Eine Rezension von Irene Knoll

Schein oder Nichtschein

Andreas Schlüter: Die Zeitfalle
Altberliner Verlag, Berlin 1996, 234 S.

Andreas Schlüter: Level 4 - Die Stadt der Kinder
Altberliner Verlag Berlin 1995, 234 S.

„Achtung, Zeitfalle“ ist der dritte Roman Andreas Schlüters seit 1994. Ihnen ist ein Erstling Kurzgeschichten aus dem Jahre 1993 vorangegangen und ein Titel in der Reihe „Kurierdienst Rattenzahn“ des Verlags.

Ich bin gegenüber den Superlativen, mit denen Rezensenten oder wer sich dafür hält in den großen Zeitungen nahezu jedes neue Buch bedenken, mehr als mißtrauisch. Sie wollen selbst zitiert werden und sich beim Verlag einkratzen. Mit seriöser Kritik, die auf Textanalyse beruhen sollte, hat das nichts zu tun, vielmehr werden die Maßstäbe ruiniert, und der Leser wird nur allzu häufig durch ein mittelmäßiges oder gar kitschiges Elaborat irritiert. Und so waren mir auch die Pressestimmen, die der Altberliner für Schlüters „Level 4“ in sein Werbematerial aufgenommen hat, eher verdächtig. Aber da der Altberliner Verlag überhaupt mit einem ausgesucht guten und vielseitigen Vertragsprogramm seinem Anspruch, Bücher zu publizieren, die nicht nur für Kinder, sondern für jeden Leser gute und spannende Lektüre darstellen, gerecht wird, hab ich zwei von Schlüters Romanen gelesen. Und dann hab ich die Probe aufs Exempel gemacht und meinem Enkel, der zum Lesemuffel mutierte, seitdem ihn die leichter zugängliche Video- und Computerunterhaltung fesselt, „Level 4“ geschenkt. Und das Wunder ist geschehen - jetzt liest das Buch seine ganze Klasse.

Andreas Schlüter ist das Einfache, das schwer zu machen ist, gelungen: Er hat die Faszination, die im Spiel mit den Computermöglichkeiten liegt, ins Buch geholt. Ein Computerspiel - „Level 4 - Die Stadt der Kinder“ - wird für Ben, den Computerfreak, und seine Klassenkameraden, und mit ihnen für die Kinder der Stadt, zur erlebten Wirklichkeit. Das entwickelt sich alles ganz logisch und nur ein bißchen zauberisch, nur in dem Maße, wie Zauber schon im Computerspiel angelegt ist. Das ist der kleine Trick von Schlüter, der die Erwartungen seiner Leser aber nie enttäuscht, sondern die Handlung und die steigende Spannung der Handlung immer aus dem Zusammenhang mit der virtuellen Welt des Computerspiels herleitet. Es dürfte ein Hauptvergnügen für die Fans sein, wenn sie Bens Grübeleien darüber, welche Entscheidungen das Computerspiel in der jeweilig schwierigen Situation, in der die Kinder stecken, wohl fordern würde, folgen oder, dank eigener Computererfahrung, sogar vorauseilen können. Es dauert allerdings eine ganze Weile, bevor die Tatsache, daß alle Erwachsenen aus der Stadt verschwunden sind, als total unglaubliche Tatsache erkannt wird: Die Kinder befinden sich in einer Realität, die der des Spiels gleicht. Und die Aufgabe des Spiels lautet, die Funktionen der Stadt aufrecht zu erhalten. Sie müssen es schaffen, in „Level 4“ zu gelangen, damit das Spiel an den Anfang zurückgeht und die Erwachsenen wieder erscheinen. Es ist also eine zwiefache Bewährungssituation gegeben, und die Bewährungsproben müssen erst einmal erkannt werden, bevor sie gemeistert werden können. Aber das geht nun nicht Schritt für Schritt wie bei „Wilhelm Meister“ zu, sondern im spannenden Rivalitätskampf zweier Kindergruppen, der um Ben und seine Freunde und einer vandalisierenden um Kolja, der die Macht über die Kinder und die Stadt erzwingen will, indem er das Wasserwerk besetzt und der Stadt das Wasser absperrt. „Level 4“ ist im Grunde genommen ein äußerst didaktisches Buch, aber Erkenntnisse und Einsichten wie zum Beispiel die, daß die Erwachsenen doch allerlei für die Kinder leisten, und wachsende Verantwortung und Selbständigkeit sind das Ergebnis der Konfrontation mit den Gefahren ihrer Situation und der Auseinandersetzung miteinander. Die Kinder, auf sich gestellt, beweisen Umsicht und Schläue, auch Mut und Tapferkeit. Dabei geht es durchaus lustig zu, und nie wird der Horizont Dreizehnjähriger vom Autor überfordert, vielmehr sind manche Lösungen frappierend ulkig. Schlüter charakterisiert seine Helden mit markanten Eigenschaften, mit denen gewissermaßen ein Ensemble von schöpferischen Möglichkeiten und eine soziale Atmosphäre angelegt sind. Jeder in der Gruppe der Dreizehnjährigen, die sich natürlich aneinander reiben, findet auch Anerkennung und Toleranz. Der Autor tut ein Übriges, indem er jedem seine Chance gibt, sich in der Gruppe zu beweisen. Aus diesem Fundus schöpft er auch in seinen nächsten Büchern. Ben, Jennifer, Miriam, Frank, Thomas und Kolja sind die Helden weiterer spannender Geschichten, in denen Unmögliches möglich wird.

