungsmächtigen überregionalen Blätter aus Hamburg und Frankfurt am Main. So erweist sich in unserer schnellebigen Zeit das gute alte Buch immer noch als probates Mittel gegen den oft beklagten schnellen Verfall - und widersteht mit seiner konservierenden Kraft zugleich dem schnellen Vergessen! Und weil die 1990 mit härtesten Bandagen umkämpfte Sache bis heute nicht ausgestanden ist, gebühren dem Verlag und dem Herausgeber Thomas Anz Dank für die vorgelegte Dokumentation - übrigens nicht nur von wenigen Experten, sondern von allen interessierten ZeitgenossInnen.

Ähnliches ließe sich auch über den Dokumentations-Band Der Fall Fonty sagen. Sein Herausgeber Oskar Negt, Philosoph, Soziologe und profunder Kenner der „Intellektuellen-Problematik“, ist bestens vertraut mit der ewig jungen Streitfrage über die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft. Und um nichts anderes geht es schließlich in diesem merkwürdigen Literaturstreit im „vereinigten“ Deutschland. Negt versah die Sammlung mit einer Einleitung, die seine Kompetenz eindrucksvoll belegt. Denn wer heute „Über die literarische Öffentlichkeit und den Verlust ihrer kritischen Substanz“ mitreden - und dabei ernst genommen werden will, kommt an dieser kritischen Analyse nicht vorbei. Zugleich gibt der Herausgeber damit allen Lesern einen nützlichen Kompaß für den Mediendschungel in die Hand. Egal ob sie einfach nur an der Sache interessiert sind oder dem Medienspektakel kopfschüttelnd gegenüberstehen; gleichgültig ob sie bereits ihr eigenes Urteil besitzen oder sich - bis dato - nur das haarsträubend einseitige Kritiker-Urteil, also ein Vor-Urteil, zu „eigen“ machten. Das Wertvollste - weil Hoffnungsvollste - ist für mich die Ergänzung der Dokumentation durch Briefe an Günter Grass. Sie bekunden auf wunderbare Weise Solidarität. Außerdem finden sich Leserbriefe, die beweisen, daß es ihn immer noch gibt: den Leser als mündigen Zeitgenossen und geistigen Souverän. Andererseits legt der Band - wie schon derjenige zu Christa Wolf und wie jüngst das Dossier über Hermlin - Zeugnis ab von den unerhörten persönlichen Beleidigungen des Autors. So bestürzend geistig stumpf die Instrumente der literarischen Scharfrichter sich in den spektakulären öffentlichen Abstrafungen auch erwiesen, zur Herbeiführung tiefer Verletzungen der betroffenen Autoren taugten sie allemal.

Um ein mögliches Mißverständnis von vornherein auszuschließen: Ich nehme hier nicht Partei für die Autoren aus falscher Schonung! So nachhaltig sich schon Lessing, der große Aufklärer und klassische Urvater deutscher Literaturkritik, für den begründet unerbittlichen Tadel des Kritikers am literarischen Werk aussprach, so entschieden gilt diese Maxime noch heute. Derselbe Lessing ging indes aufs schärfste mit dem Kunstrichter ins Gericht, dessen „Tadel persönliche Beleidigung wird. Er höret auf, Kunstrichter zu sein, und wird - das Verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann - Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant.“ Mit Walter Jens sage ich: Dem ist nichts hinzuzufügen.

Meine Medienerfahrung sagt mir zugleich: Die Fokussierung der Kritik auf eine Person, auf das Persönliche, ist immer suspekt. Sie verrät sich - bei genauer Betrachtung - immer auch als ein Ablenkungsmanöver. Wovon hier abgelenkt werden soll, will ich also im folgenden fragen und: Worauf stößt meine Sonde, nachdem sie die Schmutz- und Schlammschichten persönlicher Autorenbeleidigung durchdrungen hat?


Dominant im Literaturstreit: das Außerliterarische!

Rufen wir uns den historischen Ausgangspunkt in Erinnerung. Perestroika und Glasnost hatten die Führungsmacht des sozialistischen Weltsystems, die Sowjetunion, bis ins Mark erschüttert: Im Kernland des „Real-Sozialismus“ vollzogen sich Prozesse mit völlig offenem Ausgang. Die Folge: Der einst festgefügte Ostblock erodierte in einem fieberhaften Auflösungs- und Umbruchprozeß, der als friedliche Revolution in die Geschichte eingegangen ist. Sommer 1990 hieß vor diesem Hintergrund für viele in deutschen Landen: Lang ersehnt und nicht mehr für möglich gehalten - plötzlich war die deutsche Einheit greifbar nahe. Wo aber grundstürzende Entwicklungen sich der politischen und sozialen Szenerie bemächtigen und sich die Ereignisse überstürzen, da stürzen auch die Dämme der Emotionen. Bei allen diffusen Hochgefühlen: Auch das Denken geriet in erdrutschartige Bewegungen. Namentlich die Intellektuellen sahen sich einer kopernikanischen Wende gegenüber. Das wichtigste jedoch: Es war eine Zeit, die nichts so sehr bedurfte wie der Besonnenheit. Und es gehört zu den Wundern dieser „Tage, die die Welt erschütterten“: Trotz immer neuer politischer Fieberschübe in einem hektischen historischen „Wahnsinns“-Prozeß bewahrten die meisten Menschen, darunter gottlob die in höchster Verantwortung, einen kühlen Kopf. Die unvergleichliche Schwierigkeit: In kürzester Frist mußten die weitreichendsten Entscheidungen getroffen werden. Denn: Eine neue Weltformel verlangte ihre universelle Beachtung - „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Damit nicht genug. Das Leben hielt flankierend einträgliche Belohnungen bereit - für alle flinken Neokonformisten wie für die flotten Wendeartisten aller Art. Schließlich war über Nacht den Zweiflern und Bedenkenträgern scheinbar die Legitimationsgrundlage entzogen. Denn ungeahnte „neue“ historische Konstellationen schrien nach „neuen“ historischen Bewertungen! Nun, wer konnte und wollte sich schon gegen neue historische Bewertungen sträuben? Sträuben schon, aber ihnen wirklich - und auf Dauer - ausweichen war schlechterdings nicht möglich. Die Geschichte war den Menschen in der Neubewertung kühn und radikal vorausgeeilt. Der Untergang des „Real“-Sozialismus war schließlich ein schonungsloses Urteil der Geschichte: die neueste und unerbittlichste Bewertung sozusagen. Noch bevor die Menschen am Beginn der 90er Jahre ihre Neubewertung vornehmen konnten, stießen und stolperten sie bereits allerorten ganz praktisch über dieselbe. In Gestalt radikal veränderter Realitäten - die viele Menschen mit der Wucht eines Kulturschocks trafen - begegnete ihnen die neue historische Bewertung ja auf Schritt und Tritt.

Solche Sätze haben ihr „Einleuchtendes“. Indes: Der Preis für ihre „Plausibilität“ sind zwei haarsträubende Fehler. Das ist zuerst die völlig undifferenzierte Rede von „den Menschen“. Und es ist die „fein säuberliche Trennung“ der Menschen von ihrer Geschichte. Nichts aber ist abwegiger, als Geschichte zu denken ohne Menschen, ohne die Menschen in ihren Gemeinsamkeiten und - Verschiedenheiten, Gegensätzlichkeiten, Feindseligkeiten. So ist Geschichte ganz real das komplexeste und widersprüchlichste Phänomen im uns bekannten Universum. Mithin: Neue historische Bewertungen schreien geradezu nach komplexen und differenzierten Analysen!

Ich kann und will der Frage nicht länger ausweichen: Warum fand dieser „Schrei“ nun ausgerechnet kein Gehör bei denen, die seinerzeit den Literaturstreit in Deutschland vom Zaune brachen? Mehr noch: Angesichts ihres demonstrativen Verzichts auf komplexe und differenzierte Analysen in diesem Streite muß ich meine überaus berechtigte Frage noch steigern - bis zur fassungslosen Verwunderung über ein derartiges Verhalten von Feuilletonisten und Kritikern, ja „Großkritikern“. Hier steht schließlich nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als der gute Ruf der eigenen Profession. Denn die Literaturkritik avancierte ja nur deshalb zu einem eigenständigen literarischen Genre, weil sie am höchst komplexen Gebilde „Literatur“ ihre besondere Fähigkeit zur äußerst differenzierten Beurteilung desselben ausbilden und entwickeln konnte. Nur so „mauserte“ sich Kunst-Kritik überhaupt erst zu einer besonderen Kunst: zur Kunst der feinsinnigen Unterscheidung! Kaum vorstellbar also, daß jemand - ohne diese Befähigung - überhaupt zu einem Feuilletonisten aufsteigen konnte oder gar zum „Großkritiker“.

Nun, ich verlange von niemandem, sich dies vorzustellen. Und um die dramatische Frage des Verrats der eigenen Profession geht's auch eher am Rande. Wir haben uns vielmehr vorzustellen: Was passiert, wenn Literaturkritiker kurzfristig ihre Profession wechseln und es zeitweilig vorziehen, sich als politische Propagandisten und vehemente Parteigänger einer ganz bestimmten Richtung in Szene zu setzen. Denn die Literaturkritiker, die - seit es ganz praktisch um die deutsche Einheit geht - auf einen Literaturstreit in Deutschland hinaus wollten, wollten - für jederman sichtbar - im wesentlichen auf etwas ziemlich „Außerliterarisches“ hinaus. Auf diesem außerliterarischen Terrain mit Klarnamen „Politik“ und „Ideologie“ war das fein ziselierte professionelle Instrumentarium eines Literaturkritikers freilich vollkommen unbrauchbar. Schlimmer: Für Leute mit derart grobschlächtigen Zielen im Auge mußte die hohe Kunst der feinsinnigen Unterscheidung ausgesprochen störend sein! Unbezweifelbar also: Solcherart Ziele erst lassen erkennen, was sich hinter dem Kritiker-Geschrei am Vorabend der deutschen Vereinigung verbarg, oder besser: was dieser mit „Feldgeschrei“ geführte verbale Doppelschlag gegen die deutsche Literatur in Ost und West verbergen sollte.


Massive Verbalattacke gegen die Literatur in Ost und West

Lassen wir diese Geschichte Revue passieren. Ulrich Greiner für „Die Zeit“ und Frank Schirrmacher für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hatten Anfang Juni 1990 den „Feuilleton-Krieg“ gegen Christa Wolf und ihr Werk angezettelt. Exekutiert am exemplarischen Fall, sollte eine ganze Literatur zum Opfer dargebracht werden: die DDR-Literatur. Die Herren „Großkritiker“ hatten damit eine publizistische Lawine losgetreten, die in rasendem Tempo nahezu alle Blätter in Deutschland erfaßte, schließlich auf andere Medien des Landes übergriff und die - trotz manchen Widerspruchs - einen ebenso erschreckenden wie bezeichnenden Gleichklang „im Geiste“ demonstrierte. Die völlig überzogenen deutschen Kritiker-Aufgeregtheiten - ausgelöst zunächst durch Christa Wolfs schmales Prosabändchen Was bleibt - hatten Fernwirkungen bis nach Übersee, nach Amerika, von unseren europäischen Nachbarländern ganz zu schweigen. Zugegeben: Das Sujet der Erzählung - die Protagonistin, bei der man durchaus an die Autorin denken durfte, in der Opferrolle als Überwachungs- und Einschüchterungsobjekt des MfS -, dazu die Angabe von zwei auffällig weit auseinanderliegenden Entstehungsdaten (Juni/Juli 1979 und November 1989) sowie die Erstveröffentlichung der Geschichte im Jahre 1990 - all das war Irritationen und Mißdeutungen günstig und bot Kritikern, über ihre legitimen Fragen an das künstlerische Werk hinaus, eine zusätzliche „Breitseite“. Doch ebenso muß zugegeben werden: Die ad hoc feindseligen und ohne Umschweife auf die moralische Demontage der Autorin zielenden Reaktionen verrieten sogleich, daß es um weit mehr als dieses schmale Bändchen ging. Denn als kritische Selbstbefragung und subtile Auseinandersetzung mit dem „inneren Zensor“ hatte die kleine Erzählung vor allem etwas verdient, was man ihr per se verweigerte: ein differenziertes Urteil. Am 28. Oktober 1989 hatte Christa Wolf in der Erlöserkirche ihre Würdigung des standhaften Kommunisten und Stalinismus-Opfers Walter Janka mit den Worten beendet: „Wir müssen unsere eigenen ‚Schwierigkeiten mit der Wahrheit‘ untersuchen und werden finden, daß auch wir Anlaß haben zu Reue und Scham. Wir wollen uns doch nicht täuschen lassen: Ehe die Erneuerung unserer Gesellschaft nicht in die Tiefe von Selbstbefragung und Selbstkritik eines jeden einzelnen vorgedrungen ist, bleibt sie symptombezogen, mißbrauchbar und gefährdet.“ Dies war das Credo des schmalen Bandes. Was bleibt war nicht, wie böswillig unterstellt, ein literarisches Zeugnis für ein zeitgemäßes Wende- und Anpassungsmanöver der Autorin. Christa Wolf ging es um schonungslose Selbstprüfung: um einen rigorosen moralischen Anspruch. Den Initiatoren des Literaturstreits in Deutschland ging es hingegen um nicht mehr und nicht weniger als die ideologische Weichenstellung für den künftigen politischen Umgang mit der authentischen DDR-Literatur: einzig zum Zwecke einer plötzlich opportun gewordenen Herabwürdigung ihrer ästhetisch akkumulierten Werte und Moral. Denn - die Spatzen pfiffen es damals bereits politisch unüberhörbar von allen deutschen Dächern - diese Literatur würde alsbald und nolens volens als ungeliebte Erbmasse in ein vereinigtes Deutschland „eingehen“.

Einmalige Zeiten bescheren einmalige Gelegenheiten. Vor den Augen einer erstaunten Welt versank - unrettbar - das real-existierende und real-verbrauchte System des „Sozialismus“ im Orkus der Geschichte. Welch schöne Gelegenheit also, den alternativen Geist der DDR-Literatur diesem Orkus gleich mit zu überantworten. Da durfte es freilich nicht mehr ins Gewicht fallen, daß dieser Geist real doch ziemlich verschieden war von dem realen System, das soeben verschieden war. Pikanterweise hatte es zu „prächtigen Lebzeiten“ der DDR für diese reale Differenz in allen BRD-Blättern, die sich jetzt frenetisch an der Kampagne gegen die DDR-Literatur beteiligten, die vielfältigsten und nuancenreichsten Bestätigungen gegeben. Indem dieser literarische Geist einen dritten Weg suchte und festhielt am Anspruch einer wirklichen sozialen Emanzipation, hatte er schließlich seinen ganz eigenen subversiven Anteil am Untergang einer DDR, die sich im Verlaufe einer absteigenden Linie immer mehr von ihren eigenen Ansprüchen entfernt hatte. Der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer brachte unlängst bei einer Akademie-Debatte des Buches „Sicherungsbereich Literatur“ von Joachim Walther in Erinnerung, daß die Literatur für die Opposition in der DDR geradezu ein „Lebensmittel“ war. Aus welchen Gründen auch immer: Die „Großkritiker“ im Westen Deutschlands wollten dies 1990 partout nicht mehr gelten lassen. Obwohl auch sie um die reale Differenz wußten zwischen erstarrtem DDR-System und einer die menschliche und damit auch die politische Emanzipation stimulierenden DDR-Literatur - plötzlich war die ganz große Einebnung genau dieser Differenz angesagt. Und heraus kam, was herauskommen sollte: Christa Wolf - sie stand ja nur stellvertretend für diese Literatur - war nichts anderes als eine „Staatsdichterin der DDR“, und die authentische DDR-Literatur war nichts weiter als eine geistige Dienstleistung für einen „Unrechtsstaat“ - mit dem besonders verwerflichen Effekt, dessen Überleben ungeheuer lange hinausgezögert zu haben.

Dies war das eine grobschlächtige Ziel im deutschen Literaturstreit. Jeder, der nur ein bißchen Verständnis für dieses Ziel aufbrachte, konnte freilich alles Verständnis dieser Welt aufbringen, daß der Erreichung eines solchen Ziels nichts hinderlicher war als die professionelle Kritiker-Tugend mit Namen „Differenzierungskunst“. Das andere Ziel (es ergab sich zwingend aus dem ersten): endlich und endgültig die moralische Frage entscheiden „ Wer waren die besseren Dichter?“. Die aus der DDR in den Westen gingen oder die im Lande blieben - aus Verantwortung für ihre Leser, für die Menschen in der DDR? Wie schwer - wenn nicht gar unmöglich - ist es doch, diese Frage - mit dem gebotenen Respekt vor der Würde jedes einzelnen - zu entscheiden? Denjenigen allerdings, die im Literaturstreit als fanatische Eiferer voranschritten, bot sich angesichts dieses diffizilen Problems indes eine weitere Gelegenheit zur großen naßforschen Vereinfachung. Über Nacht war ja alles so herrlich einfach geworden, und so ließen sie überhaupt keinen Zweifel mehr zu, wer die besseren Dichter waren - und vor allem heute sind. Ihre Saat ist aufgegangen. Die Früchte wuchern heute besonders wild im deutsch-deutschen P. E. N.-Garten. Sind es doch gerade diese Wucherungen, die sich seiner behutsamen Anlage als eines „gemeinsamen deutschen Kultur-Gartens“ auf das sperrigste widersetzen. Was Wunder. Deutsche Autoren, die am Vorabend der deutschen Vereinigung so fein säuberlich in „gute“ und „böse“ geschieden wurden: Im Namen welcher deutschen Einheit sollten sie nun überhaupt noch wiedervereinigt werden? So falsch und lächerlich diese Art einer neudeutschen Spaltung in „gute“ und „böse“ Schriftsteller auch ist, hier bleibt - wenn auch in Gestalt eines grotesken Zerrbildes! - ein Restbestand von Differenz bewahrt, auf dem ich unbedingt bestehen möchte. Denn nur die Beachtung und Würdigung der realen Unterschiede und ihrer verschiedenen kulturellen wie mentalen Ausprägungen in beiden deutschen Staaten macht die deutsche Vereinigung erst sinnvoll. Ließe man das Gut-Böse-Schema gelten, könnte sich die gute alte Bundesrepublik am bitter-süßen Ende nur noch mit sich selbst wiedervereinigen.

Vielleicht schon nicht mehr ganz so präsent in unserem Gedächtnis, wer sich wie im deutschen Literaturstreit auf die Seite Christa Wolfs schlug und vehement für das eintrat, was die DDR-Literatur - bei Beachtung ihrer Spezifik und ihrer Differenziertheit - an Bewahrenswertem in die Einheit Deutschlands einzubringen habe. Unter ihnen keine Geringeren als Günter Grass, Walter Jens, Lew Kopelew, Hans Mayer. Von deren leidenschaftlicher Parteinahme und fulminanter rhetorischer Gegenwehr indes zeigten sich die beiden smarten Repräsentanten des bürgerlichen Groß-Feuilletons wenig beeindruckt. Im Gegenteil. Kurze Zeit später nahmen Schirrmacher und Greiner einen weiteren Feind ins Visier ihres publizistischen „Vernichtungsfeldzuges“: die engagierte Literatur der alten Bundesrepublik. Signifikant auch hier: Die Kritiker-Geschosse zielten ebenfalls auf das politisch-moralische Rückgrat der Autoren. Besonders die aus der „Gruppe 47“ heraus entstandene Literatur, die die alte Bundesrepublik stets kritisch begleitet hatte, ihr zugleich aber in aller Welt fabelhaften Ruhm und kulturellen Glanz bescherte, wurde jetzt vom Kritiker-Establishment ebendieser Republik „zum Abschuß freigegeben“. Gemeint war eine Literatur, für die Namen standen wie: Heinrich Böll und Günter Grass, Siegfried Lenz und Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens, Rolf Hochhuth und Peter Weiss. Hauptmakel und Grundmangel dieser engagierten Literatur - so der süffisant und blasphemisch ausgestoßene Vorwurf - sei ihre „Gesinnungsästhetik“: Daher sei sie obsolet, antiquiert, atavistisch und müsse für „tot“ erklärt werden. Über Nacht war vergessen, daß diese Literatur - gerade ob ihres engagierten Widerspruchsgeistes - der Bonner Republik in historisch kurzer Frist zu neuem geistigen Profil und intellektueller Würde verholfen hatte.

Bei der Eröffnung des neuen Kampfplatzes im Literaturstreit fällt zunächst die flagrante logische Ungereimtheit der mit Vehemenz vorgetragenen Kritiker-Positionen ins Auge. Um Christa Wolf als „Staatshure“ vorzuführen, wie sich Günter Grass polemisch ausdrückte, ließen die Kritiker ausschließlich den Maßstab der Moral gelten, den die Autorin angeblich so gründlich verfehlt habe. Das nur wenig später einsetzende Wüten und Wettern derselben Kritiker gegen die „Gesinnungs-Literatur“ will nun plötzlich klarstellen, daß der Literatur nichts fremder sei als Moral. Zu dieser Prinzipienlosigkeit paßte auch die skrupellose Plünderung einer fremden Quelle, die sich eher zufällig auftat und deren Botschaft haargenau die jähe Kritiker-Wendung bediente: Karl Heinz Bohrers Essay Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit, veröffentlicht im „Merkur“ (Heft 10/11/1990). Schirrmacher fordert daher den „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“, und Greiner erklärt das ganze Unglück dieser Literatur daraus, daß in ihr „Literatur und Moral ihre Vernunftehe“ geschlossen hätten, die - nach der deutschen Einheit! - „nicht mehr fortgesetzt werden müsse“. Um politische Ziele zu verkünden, braucht es offenbar keiner logischen Widerspruchsfreiheit: Es genügen kurzfristige opportunistische Kehrtwendungen. Unangenehm nur: Glaubwürdigkeit und Seriosität derartiger Positionswechsel bleiben davon nicht unberührt. Die Frage ist: Wer im Literaturstreit morgens noch das „Außer-Literarische“ wie das Nonplusultra der Literatur strapaziert und schon mittags sich aufs absolut „Rein-Literarische“ kapriziert - ist der noch ernstzunehmen? Auch wenn mir die Literatur niemals als ein absoluter Selbstzweck gelten wird, kann ich mir kaum eine lohnendere, spannendere und anregendere Debatte als über „Ästhetik und Gesinnung“ vorstellen. Was die „Großkritiker“ aber zu diesem Thema boten, löste sich allzu rasch auf in eine ziemlich durchsichtige geistige Anspruchsarmut: Ihre ganze Gesinnungsschelte verkürzte sich im Handumdrehen zum Verdikt über die „falsche“ Gesinnung - begründet aus der eigenen Gesinnung heraus: der einzig „richtigen“ versteht sich. Kein Blatt vor den Mund nahm Ivan Nagel, als er diese „richtige“ Gesinnung in ihrem „ästhetischen“ Versteck rücksichtslos aufstöberte, auf daß sie sich zu ihrer rechten Farbe auch bekenne: „Das feinere Feuilleton muß, möglichst heute noch, bedenken: Während es Rückblick sagt und Abschuß übt, sieht man das unten im Flachland simpler: als Schädlingsbekämpfung. Man versteht die Neubewertung der ‚Literaturen der DDR und der Bundesrepublik‘ als eine praktische Aktion: zwei (Schmeiß-)Fliegenschwärme mit einer Klappe“. Ganz im Sinne der neuen „Ästheten“ läßt sich dies auch so lesen: Die Pinscher- bzw. Schmeißfliegenbeschimpfung der (west)deutschen Literatur durch Ludwig Erhard bzw. Franz Josef Strauß war recht eigentlich ein verständlicher, weil notwendiger Befreiungsschlag und ein verzweifelter, aber gebotener Akt des auf“rechten“ Widerstands gegen eine Literatur, die sich anschickte, das Land flächendeckend mit ihrem „Gesinnungs-Terror“ zu überziehen: mit ihren geistigen Maßstäben, moralischen Ansprüchen, gesellschaftlichen Einmischungen - mit ihrem politischen Engagement.


„Ein weites Feld“ oder neue patriotische Flurbereinigung?

Der Doppelschlag gegen die deutsche Literatur in Ost und West verriet alle Züge einer historisch-politischen Flurbereinigung. Die DDR war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet. „Folgerichtig“ gehörte nun auch „ihre“ Literatur dorthin. Immerhin: Diese DDR-Literatur hatte in der alten Bundesrepublik jahrelang einen spezifischen „Bonus“: Solange ihre Autoren die Machthaber in der DDR „störten“, konnten sie des westlichen Kritiker-Beifalls sicher sein. Auch diese Bonus-Peinlichkeit konnte jetzt endlich bereinigt werden. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Auf der anderen Seite: Die „Gesinnungs-Literatur“ der BRD hatte ihrem Staate über 40 Jahre als kritisch-engagierter Begleiter die Treue gehalten. In schöner Abhängigkeit von der Gesinnung des Betrachters läßt sich eine solche Begleitung selbstverständlich auch als eine ständige Belästigung und permanente „Störung“ empfinden. Als 1990 die deutsche Einheit „wiedergeboren“ wurde, nahm der deutsche Literaturstreit umgehend eine Wendung hin zu einer weiteren Flurbereinigung - in Gestalt der historisch-politischen „Verabschiedung“ der Literatur der Bundesrepublik. Bestimmte Kreise wollten ganz offensichtlich in Zukunft „ungestört“ ihre Kreise ziehen beim großen Management der deutschen Vereinigung. Jeder deutsche Schriftsteller, der fürderhin einen kritischen Blick auf dieses „Management“ warf, wäre also ganz bequem und unverwechselbar als „neuer Störenfried“ zu outen. Womit wir beim nächsten exemplarischen Fall sind: bei Günter Grass und seinem Roman Ein weites Feld. Dabei entbehrt es nicht der unfreiwilligen Komik: Der Vorwurf des „Störenfrieds“ - im weitesten Sinne! - zielte darauf, Grass verletzend zu treffen, in Wahrheit konnte er bei diesem Autor nur würdigend ins Schwarze treffen. Grass hat diesen Titel - in all seinen Umschreibungen! - stets als Auszeichnung genommen, die er nicht missen möchte. Vieles, was Christa Wolf widerfuhr, wiederholte sich nun im deutschen Literaturstreit fünf Jahre später. Typisch auch hier: die alles beherrschende Dominanz des Außerliterarischen. Aus den diffusen Schlammassen, die über den Autor ausgeschüttet wurden, um die Wirkungen des Romans bereits im Keim zu ersticken, filterte Oskar Negt die drei durchgängigen Diffamierungen heraus.

Erstens: Der Autor, dessen überragendes Erzähltalent nicht nur deutschland- sondern weltweit anerkennende Bestätigung gefunden hatte, habe bei der Abfassung seines neuen Romans - wie durch einen bösen Fluch - diese seine dichterische Begabung urplötzlich und dabei gleich vollständig verloren. Statt aber den Nachweis für die Stichhaltigkeit dieser Behauptung zu führen, speisen die „Großkritiker“ - unter direkter Anleitung ihres Größten - behende und beflissen ihre These vom „unlesbaren“ Buch in die futtergierigen öffentlichen Medienkanäle ein. Unbestreitbar, Grass' Roman Ein weites Feld provoziert auch die Frage: Was heißt heute - in unserer unvergleichlich komplex, höchst ausdifferenziert und widersprüchlich gewordenen Welt - überhaupt noch „Erzählen“? Welch provokanter und geistig-produktiver Brocken ward den Literaturkritikern hier vom Autor „hingeworfen“! Das kläglich-ignorante Ausweichen der tonangebenden Kritiker vor dieser Frage beweist, daß selbst dort das Außerliterarische dominiert, wo es zunächst um eine „rein literarische Angelegenheit“ geht. Die außerliterarische, sprich: die politische Absicht ist - wie Negt es präzise auf den Begriff bringt - die Errichtung eines „Berührungstabus“ gegen das Dichterwerk. Die mediengepowerte Strategie: Ein für „unlesbar“ erklärtes Buch hat nichts bei einem Leser zu suchen! Welch lächerlicher Versuch von Entmündigung in einer modernen Informationsgesellschaft. Er mußte sich rächen und umschlagen in eine Werbung der ganz besonderen Art für das Buch.

Zweitens: Der Autor, so die Vorhaltung, habe unerlaubte Schwierigkeiten mit der Wahrheit in Deutschland. Wenn die für Ostdeutschland so schicksalsmächtige Treuhand beispielsweise in dem Roman schon vorkommt, dann bitte auch in ihrer ganzen wahrhaftigen Gestalt, das heißt in ihrer real überprüfbaren Wirklichkeit. So sicher wie es die Treuhand in ihrer ganzen Realität gibt (oder gab), so sicher gibt es kein absolut übereinstimmendes Bild von ihrer wahren Realität in den Köpfen der Menschen: Ihre Realität bildet sich - genau genommen - im Auge eines jeden Betrachters etwas anders ab. Um wieviel mehr gilt dies, wenn der Betrachter Akteur oder wenn er Opfer der Treuhand ist. Schwierigkeiten mit der ganzen Wahrheit haben wir also alle. Und deshalb ist es nicht nur allgemein nützlich, sondern auch individuell ganz praktisch, eine politisch definierte und medienvermittelte Version der Wahrheit über die Treuhand zu besitzen. Keine Frage: Es ist das gute Recht auch von Literaturkritikern, von ebendieser vorgegebenen, um nicht zu sagen: „verordneten“ Version Besitz zu ergreifen. Wie es das gute Recht von Grass ist, eine andere, eben seine Version zu haben. Nein, ich korrigiere mich: Weil Grass ein Schriftsteller ist, hat er nicht nur das gute Recht, sondern die arge Pflicht, die ganz eigene Version zu besitzen. Und weil es für einen Dichter im höchsten Grade legitim ist, auch mit der Treuhand-Realität so frei umzugehen, wie es seine Wahrheits-Version verlangt, stellt sich am Ende ein vergnüglicher Rollentausch ein: Seine Kritiker haben nun die unerlaubten Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Warum unerlaubt? Weil es unerlaubt ist, wenn Literaturkritiker, die es ästhetisch besser wissen, einen Roman - in rein denunziatorischer Absicht - der Realität „als Spiegel pur“ konfrontieren.

Drittens: Grass - so der emotional am stärksten aufgeladene Vorwurf - lasse die angemessene patriotische Gesinnung vermissen. Hier ist er also wieder: der einzig gültige Maßstab - die „richtige“ Gesinnung! Der Roman Ein weites Feld weise mit seiner „skeptisch abwägenden Tendenz und dem Fehlen jeglicher patriotischer Hochrufe“ den Autor zweifelsfrei als einen „Störenfried“ der deutschen Wiedervereinigung aus. „Störung“ verrät sich - im Verständnis der neuen patriotischen Flurbereiniger - bereits in der minimalsten Abweichung vom „neuen Patriotismus“: im leisesten Vorbehalt gegenüber dem realen Vollzug der deutschen Einheit, gegenüber der Art und Weise ihrer konkreten Gestaltung. Die Patrioten, denen die deutsche Einheit als „ein Wert an sich“ genügt, lassen sich freilich schon mal hinreißen, um selbst patriotisch engagierte und verantwortungsbewußte Fragen nach dem „Wie“ des Managements dieser Einheit als „vaterlandslose“ Infragestellung der Vereinigung zu verteufeln. Immerhin: Grass plädierte für einen fairen Lastenausgleich, für die Stärkung föderativer Strukturen im Lande und - statt des Anschlusses - für eine verfassunggebende Versammlung. Ich denke, mit solchen Verfehlungen kann auch ein Patriot in Deutschland gut leben. Kann man Grass einen Vorwurf daraus machen, daß er sich den Prozeß der Wiedervereinigung etwas anders vorgestellt hat? Man kann. Und man tat es ausgiebig. Auch um den Preis - was Grass unbedingt vermeiden wollte - neuer sozialer und kultureller Spaltungen. Wer am Ende den Vorwurf „mangelnder patriotischer Gesinnung“ nur erhebt, um den ausgeprägten Verfassungs-Patriotismus des Autors zu treffen, der gibt in der Tat Anlaß zu Besorgnis in unserem Lande.

„Die Bitterfelder Sackgasse“ - so titelte „Die Zeit“ ihren Verriß des Grass-Romans. Verfasserin Iris Radisch wartete mit einer erstaunlichen Erklärung für das angebliche Scheitern des Dichters auf: „Weil sich schlecht Gedachtes nicht gut erzählen läßt“. Erstaunlich ist gleich mehreres. Zunächst: Jeder, der sich noch an die DDR erinnert, muß mit Erstaunen feststellen, wie sehr der Literaturstreit immer wieder an die DDR erinnert. Nun, es gab - jenseits aller fragwürdigen Nostalgie - ja durchaus Erinnernswertes in der DDR. Um so erstaunlicher für mich: Der Streit um die deutsche Literatur nach 1990 erinnert so ausgiebig und ausschließlich an das, was nun gerade nicht erinnernswert an der DDR ist: von den ideologischen und politischen Vorgaben für einen Dichter bis zur kulturlosen rüpelhaften Rüge eines Schriftstellers, wenn er bestimmte Erwartungen nicht erfüllte und die heilig gesprochenen ästhetischen Normen verletzte. Die neckische terminologische Anleihe beim „Bitterfelder Weg“ ist ja noch ganz lustig. Mir gefriert aber aller Spaß zum eisigen Erschrecken, wenn ich lesen muß: Da hat ein Dichter „schlecht gedacht“; und eine Kritikerin setzt sich als eine Zensur-Behörde der besonderen Art in Szene - prompt vergibt sie schlechte Noten für ein Denken, einzig aus dem Grunde, weil es das nichtgenehme Denken ist. Denn Günter Grass hat einfach nur „anders gedacht“ als die Rezensentin. Wie einem Autor so ist auch einer Kritikerin das „Verräterische“ der Sprache bewußt. In diesem Bewußtsein also stempelt Frau Radisch einen „Andersdenkenden“ kurzerhand als einen „Schlechtdenkenden“ ab - und findet sich in der allerbesten Dogmatiker-Gesellschaft der DDR wieder! So ist der deutsche Literaturstreit auch reich an ebenso bekannten wie immer wieder merkwürdigen Metamorphosen: den Verwandlungen vom kritischen Kritiker über den unkritischen Kritiker zum ideologischen Parteigänger und politischen Apologeten.

In der Tat: Wie sehr - und mehr noch - warum dieses Ungute aus der DDR so erstaunlich viele Nacheiferer im deutschen Westen findet, lohnte schon einmal eine gesonderte Beleuchtung.

Indes, ich kehre zu meinem Thema zurück: „Geschichte und Geschichten“. Denn genau hier liegt der tiefere Grund für die Angriffe auf Grass' historischen Deutschland-Roman. „Schlecht Gedachtes“ übersetze ich so: Günter Grass bewahrt seinen kritischen Blick auf die deutsche Geschichte - auch im Angesicht des Wunders der deutschen Einheit. Wo die Kritiker von Grass das historische deutsche Einheitswunder wie ein erlösendes und alles lösende Ende der Geschichte feiern, schärft der Autor sein literarisches Instrumentarium für historisch Ungereimtes und politisch Unfertiges. Besonders verwerflich: Er entdeckt dabei sogar Absurditäten und peinliche Parallelen zwischen Heutigem und Gestrigem. Deutsche Geschichte ist aber auch heute nicht ohne mahnende Beschwörung der bösen Geister unserer Historie zu haben. Und daß die Geschichte ihr letztes Wort gesprochen habe: Der Glaube daran scheint eher zu bröckeln als sich zu festigen.

Apropos: Einer der angesehensten Autoren deutscher Zunge, Peter Rühmkorf, prägte für das ständige Hantieren mit dieser neuen dogmatischen Meßlatte im deutschen Literaturstreit den bezeichnend-bissigen Begriff von der neudeutschen „Einheits“-Ästhetik.


„Dichtung und Wahrheit also auf meine Art und in den mir gesetzten Grenzen“

So bescheiden und zugleich so entschieden klar gab Stephan Hermlin sehr frühe briefliche Auskunft über sein stark beachtetes belletristisches Werk Abendlicht. Der Autor, Jahrgang 1915, hat als Jude, Kommunist, antifaschistischer Widerstandskämpfer und Schriftsteller unser janusköpfiges Säkulum - mit seinem so stolzen Antlitz nie gekannter Leistungen und Errungenschaften der menschlichen Gattung und mit der furchtbaren Fratze als Kehrseite: mit Verbrechen von Menschen an Menschen in nie gekannten und unvorstellbaren Ausmaßen - durchlitten, durchstritten, durchkämpft und schließlich: „durchgestanden“.

Er hatte „das Privileg, an der, wie Günther Weisenborn es ausdrückte, Schafottfront tätig zu sein und zu überleben“. Er war an der Seite derer, die dem Teufelskreis jenes tragischen Doppelgesichts moderner menschlicher Zivilisation durch die Verwirklichung einer sozialistischen Utopie zu entrinnen suchten und - weil sie in diesen Kreis verstrickt blieben - scheiterten. Solange es die DDR gab, hat Hermlin dort gelebt und - in des Wortes weitestem und positivem Sinne - dort gewirkt. Das „eigentümliche Buch“ aus dem Jahre 1979 mit dem Titel Abendlicht ist „aus der Rückschau gewonnen und keine Autobiographie: Wahrheit und Dichtung, Andeutung und poetisches Symbol, Erlebnis und Evokation fügen sich zu einem Text von großer Intensität“. Diese unmißverständliche Charakterisierung im Klappentext war damals einem angessenen Verständnis des Werkes höchst dienlich. Das ist heute nicht minder so.

Karl Corino, Publizist und leitender Literaturredakteur im Hessischen Rundfunk, galt in der alten BRD als ausgezeichneter Kenner der DDR-Literatur. Die letzten Monate (Jahre?) hat dieser Mann wesentlich damit verbracht, Hermlins Abendlicht - wider besseres Wissen - als „Autobiographie pur“ zu behandeln. Und so „überprüfte“ er das höchst artifizielle „Gefüge“ von Erlebnis und Evokation peinlich penibel und kleinlich kleinkariert an Hermlins realer Vita. Warum eigentlich verschwendete der Mann nur soviel Zeit? Denn: Bei dieser Methode und den allseits bekannten Voraussetzungen waren Nichtübereinstimmungen und Abweichungen gar nicht erst zu „ermitteln“ - sie waren ja von vornherein gegeben. Trotzdem spürte Corino den authentischen Lebensdaten des Autors detektivisch nach und schärfte seinen gnadenlosen Prüfblick ganz besonders für Hermlins persönliche Angaben in einem Fragebogen des Jahres 1946. Auf diese Weise ermittelte Unrichtigkeiten und Ungereimtheiten trieben dem Manne umgehend die letzte Besinnung aus und rissen ihn unaufhaltsam fort, geradewegs hin zu den Alarmglocken der Öffentlichkeit. Seinen „Enthüllungen“ im „Zeit“-Dossier ließ er inzwischen ein ganzes Buch nachfolgen mit dem Titel Außen Marmor, innen Gips - Die Legenden des Stephan Hermlin.

Was lange währt, wird endlich gut, mag sich der bienenfleißige Akten-Wender gesagt haben. Und: Was Monde lang klammheimlich und stocknüchtern im zwielichtigen Dunkel der Archive kompiliert ward, gehörte - angetrieben vom besinnungslosen „Enthüllungs“-Rausch - endlich ins gleißende Medienlicht! Corino lieferte der Öffentlichkeit wieder ihren handfesten „Skandal“ und bescherte dem deutschen Literaturstreit einen „neuen Gegenstand“. Besonders brisant: Hermlin hatte in einem Fragebogen von 1946 einen Aufenthalt im KZ Sachsenhausen angegeben und - nach Corinos Veröffentlichung - dem „Spiegel“ gegenüber eingestanden, „hier gelogen zu haben“. Der Autor erklärte sich näher und machte Gründe geltend.

Neben Wut und Empörung über die „öffentliche Hinrichtung“ Hermlins stellten sich auch angezielte Irritationen und Verunsicherungen ein. Das Bemerkenswerteste und Erfreulichste indes: In unserem Literaturstreit verschoben sich in auffälliger Weise die Gewichte und Gewichtungen. „Der Frankfurter Schnüffler“, wie Hermlin den Literatur-Detektiv Corino keineswegs unzutreffend würdigte, hatte - mit medienstrategischem Kalkül - einen solchen Steinbrocken ins Wasser geworfen, daß die erzeugten Kreise zu wilden Wellen aufschäumten. Die wohltuende „Überraschung“: Im Unterschied zu den vorher behandelten „Fällen“ gab sich - von Ausnahmen abgesehen - das Feuilleton nicht dazu her, den Multiplikator für die Dichterhatz zu spielen. Im Gegenteil. Um im Bild zu bleiben: Das deutsche Feuilleton spielte ganz wesentlich den Part des „Wellenbrechers“ gegen das von Corino so kräftig aufgewühlte Brackwasser.

Davon ist festzuhalten: So unleugbar die Beziehung zwischen Leben und Werk eines Autors, so selbstentlarvend blamabel für den „Literaturfachmann“ Corino, wenn er die haarkleine Rückübersetzung von Dichtung in Realität als germanistische Wissenschafts-Revolution ausgibt. Wer hätte gedacht, daß der „Sozialistische Realismus“ - und noch dazu in seiner vulgärsten Version - so schnell wieder zu Ehren kommt und seinen glühendsten Verfechter ausgerechnet im Westen Deutschlands findet? Keine Frage: Die falsche Angabe im Fragebogen der amerikanischen Militärregierung im Jahre 1946 ist keine Quantitè nègligeable. Meine Frage: Darf der heutige Blick in die Akten von gestern ein so gravierendes Problem wie das der Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit historischer und politischer Erfahrungen einfach außen vor lassen? Wer heute von Lebensumständen absieht, die sich an Hermlins dramatische Überlebensumstände anschlossen, sieht verdammt cool davon ab, daß es nach diesem verfluchten Krieg immer noch ums Überleben ging. „Ein schier unendliches Täuschungs-, Fälschungs- und Lügenfeld tut sich auf, sowie alle Fragebögen nach 45 überprüft würden. Wer hat da alles aus welchen Gründen ‚gelogen‘ - in diesem Land der stets nachträglichen Widerständler.“ So der mahnende Verweis auf die historischen und politischen Lebensumstände der damaligen Zeit von Friedrich Schorlemmer, aus seinem Leserbrief zur fraglichen Angelegenheit, veröffentlicht in der „Zeit“ vom 25. Oktober 1996. Und weil Hermlin für Schorlemmer gerade keiner dieser stets nachträglichen deutschen Widerständler ist, vertrete ich hier die ungeheuerliche Ketzer-Auffassung vom Zweierlei-Maß-Anlegen: Denn das gravierende Problem der Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit historischer und politischer Erfahrungen ist nicht in erster Linie eines der unterschiedlichen Generationen, sondern eines von Opfer und Täter. So bewundernswert die buchhalterische Leistung Corinos bei der Nachforschung einer Vita en detail auch ausgefallen ist: Hermlins Lebensleistung ist nicht herunter deklinierbar auf „das Format einer Karteikarte“. Auch und gerade weil wir in einer Zeit der Vergötzung und Fetischisierung wie auch der Dämonisierung von Archiv- und Aktenfunden leben: Verstand und Erfahrung lehren uns immer wieder aufs neue, daß Fiktionen der Wahrheit durchaus näher sein können als aparte, verstreute Fakten. „Alle Indizien und Zeugenaussagen“ sprechen laut Corino gegen den beschuldigten Autor! Was für eine ungeheuerliche Anmaßung von einem Manne, der nachweislich Fakten und Dokumente ignorierte, die nicht sein „Enthüllungs“-Konzept bedienten. Beispielsweise - Lothar Baier führte im „Freitag“ vom 25. Oktober 1996 den überzeugenden Nachweis - Aussagen und Zeugnisse des 1933 ins französische Exil geflüchteten jüdischen Berliners Ernest Jouhy. Dieser hat über die Begegnung mit seinem damaligen Schicksalsgenossen Hermlin in Frankreich Zeugnisse hinterlassen, die ausgerechnet in Frankfurt am Main besonders leicht zugänglich sind. Hinzu kommt Jouhys Buch „Nicht auf Tafeln lesen ...“, mit Belegen von „Razzien zur Deportation der jüdischen Bevölkerung ab November 1942“ eben dort, wo sich auch Hermlin aufhielt. Dokumente - mit Corino zu sprechen: „Indizien und Zeugenaussagen“ -, die Hermlins höchste Gefährdung - die unmittelbare Bedrohung seines Lebens in Frankreich - bezeugen und die unverschämten Idyllisierungen des Hermlinschen Exils durch Herrn Corino auf beschämende Weise konterkarieren. Die Literaturhistorikerin Silvia Schlenstedt ruft im „Neuen Deutschland“ vom 8. Oktober 1996 die folgenden Fakten in Erinnerung: „Oktober 1940: Entzug der bürgerlichen Rechte für jüdische Flüchtlinge auch in der nichtbesetzten Zone Frankreichs (wo Hermlin sich aufhielt); ab Juni 1941: dort Maßnahmen für die Zählung der Juden; Februar 1942: im unbesetzten Frankreich sind 40 000 Juden in Konzentrationslagern, und in der deutschen Botschaft in Paris beschließt man, ‚den Militärbefehlshaber in Frankeich zu veranlassen, mit sofortiger Wirkung dem SD Vollmachten zur Inhaftierung aller Juden zu geben‘. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 stellt eine Liste auf für die ‚Endlösung der europäischen Judenfrage‘: 11 Millionen Juden, für ‚Frankreich, besetztes Gebiet: 165 000, Frankreich, unbesetztes Gebiet: 700 000‘. 1942 beginnen die Deportationen in die Vernichtungslager im Osten.“

Der Skandal ist nicht, daß Corino seine Daten zum lärmenden Skandal „aufpeppte“. Das Skandalöse ist, was sich mit und hinter dem Rauchvorhang des lärmenden Donners öffentlich einschlich und dann - in schönster Selbstverständlichkeit - als neue deutsche Normalität daherkam. Völlig normal: Der Deutsche Corino mahnt den Juden Hermlin ganz entschieden und öffentlich ab ob seines biographischen und künstlerischen Umgangs mit seinem Judentum und dem seiner Familie. So nachweislich wie widerwärtig: „Corinos Spekulation auf die antikommunistischen und antisemitischen Reflexe der Leser“ in Deutschland (B. K. Tragelehn). Unausweichlich meine Frage: Soll nun - demonstriert am exemplarischen Beispiel Hermlin - das Erbe des authentischen Antifaschismus der DDR endültig für das vereinigte Deutschland „ausgeschlagen“ werden? Antifaschistischer Widerstand und gegenwärtiges Deutschland scheinen - nach Ansicht Jens Jessens von der „Berliner Zeitung“ - der Quadratur des Kreises zu entsprechen: „Die Deutschen wollen, wie schon die Debatte um den 20. Juli gezeigt hat, einen Widerstand gehabt haben, der ihre Ehre rettet, und sie wollen ihn auch nicht, weil er die Mehrheit als Blockwartenkel um so deutlicher erkennen läßt. Darum der Wunsch, die Denkmäler zu stürzen; und dies ist auch die Wahrheit hinter den Fakten, auf die sich Hermlin ... zu Recht beruft.“

Henryk M. Broder, lange schon vergeblich nach der Krone des „Querdenkers der Nation“ greifend, hat jüngst immerhin wieder etwas für seinen Ruf als Quertreiber und Querschreiber getan. Er war es, der für den „Spiegel“ die Summe zog aus dem „Fall: Corino/Hermlin“. Der Gegenwind, der Corino aus dem Feuilleton entgegen wehte, behagte ihm so ganz und gar nicht und fand also seine entschiedene Mißbilligung. Seine größte Sorge: Aus dem „Fall Hermlin“ könnte schließlich ein „Fall Corino“ werden. Dies zu verhindern, gab er sein Bestes. Das Allerbeste aber doch seine Antwort auf die Frage aller Fragen: „Worum geht es überhaupt?“ Broder: „Um die Demontage eines Denkmals? Mitnichten ... Es geht um ein Stück DDR-‚Kultur‘ oder ‚Identität‘, an das sich viele Ex-DDR-Bürger gewöhnt haben und das auch im Westen der Republik seine Anhänger hat. Es geht darum, daß im realexistierenden Sozialismus eigentlich nichts real war.“

Abschließend zwei weitere Antworten auf dieselbe Frage. Der Präsident des Deutschen PEN-Zentrums (Ost), Dieter Schlenstedt, stellt den „Fall“ in den Kontext des deutschen Kulturkampfes, „in dem es um die Definitionsmacht geht, alles aus diesem Kampf und alles aus der DDR stammende zu delegitimieren“.

Hermlin selbst antwortet in seinem „Schlußwort“ zur fraglichen Sache so: „Nur scheinbar leben wir in einer Zeit der Diskussionen: in Wahrheit handelt es um eine Epoche peremptorischer Behauptungen: ein Vorwand bin ich, mein Name, in Wahrheit geht es um die Legende einer Legende, es geht um einen sagenhaften, erfundenen antifaschistischen Widerstand, der den Deutschen im Jahre 1996 wie eine Gräte im Hals steckt ... Das Unglück des Frankfurter Schnüfflers besteht darin, daß mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg trotz aller Akten nicht das geringste Bild von der Realität des deutschen Widerstands vor seinen Augen entsteht.“

Wie es neudeutsch so schön heißt: Alle drei Antworten möchte ich so stehenlassen. Doch ich möchte dieses Kapitel nicht abschließen, ohne Corino auch einmal uneingeschränkt zu Ehren kommen zu lassen. So nehme ich seinen unerlaubt hohen Anteil an Spekulation im Umgang mit Geschichte - ausnahmsweise - als ein erlaubtes Vorbild. Corino versucht, Hermlins Leben zu einer Legende umzuformulieren - just zu einem Zeitpunkt, da sich die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR zum 20. Male jährt. Kaum einer weiß so genau, wie Corino als ausgewiesener Spezialist für DDR-Literatur: Damit jährte sich zugleich der außergewöhnliche und folgenschwere Protest von DDR-Schriftstellern gegen diesen von wenig Souveränität zeugenden „Staatsakt“ der DDR. Und Corino weiß: Hermlins Anteil an diesem Protest war ein Löwenanteil. Nun meine hemmungslose Spekulation: Nur weil noch zu viele Indizien existieren und noch so viele Zeugen leben, versagt es sich Corino - vorerst - auch diese Wahrheit als eine „Hermlin-Legende“ zu verkaufen. Dennoch, ein Anfang ist gemacht: Das Protest-Motiv soll nichts als schnöde Autoren-Eitelkeit gewesen sein.


Menetekel einer Kulturwende

Der Literaturstreit in Deutschland verbirgt und offenbart vielerlei. Zunächst: Das Fahnenwort „Literaturstreit“ ist ein Euphemismus. Er suggeriert das Normalste im geistigen Leben einer Demokratie: den selbstverständlichen Streit der Meinungen. Die beiden von mir hier zugrunde gelegten Dokumenten-Bände „Es geht nicht um Christa Wolf/Der Literaturstreit im vereinten Deutschland“ und Der Fall Fonty sowie die bisherigen Pressereaktionen auf Corinos Enthüllungen über Hermlin erhellen zweifelsfrei: „Literaturstreit“ ist das völlig falsche Wort zur Bezeichnung dessen, worum es tatsächlich ging - eine Intellektuellenjagd im neuen Deutschland nach 1990. Von dankenswerter Klarheit ist vor diesem Hintergrund der strategische Schlüsselsatz Ulrich Greiners: „Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt, was sein wird.“ Übersetzt in unsere Medienwelt heißt dies: Es geht in der Tat um die Definitionsmacht im gegenwärtigen geistig-kulturellen Leben Deutschlands. Nebenbei bemerkt: Der Begriff vom Literaturstreit verniedlicht außerdem das Vokabular, das in diesem Kulturstreit gang und gäbe ist: eine Sprache, die man besser dort lassen sollte, von wo sie entlehnt wurde - bei der Kriegsberichterstattung.

Die wirklichen Vorgänge, die unter dem „Literaturstreit“ firmieren, signalisieren eine Kulturwende in Deutschland. Was ich bisher notierte, sind einige Symptome. Kein Zweifel. Das Feuilleton in Deutschland steht alles in allem in auffrischender Geistesblüte: der nimmermüden Bildungsvermittlung und feinen Geschmacksprägung. Sein Nutzer, ob als treuer oder sporadischer, kann aus ihm unermeßlichen und nicht meßbaren Nutzen ziehen. Und ich vergesse nicht: Der gedankliche Anregungsreichtum des meinungsvielfältigen bürgerlichen Feuilletons ist zugleich schmerzliche und mahnende Erinnerung an die verheerenden Einschränkungen und fatalen Bevormundungen, mit denen ein bürokratischer realsozialistischer Apparat den eigenen emanzipatorischen Geist des Sozialismus knebelte. Indes: Meine bescheidene Diagnose des „Literaturstreits in Deutschland“ läßt bedenkliche Krankheitserreger im kulturellen Organismus „Feuilleton“ nicht länger übersehen. Das anspruchsvolle Feuilleton ist von einer lebensgefährlichen Immunschwäche befallen: Seine geistigen Abwehrkräfte erlahmen mehr und mehr und laufen schließlich Gefahr, den grassierenden Viren der Verführung zur Sensationshascherei - einer Skandalisierung literarischer Gegenstände und Personen - zu erliegen. Bereits der „Fall“ Christa Wolf beweist diese Anfälligkeit des gehobenen Feuilletons für „Rezepte“ der Boulvardpresse: Von der kulturellen Aufkündigung jedweder Achtung vor der „behandelten“ Person über deren vorschnelle Stigmatisierung bis zur schlampigen Recherche. Schon 1990 gab es keine Zweifel: Hier waren hartgesottene Kritikerprofis am Werk, die Christa Wolf - aus eiskaltem Kalkül - zum Sündenbock erkoren und ihr tiefe seelische Wunden schlugen. Und dem sensiblen Beobachter konnte nicht entgehen, daß die feinen Herren aus den wohlbehüteten Redaktionsstuben ihre professionelle Kaltschnäuzigkeit mehr schlecht als recht hinter der gutbürgerlichen Fassade des vorgeblichen Biedermanns zu verbergen suchten. Aber wer hören wollte, vernahm höchst lebhaft, wie die dissonanten Töne der moralischen Anklagen einer wohlbekannten Melodie gehorchten: H a l t e t  d e n   D i e b !

Die Moral als Waffe erwies sich für manchen Ankläger von damals als „Rohrkrepierer“. Stellvertretend sei nur erinnert, auf welch morschen Krücken die unverschämte moralische Ehrabschneidung daherhinkte, die Marcel Reich-Ranicki gegen Christa Wolf in Umlauf gebracht hatte. MRR, der wichtigste Stichwortgeber im Vorfeld der Kampagne, bewegte sich auf sehr dünnem Eis. Die Autorin habe politisch-moralisch versagt, weil sie ihre Unterschrift unter die Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR zurückgezogen habe. Damit habe sie ihre intellektuelle Glaubwürdigkeit als deutsche Schriftstellerin und als Leitfigur für Anstand, Würde und Aufrichtigkeit in der DDR verspielt. So die haltlose, weil ungeprüfte Behauptung eines Mannes, der sich in Deutschland der offiziösen Wertschätzung als „Literaturpapst“ erfreut. So allerdings niemals die tatsächliche Handlungsweise der beschuldigten Autorin. Zur peinlichen Erinnerung hier der Klartext. Der „Großkritiker“ hatte das unschuldige weiße Papier der FAZ mit diesem Satz geschwärzt: „Als die SED es 1976 für erforderlich hielt, den Sänger und Poeten Wolf Biermann auszubürgern, hat Christa Wolf einen unter damaligen Verhältnissen in der DDR ganz ungewöhnlichen Protest zahlreicher Schriftsteller und Künstler sehr wohl unterzeichnet - und ihre Unterschrift rasch und in aller Form wieder zurückgezogen.“ Kein Zweifel also: Ohne Beweis für diese Behauptung hatte sich der Kritiker selbst „in aller Form“ schuldig gemacht. Die Wahrheit indes ist so böse wie banal: Ein konspiratives Kartell von MfS und anderen Sicherheitsfanatikern der DDR hatte die Legende gestrickt und als Desinformation gezielt gestreut. Mit welch durchschlagendem Erfolg - davon könnte uns heute der „Großkritiker“ höchst selbst ein Liedlein summen. Weit wichtiger jedoch - wenn jemand den heimtückischen Machenschaften einer paranoid-machtbesessenen Clique, welcher gegen kritische Geister alle Mittel recht waren, „zum Opfer fiel“, so kann das für unseren Fall doch nur bedeuten: Entweder öffentliche Entschuldigung in aller Form oder - ein vermeintliches Problem der Christa Wolf wird zu einem tatsächlichen des Kritikers selbst. Mehr noch: Die ganze damalige Kritikerverschwörung hat das Problem „am Hals“. Ihre großangelegte „moralische Zerstörung“ der DDR-Autorin war - objektiv - auf eine perfide Lüge gegründet. Als prickelnde Offenbarung - so peinlich wie längst überfällig! Es sei denn, man hielte sich in diesen Kreisen am Ende auf „diese Schützenhilfe aus der DDR“ noch etwas zugute. Dies ist übrigens kein so abenteuerlicher oder gar abwegiger Gedanke. Zeigen uns clevere Wessis doch täglich - frei von lästigen Bedenken - die hohe Kunst, wie man sich in der neudeutschen West-Ost-Auseinandersetzung immer aufs neue der schmutzigen Waffenkammer eines nicht mehr existenten Geheimdienstes bedienen kann, ohne sich dabei die Hände zu beschmutzen, geschweige denn, Schaden an seiner Seele zu nehmen.

Meine kritische Brechung des Literaturstreits in Deutschland sollte nicht als bloße Kehrseite eines kulturpessimistischen Wehklagens mißverstanden werden. Ich orte lediglich die Bewegung einiger Subjekte in einer objektiven Bewegung. Mit anderen Worten: Mein Blick ist darauf gerichtet, wie einige kulturelle Repräsentanten ihren neuen Platz suchen im objektiv veränderten Koordinatensystem zeitgenössischer Kultur. Ich erhebe hier nicht den moralischen Zeigefinger gegenüber denen, die Moral nur allzu durchsichtig und heuchlerisch instrumentalisieren. Wir leben längst in einer Zeit, wo alle Ressourcen knapper werden. Für die Medien ist es vor allem die Ressource „Aufmerksamkeit“, die immer kostbarer wird. Auch das hehre Feuilleton kann sich nicht länger den Luxus der naserümpfenden Abgehobenheit vom niederen „Quoten-Kampf“ leisten. Allerdings: Ich skizziere hier Trends, keine abgeschlossenen Entwicklungen. Die Kulturwende ist ein höchst widersprüchlicher Vorgang. Bewußt verfahre ich nach der Methode: Übertreibung und Zuspitzung machen anschaulich. Natürlich ignoriere ich nicht, daß z. B. „Die Zeit“ (wie auch andere Blätter) immer auch die andere Meinung zu Wort kommen lassen. Mitnichten geht es mir also um eine pauschale Kritiker- oder Medienschelte. Wer auf Differenzierung aus ist, muß versuchen überall fündig zu werden. Und deshalb stimmen mich alle Korrekturen und Widerlegungen meiner Befunde - wie die mehrheitliche Feuilleton-Reaktion auf den „Hermlin-Fall“ - zuversichtlich. Ich könnte viele Namen von Kritikern nennen, die das ehrenwerte Credo des guten alten Feuilletons unverdrossen hochhalten. Indes: Ich bin meinem Gegenstand verpflichtet, und folglich gilt meine besondere Aufmerksamkeit hier der „anderen Fraktion“ und den fragwürdigen Anzeichen signifikanter Veränderungen. Da ist nicht nur die erwähnte Gefährdung durch den Boulevardjournalismus. Der geistige Anspruch, den man lange mit dem Kulturteil einer seriösen Zeitung verband - mit dem Feuilleton eben -, wird nicht selten einem Liebäugeln mit diversen Formen des modernen Entertainments geopfert. Es obsiegt dann das Feuilletonistische im Sinne des „oberflächlichen Plaudertons“. Zu dem Behufe wechseln „Großkritiker“ bisweilen auch das Medium: Am meisten Furore hat wohl „Das literarische Quartett“ gemacht. Nichts gegen geistiges Amüsement. Aber wenn Literaturkritiker immer häufiger gegenüber literarischen Werken symbolmächtig entweder den Daumen nach oben oder nach unten spreizen, dann reduziert sich Kritik zu einer zwar temperamentvollen und unterhaltsamen, aber doch eher fragwürdigen Verkündung von „Tops und Flops“. Literaturkritik findet sich dann nur noch als Schwungmasse im großen kommerziellen Bestseller-Getriebe wieder. Der „Stern“ betätigte sich im Heft 22/96 als pointierter Spielverderber. Er leuchtete hinter die Kulissen dieses Bücher-Tribunals, demaskierte in einer gnadenlosen Bild-Serie dessen Hauptakteure und sagte diesen kein anderes Interesse an der Sendung nach als die eitle Selbstinszenierung. In einem Punkt jedoch versagte man der Kult-Show nicht seinen neidgestützten Respekt: Das literarische Quartett - als einflußreichste Literatursendung im Fernsehen - sei vor allem ein „fetter Wirtschaftsfaktor“. Und so fiel die „Stern“-Bewunderung für das geistige Niveau der erlauchten Kritiker-Runde schon wieder entschieden bescheidener aus: „Wer Sendungen wortgetreu abschreibt, stößt auf weite Strecken sinnfreien Gelabers, gegen das ‚Schreinemakers‘ wie eine semantische Wohltat wirkt.“ Keine Frage: Hier stichelt witzig gekonnt ein Konkurrent auf dem weiten Felde der Unterhaltung in Deutschland. Vielleicht ist ja wirklich kein Kraut mehr gewachsen gegen das sich immer stärker ausbreitende herrlich süße Leiden, wonach „wir uns zu Tode amüsieren“. Auch wenn ernsthafte Literatur- und Kunstdebatten im Massenmedium Fernsehen als sichere „Quoten-Killer“ gelten, scheint mir ein so weit gehender Verzicht auf das differenzierte Urteil, wie im „Literarischen Quartett“, keine Antwort auf ein Dilemma. Symptomatisch für die Kulturwende ist jedenfalls auch die immer häufigere Preisgabe eigener geistiger Grundlagen der Profession „Literaturkritik“: die auffällige Verabschiedung von Traditionen der europäischen Aufklärung. Fataler als die Früchte kommerzieller Korruption von Kritik scheinen mir daher die Folgen, die sich aus ihrer politischen und ideologischen Willfährigkeit ergeben. Der Schriftsteller Peter Rühmkorf sah mit der „öffentlichen Hinrichtung“ von Grass im „Literarischen Quartett“ einen Graben aufgerissen zwischen der schönen Literatur und ihrer zur ideologischen Lehrmeisterin verklärten Kritik. Zutiefst besorgt schrieb er in einem Brief an Marcel Reich-Ranicki: „Nein, das war kein sogenannter Verriß mehr ... das war das autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches und der in ihm vertretenen Meinungen ...“ Für Rühmkorf war das „absolute Nonplusgehtnichtmehr“ bei MRR erreicht, als dieser den Nazigegner und Radikaldemokraten Grass auch noch in die Nähe von Goebbels rückte. Ja, auch das kennzeichnet die Kulturwende als einen Kulturverfall: Der Schriftsteller wartet noch heute auf die Antwort vom „Großkritiker“.

Am anschaulichsten scheinen mir die Tendenzen der Kulturwende bisher im Begriff der „Echogesellschaft“ gebündelt. Er bringt genau die absurde Situation auf den Punkt, auf die wir in der Mediengesellschaft unaufhaltsam(?) zusteuern: die Verkehrung des Sekundären zum Primären. Nicht zuletzt lehrt uns dies unser Literaturstreit. Natürlich setzt auch dieser Streit immer noch die Literatur als das Primäre voraus. Doch wir wissen längst, daß weit mehr Bücher gekauft und gesammelt als gelesen werden. Und in einer Mediengesellschaft, die immer mehr Bestandteil einer Dienstleistungsgesellschaft wird, greifen immer mehr Menschen auf deren Dienste zurück. Um fit zu sein für die kulturelle Kommunikation, schlicht: um geistig up to date zu sein, begnügen sich immer mehr Menschen mit einem medienvermittelten Urteil über ein Buch, statt sich einer zeitaufwendigen Lektüre von vielen hundert Seiten zu unterziehen. Der Trend ist unleugbar: Immer häufiger sind es nur noch die „Echos“ von etwas, die bei uns ankommen: das Sekundäre! Und es braucht nicht lange, daß Rezipienten in der Mediengesellschaft das Echo für das Primäre nehmen. Natürlich gibt es auch hier gegenläufiges: den geistigen Ansporn, den Wert des Echos an seinem primären Auslöser zu prüfen.

Seit Noam Chomskys Analysen der Massenmedien - dessen Werke als die meistzitierten der modernen Geisteswissenschaften gelten - läßt sich immer weniger bestreiten, daß sich die Medien in der modernen Demokratie als „vierte Macht“ etabliert haben. Nur diesem Umstand verdanken wir ja auch die auffällige Vermehrung der Spezies „Großkritiker“. Größe korrespondiert und korreliert längst mit Größe der Macht des Mediums: mit seiner öffentlichen Reichweite und kulturellen Wirkungskraft! Vor diesem Hintergrund gewinnt man freilich ein „neues“, ein weiterreichendes Verständnis für das, was als „Literaturstreit in Deutschland“ firmiert. Ich konnte und wollte hier nur einige grundsätzliche Fragen anregen. „Über die literarische Öffentlichkeit in Deutschland und den Verfall ihrer kritischen Substanz“ ist bei Oskar Negt höchst Aufschlußreiches und Wichtiges nachzulesen. Kernfrage des Literaturstreits bleibt die Frage nach der zeitgenössischen, besser der zeitgemäßen Rolle der Intellektuellen, insonderheit der Schriftsteller. Der strittigste Punkt: ihr Engagement, ihre Gesinnung. Schon Nietzsche meinte einen Feind der Wahrheit zu kennen, der größer sei als die Lüge: die Überzeugung. Das bitterböse Bonmot, für Zeitgeist und Postmoderne wie geschaffen, gibt nicht nur dem Abschied von jeglichem Engagement den „letzten Kick“. Dem heute noch oder wieder Engagierten ist dieser Aphorismus ein bitternotwendiger Stachel, um hellwach zu bleiben gegenüber Gefahren und Gefährdungen: von der modernen Usurpation der Werte und Ideale über den Austausch des Gewissens durch das flotte „cui bono“ bis hin zu den unaufhörlich sprudelnden Quellen des Mißbrauchs aufrichtigen Engagements. Auch im zutiefst deprimierenden Wissen um das Scheitern einer großen sozialen Utopie und gerade eingedenk der Erfahrung, daß heute nichts fragwürdiger geworden ist als der Fortschritt, denke ich: Ohne daß Menschen, auch Schriftsteller, immer wieder für ihre - auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit gegründete - Überzeugung einstehen, ohne Engagement also, wird wohl die Sache der menschlichen Emanzipation auf unserem Planeten für immer verloren sein.


