Eine Rezension von Ursula Reinhold

Von Kleinschachwitz in die Welt

Thomas Rosenlöcher: Die Dresdener Kunstausübung
Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1996, 92S.

Die Dresdener Kunstausübung ist die dritte Sammlung mit Gedichten, die Thomas Rosenlöcher nach Ich lag im Garten bei Kleinschachwitz (1983) und Schneebier (1988) vorlegt. Er erhielt im Dezember 1996 für sie den Strittmatter-Literaturpreis des Brandenburgischen Umweltministers. Auf einen neuen poetischen Ton hatte er uns schon mit seinem Dresdener Wendetagebuch Die verkauften Pflastersteine (1990) vorbereitet, indem er unerwartete Vorgänge in eigenwillige Bilder und Wörter brachte. Die neuen Gedichte zeigen, daß der Autor auch nach der Wende vor allem der poetische Landvermesser seines unmittelbaren Lebensumkreises, der Elblandschaft, des Kulturraums Dresden und seiner näheren Umgebung ist. Hier notiert er jetzt die rasanten Veränderungen einer im Umbruch befindlichen Lebenswelt. Er läßt in seinen Gedichten Bilder entstehen, notiert Eindrücke und Befindlichkeiten dieses Vorgangs. Im Beobachten und Beschreiben von noch Vorhandenem, von Landschaft und Lebenswelt will er drohendem Verlust entgehen. Er sucht idyllische Fleckchen, schafft Bilder, in denen die Sehnsucht nach der Idylle zugleich ironisch unterlaufen wird, weil sie so heil nicht ist. Von seinem Ort bricht er in die Welt des Neonlichts auf, um von dort ins Herkunftsgebiet zurückzukehren. Die Gedichte dieses Bandes setzen sich der dabei unvermeidlichen Spannung aus. Sie betrachten und registrieren die unmittelbare Umgebung, wobei Momente von stiller Andacht, Lebensdankbarkeit aufscheinen. In Versen über bedrohte Wiesen und Kirschbäume entstehen ergreifende Naturbilder. Den Hang zur Idylle verteidigen diese Gedichte als Menschenrecht. Zugleich sind diese Orte der Zugluft der unaufhaltsamen Zivilisation ausgesetzt. Im Bild der „Neonikone“, das als Motto gleichsam dem Band vorangestellt ist, hält er die Befindlichkeit zwischen solch gespannten Polen fest; damit gibt er zugleich ein treffendes Bild für die Entwertung des Menschlichen in der Verwertungsgesellschaft. Als Ergebnis der Spannung zwischen dem letzten, beinahe noch heilen Naturflecken und der Neonwelt des zivilisatorischen Zeitalters notiert er das „Minus“ als Lebensmaxime:

„Die Stunden, die sich rechnen müssen, von den Sekunden, die zählen, abziehn.“

Die Stimmung des lyrischen Ich schwankt zwischen Trauer und Sehnsucht, der Ton der Verse zwischen Melancholie und Sarkasmus. Anflüge zum Selbstmitleid werden ironisch gebrochen, der Autor ist sich deutscher elegisch-romantischer Literaturtradition bewußt und spielt mit ihr, um Abstand zu gewinnen. Das Ich sucht einen Ort in der Welt der neuen Widersprüche. Er sieht sich einerseits als „Ostbarbar“ auf der Flucht vor den neuen Segnungen, andererseits als „Stoßstangentier“ eingereiht in die neuen Gewohnheiten. Aus dieser Spannung heraus gibt er in „Auf eine Umfrage von Radio Veronika“ sarkastisch über Befindlichkeiten Auskunft:
Die deutsche Seele
Wo die deutsche Seele ist? Woher soll ich das wissen.
Am ehesten in Kleinschachwitz. / Am ehesten in mir.
Aber auch ich bin zur Zeit unterwegs.
Endlos kreisend sucht sie sich / selbst auf den Autobahnen.

Beim Betrachten des letzten Grundes, dem viele Verse des fünften Abschnitts gewidmet sind, mehren sich Melancholie und Todesgedanken. Aber auch sie werden wie aufkommendes Selbstmitleid ironisch gebrochen.
Dort in der Wälder Schatten. / In den Stämmen knistert der Tod.
Und über dunklen Fichtenzacken / kopfgroß ein Sternlein flüstert.
Vorgestern ging Alexander ins Nichts. / Gestern Rom. Eben der gewisse Wissarionowitsch.
Nur ich lauf noch immer umher.

In Die Dresdener Kunstausübung gewinnt einer aus dem Unzeitgemäßen den Impuls seiner Poesie. Er möchte seinen poetischen Standort in den Lüften beziehen, im letzten blühenden Kirschbaum in den Elbwiesen, bevor „Das Immobilistenballett“ der Betonierer auf der Bildfläche erscheint. Solche Sehnsucht und solche Furcht hält er mit seinen Versen fest.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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