Eine Klassenfahrt führt sie nach Florenz. Sie wohnen der Hochzeit des ersten Medici mit Christine von Lothringen bei und finden sich, wider alle Wahrscheinlichkeit, im Jahre 1589. Ihre Existenz in einer virtuellen Wirklichkeit zu enträtseln und den Schlüssel zu finden, um sie wieder zu verlassen, bildet in „Achtung, Zeitfalle“ eine stärker intellektuelle Spannung als in „Level 4“. Die Kinder nehmen ein buntes Bild der Stadt Florenz in der Frührenaissance auf. Aber es ist nur ein Bild, ein Zustand, der die Handlung bedient. Dagegen ist kritisch kaum etwas einzuwenden, aber sicher wäre es, wenn nun schon Renaissance ins Spiel kommt, möglich und keineswegs öde gewesen, auch ein Interesse an den enormen ideengeschichtlichen Aufschwüngen der Zeit anzuregen. Ich glaube nicht, daß es junge Leser langweilt, wenn ihnen Geschichte nicht nur als Komplex von Architektur und Bildkunstwerken gezeigt wird. Ja, diese Auslassung widerspricht sogar dem Anliegen, das am Schluß alle bis dahin noch unerklärbaren Begegnungen in Florenz des Scheins erklärt: Die sind in den Kampf zwischen der Mafia und kulturbewußten Wissenschaftlern geraten, die den Verkauf des historischen Florenz durch die Mafia an reiche Sammler verhindern wollen.

Sowohl in „Level 4“ als auch in „Achtung, Zeitfalle“ engagiert sich Schlüter für die Bewahrung vorhandener Lebensräume für die nächste Generation. In „Level 4“ stoßen die Kinder auf Pläne des Bürgermeisters, der Bäume abholzen lassen und ihre Turnhalle für einen Parkplatz opfern will. Das Computerspiel zwingt sie zu einer Entscheidung, die sie nicht treffen wollen. Aus der „Stadt der Kinder“ nehmen sie den Entschluß mit, dagegen anzugehen. In „Zeitfalle“ erfahren sie erst nach ihrem Abenteuer, in welcher Gefahr sie wirklich waren, indem sie in ein Geheimprojekt der Mafia eingedrungen waren, das die historische Wirklichkeit als museales Projekt in eine Art Disneyland verfälschte.

Kinder auf solche Zusammenhänge aufmerksam zu machen und ihre Verantwortungs- und Aktionsbereitschaft für die Welt, die ihre Zukunft sein wird, zu schärfen und zu stärken ist nicht das geringste Anliegen Schlüters. Es wirkt in beiden Büchern zwar etwas appellatorisch als nachgereichter Sinn der spannenden Geschichten, aber vielleicht bildet es in seinem nächsten, „Jagd im Internet“, das im März erscheinen soll, schon den Handlungsimpuls für Ben, Miriam, Jennifer und Frank. Von Buchhändlern und aus dem Verlag verlautete, daß junge Leser schon auf das Buch warten. Das beweist, in welch hohem Maße Schlüter mit seinen Helden und seinen Computergeschichten ihrem Bedürfnis nach Identifikation und nach spannender Unterhaltung, die ihren Alltag tangiert, zu entsprechen vermag.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite