Eine Rezension von Bernd Heimberger

Stillere Stimme

Andreas Reimann: Das Sonettarium 1975 bis 1995
Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1995, 75 S.

Ja, so muß ein Dichter beginnen: „Der Worte sind genug verwechselt“. So beginnt das Gedicht „Das Sonettarium“, das in den gleichnamigen Gedichtband einführt. Verfasser sämtlicher Verse ist Andreas Reimann. Hatten wir den nicht schon? Als der Dichter vor einem Jahrzehnt in kleiner Runde Gedichte las, schrieb ein Dichter das Gedicht „Der Tod des Dichters“. Wer also war Reimann? Er war das „Junge Talent“, das als Rimbaud der DDR gerühmt wurde. Er war der dichtende Knabe, dem der Landsmann von Celan und Wahl-Leipziger Georg Maurer jede Zeile aus den Händen riß. Er war von den Älteren, Kirsch bis Kirsten, auserkoren, Sprecher einer neuen literarischen Generation zu werden. Der Anspruch war angemeldet, als er, noch keine Dreißig, mit den Bänden Die Weisheit des Fleisches und Das ganze halbe Leben auftrat. Was wurde aus dem Anspruch? Was wurde aus Andreas Reimann? Ein Texter, der einem Stefan Krawczyk die besten Texte lieferte und auch der Uschi Brüning? Was wurde aus dem 1946 geborenen Dichter?

Reimann ist leibhaftig da. Mit „eigenem Platz, eigenem Tisch“ im Leipziger Café „Maitre“. Reimann ist Dichter, solange Reimann lebt. Unsinn wäre es, jetzt von einem Comeback des Dichters zu sprechen. Gedichtet hat Reimann auch in den beiden Jahrzehnten, in denen er keinen Gedichtband veröffentlichte. Ist nun die Stunde, den „alten“ Dichter zu entdecken? Ist Neues zu entdecken beim älter gewordenen Dichter? In der deutschen Literaturgeschichte muß mal nachgeschaut werden, wer sich eine solche Pause vom Publizieren leistete. Da es keine Pause des Poeten war, wird Das Sonettarium als Sammlung mit Gedichten von 1975 bis 1995 ausgegeben. Der Lyriker bleibt bei seinem Leisten. Reimann ist der Wort-Wechsler im Widerstand gegen das Verwechseln der Worte geblieben. Er ist der formbewußte Lyriker, der sich der Verlotterung der Inhalte durch verlotterte Formen widersetzt. Formbewußt und sprachbewußt, wie immer, ist er Sonettedichter. Nichts Neues also bei und von Reimann?

Ist seine Vergangenheit ohne Zukunft? War seine Vergangenheit seine Zukunft; Wäre das so, wäre die Auswahl-Ausgabe kaum mehr als eine Gefälligkeitsgabe für den Gedichteschreiber.

Der Dichter Andreas Reimann läßt seinen Dichterkreis von niemandem stören. Nicht den Stuhl, auf dem er sitzt. Nicht den Tisch, an dem er sitzt. Nicht den gut gefüllten Teller, vor dem er sitzt. „Ich aber habe eines sterns entdeckt: tomaten, schafskäse und basilikum!“

„Das leben ist, daß man's genießt. Gleich wie. Hier sind noch austern. Dort noch sellerie.“

Freß-Mentalität und -Metaphorik kennt, wer die früheren Gedichte des Lyrikers kennt. Das ist Andreas Reimann, wie er leibt und lebt. Die permanent popularisierte Eß-Kultur hat Kontinuität in der Dichtung des Leipzigers. Gern hätte er sich nackt an den Tisch des Lebens gesetzt, um glaubhaft zu machen, daß er nie friert. Aber auch Reimann ist ohne wärmende Hülle nicht ausgekommen. Er vielleicht weniger noch als andere. Darum mußte er uns damals die Defizite des Darbenden schmerzhaft ins Genick drücken. Aphorismus für Aphorismus. Bitter und gescheit. Ausdruck eines Bitteren und Gescheiten. Der sich nun als Geläuterter gibt; dem das Lebensleid und das Leiden am Leben nun weniger zusetzt?

Die in der vierten Abteilung der Ausgabe zusammengefaßten eindeutigeren Liebesgedichte lassen sofort spüren, daß der selbstzerfleischende Schmerz gewichen ist. Ein gelassener krititscher Gewinner artikuliert sich. Er kann sagen: „Wer weltkrank ist, geht, weil er sieht, zugrund“, und feststellen: „Ein jedes paar entzieht sich dem vergleich.“ Wer so spricht, hat die Selbstliebe zum Selbstschutz gemacht, hat die Last der Liebe angenommen, die durch die Lust der Liebe gut vergolten wird. Reimann weiß um die verläßliche Vergänglichkeit der Liebe.

Deshalb stürzen ihn die Zweifel der Liebe nicht mehr in Verzweiflung. Deshalb kann er deutlicher und direkter im Benennen und Bekennen sein. Deshalb sind Worte über den Freund, der auch Freundin ist, Worte eines Freundes, der auch Freundin sein will. Reimann muß das Private und Persönliche nicht mehr demonstrativ deklarieren. Das Private und Persönliche wird Öffentliches durch Veröffentlichungen. Nichts wird peinlich, weil alles poetisch ist. Der Dichter verkauft seine Haut, ohne sie zu Markte zu tragen. Andreas Reimann ist still geworden und am lautesten in der Stille seiner besten Liebesgedichte.

Ohne Liebe lebt Andreas Reimann nicht. Auch nicht ohne die lästige Liebe zum Land, das er von seinen Leipziger Kaffeehaus-Tischchen sieht. Die Wogen der Welt brechen sich nicht mehr so hart am Tisch, sagt Reimann distanziert. „Nur, wo man nicht ist, ist vaterland.“ So hält er doch an seiner konkreten, nahen Heimat fest, für die er sich den Blick nicht trüben läßt. Auch nicht, wenn er in „September '89“ sanft formuliert, „Verfall glänzt so, daß wir ihm nicht glauben“. Der Unglaube wird schnell durch gewonnene Gewißheit ersetzt. In den Gedichten „Neuzeit“ und „Im Jahre Neunzig“ heißt es: „Doch glück ist ohne trauer nicht zu haben:/ der traum ward wahr und somit auch begraben.“ „Und wieder liegt die zukunft hinter uns.“ Der Poet propagiert keinen Pessimismus. Er konstatiert, was die Wirklichkeit an Wahrheit bietet, und äußert sich als Kritiker, für den die Dichtung ihren Sinn in der Differenzierung der wahrgenommenen Wirklichkeit macht. Ohne um den Schlaf gebracht zu sein, denkt Reimann nicht nur über Deutschland nach. Er schaut über die Ränder der Region, wenn er im Gedicht „Europa“ notiert:

„Was denkbar ist, ist machbar - nur mit wem?“

Der immer wieder herausfordernd fragende Poet ist eher ein bellender, denn ein beißender Provokateur. Mit „Und immer wieder hoffnung ...“ sanktioniert er was ihn hält und zwingt, nicht tatenlos hinzunehmen, was ist. Die Tat des Andreas Reimann ist das Wort. Das wird nicht als Nabel der Welt begriffen. Wenn am Anfang für Andreas Reimann das Wort war, so muß das am Ende nicht so sein. Jetzt ist wieder eine Wortsammlung des Dichters aus Leipzig da, der mehr als ein Leipziger Dichter ist. Er ist ein deutschsprachiger Dichter, dem die Nationalität abhanden kam. Die Nation des Andreas Reimann, in der ist er zu Hause. Sicher, oft nur für sich, ganz allein, und so auch bleibend. Für alle Zeit? Auf Lebenszeit? Reimanns Lyrik ist leichter geworden. Zum Vorteil des Verstehens und der Verständigung, zum Nachteil für die Literatur. Lächeln ist um seine Mundwinkel und Augenzwinkern, wenn er im „Gedicht des Gedichts“ verkündet: „Bewirkungslose sind wir allesamt:/ ... gedichte gehen zunichte, ehe sie auf dem papier zu wort geworden sind.“ Genug ist geronnen für den Gedichtband Das Sonettarium, das Frank Ruddigkeit mit Zeichnungen begleitet, die von dem Graphiker Andreas Reimann hätten sein können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/97 (c) Edition Luisenstadt, 1997
www.berliner-lesezeichen.de

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