Genugtuung und Ermutigung

Da ich mir die Häme versagt habe, gestatte ich mir abschließend ein paar Sätze der Genugtuung. Die Wunden Christa Wolfs scheinen verheilt. Unter den Selbstheilungskräften vermutlich die stärkste: ihr neues Werk Medea. Ein Schlüsselroman? Zweifellos - und doch zugleich viel mehr. Dieses Buch hat die Literatur um eine außergewöhnliche poetische Erkundung reicher gemacht. Außerdem lese ich diese originelle Neufassung des alten Medea-Mythos als kühne Aufsprengung bisheriger patriarchalischer Fesseln und Vorurteile. Und ich genieße, wie sich ein angemaßtes Deutungsmonopol der dichtenden Männerwelt blamiert. Nicht zuletzt ist dieser Roman subtile Diagnose und aufhellende Anamnese unserer Zeitkrankheiten, genannt: moderne Zivilisations- und Gesellschaftskrisen. Krisen - sie stehen auch für große Verbrechen und gefährliche Bedrohungen. Die Autorin triumphiert schließlich auch über ihre Ankläger und Kritiker von damals. Mit frischgewonnenem Selbstbewußtsein läßt sie ihre Widersacher geistig und moralisch weit hinter sich. Sind die „Großkritiker“ einmal illusionslos erkannt als Agenten jener Krisen, an welchen sie sich wie unersättliche Parasiten laben, können sie am Ende nur noch so nackt wahrgenommen werden wie der weltliterarisch berühmte Kaiser.

Wie es heute um Günter Grass' Verletzungen steht, vermag ich nicht zu sagen. Was das Corpus delicti, seinen kritischen Deutschland-Roman, betrifft, haben zahlreiche politische Analysen und inzwischen publizierte wissenschaftliche Untersuchungen längst die unangenehmen Wahrheiten mehr als bestätigt, die sein kritischer Realismus zur bisherigen Gestaltung der deutschen Einheit - „literarisch gebrochen“! - unter die Leute brachte. Als Leser verhehle ich nicht mein ästhetisches Vergnügen darüber, wie Grass - als klassischer Romancier - der Gefahr möglicher „Erstarrung zum Klassiker“ im „Weiten Feld“ durch einen ebenso provozierenden wie herzerfrischenden „Alters-Avantgardismus“ einfallsreich unterläuft. Dem wagemutigen Akrobaten gleich, verzichtete Grass auch bei seinem jüngsten literarischen Drahtseilakt auf das ästhetisch sichere Netz: das fest geknüpfte aus den kräftigen und filigranen Fäden all seiner Werke vorher. Gelegentlich ihrer Verrisse des „Weiten Feldes“ erinnerten viele Kritiker lobpreisend des Dichters frühe Werke, meistens „Die Blechtrommel“. Auch ich denke: Diese Werke verdienen immer aufs neue Lektüre und Beifall. Kritiker freilich, die Grass mit seinem jüngsten Roman in der Sackgasse wähnen, täuschen sich allzu leicht über ihre eigene ästhetische Sackgasse - dann nämlich: wenn sie mit dem Lob seines Frühwerks dem Autor letztlich einen ästhetischen Stillstand anempfehlen, eine „Ästhetik des Immergleichen“ sozusagen. Außerdem gut zu wissen: Der geschmähte Autor erfuhr viel Solidarität, von Kollegen und wahren Freunden. In Gestalt von oft sehr persönlichen Briefen und Dokumenten enthalten diese Solidaritätsbeweise bestechende Urteile und scharfsinnige Einsichten in die „wahnwitzigen Vorgänge“ um seinen Roman. Sie tun gewiß nicht nur dem unerträglich Verunglimpften gut. All jene, die auch in rauher werdenden Zeiten die menschliche Würde hochhalten, erfahren dadurch geistige Kräftigung. Wer - dem Autor gleich - in der schicken postmodernen Preisgabe von Humanismus und Vernunft bedrohliche Vorboten für das Ende unserer Kultur der menschlichen Emanzipation erblickt, erfährt aus diesen Zeugnissen „ungebrochenen Aufklärertums“ lebenswichtige kulturelle Ermutigung. Dank Oskar Negt sind diese Dokumente nun öffentlich und allen zugänglich. Nutzen wir sie. Sie sind - out of mainstream - unentbehrlich und unverzichtbar. Damit aus den rauhen Zeiten keine „finsteren Zeiten“ werden.

Auch der Großversuch einer Hermlin-Demontage offenbart fatalsten Zeitgeist: „Geschichten“ sollen Geschichte zunächt „ausblenden“ und ersetzen und am Ende erledigen. Ermutigend indes: Das Gros im deutschen Feuilleton gab sich dazu nicht her. Es stellte sich nicht - wie fälschlich behauptet - vor ein Denkmal: Es stand ein für die lebendige Bewahrung von akkumulierten Geschichtserfahrungen in einer Persönlichkeit unseres Jahrhunderts: und für die ästhetische Vermittlung dieser geschichtlichen Erfahrungen. Auf der Gegenseite stand u. a. Fritz J. Raddatz mit seinem „Nachwort zum Fall“ in der „Zeit“ vom 18. Oktober 1996. Er hatte sich nicht nur befleißigt, Corinos Zerrbild „intellektuell zu veredeln“, sondern auch zu der ungeprüften Behauptung verstiegen, Hermlin hätte den Einmarsch des Warschauer Pakts in Prag begeistert begrüßt. Nach dem Motto: Von sozialistischen Intellektuellen in der DDR sei gar nichts anderes zu erwarten. Daß sich Hermlin in der Sache ganz anders verhielt und gegen diesen barbarischen Akt sogar protestierte, belegen authentische Dokumente völlig zweifelsfrei. Für seine blinde antikommunistische Voreingenommenheit mußte der „Großkritiker“ hier einen hohen Preis zahlen - die Unfähigkeit zur Wahrheit: „Raddatz kommt einfach nicht darüber hinweg, daß jemand eine radikale linke antistalinistische Haltung einnimmt.“ Für mein Stichwort „Genugtuung“ bin ich bei Hermlin noch weiter fündig geworden: „Ich schulde Herrn Raddatz und seinem Frankfurter Vorredner Dank - niemals hätte ich noch vor kurzer Zeit mit einer solchen Woge der Sympathie in der Presse und privaten Zuschriften und Anrufen gerechnet, die mich von Kollegen und Lesern erreichte. Herr Raddatz stellt in Versalien gedruckt die große Frage ‚Warum‘. Ja, warum wohl haben die bekannten und unbekannten Verfasser von Briefen und anderen Mitteilungen mit sicherem Gefühl die Urheber jenes Schmutzes erkannt, von dem Herr Raddatz spricht?“

Nur kurze Zeit nach Hermlins „Schlußwort“ berichteten die Medien von einer „Solidaritätserklärung für Karl Corino“. 21 Autoren sahen Corino - nach dem Motto „Der Bote ist schuld an der Botschaft“ - in Teilen der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt. Ein ebenso merkwürdiges wie bemerkenswertes Rückzugsgefecht. Der Mann, der sich so ungeheuer viel darauf zugute hielt, die Botschaft „auch verfaßt“ zu haben und dies in der gebotenen Unbescheidenheit dann auch die Medien wissen ließ, wird plötzlich auf den unbeteiligten und unschuldigen Boten zurückgestuft. - Ja, ich habe schon verstanden: Hermlins Biographie ist erst wahr und wahrhaftig mit all den von Corino jetzt aufgefundenen Lügen: das sei die Botschaft! Indes: Wer bei Abfassung der Botschaft nachweislich „opportun selektierte“, kann der außergewöhnlichen, schwierigen und widersprüchlichen Vita des Autors wahrlich nicht gerecht werden. Wenn die Botschaft so sehr die Handschrift des Boten trägt und gar zu dessen „Markenzeichen“ avancierte, bleiben beide, Bote und Botschaft, unzertrennlich. Weil der unschuldige Rechercheur aus Frankfurt nichts als die Wahrheit suchte, gebe ich zum „Corino-Fall“ im besonderen und zum deutschen Literaturstreit im allgemeinen den „Freibeutern“ vom Wagenbach-Verlag das vorletzte Wort: „Im übrigen ist viel von dem, was sich als Wahrheitssuche verkauft, nichts als die Raffinesse des wohlkalkulierten Coups : vorausgeplant, ausgerechnet und medienstrategisch durchorganisiert.“ Die Mär vom Boten hie und der Botschaft da bleibt freilich ungetrübt von solcher Raffinesse. Wer allerdings mit der blendenden Saga vom unbeteiligten Boten Corinos Anteil an der Botschaft ausblendet, verrät sein eigenes Raffinement: seine Beteiligung am raffinierten Blendwerk des „Frankfurter Wahrheitssuchers“.

Bleibt mir am Ende nur noch der heikle Versuch, auch meinen Text als eine Botschaft zusammenzufassen: Menschen brauchen Menschen - als Projektionsflächen: für ihre Schwächen.


Oskar Negt:
Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass
im Spiegel der Kritik
Steidl Verlag, Göttingen 1996, 495 S.

Thomas Anz (Hrsg.):
Es geht nicht um Christa Wolf/Der Literaturstreit
im vereinten Deutschland
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1995


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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